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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXXIV

Der dritte Januar war ein Sonntag. Die misshandelten Schlepper waren Mittelpunkt der Gespräche in der Kolonie.
Walter Smolka trug sein dickgehauenes Gesicht zur Schau und forderte jeden Kumpel auf, sich zur Rache bereitzuhalten. »Schad nichts«, sagte er, »ich hab meinen Teil weg; acht gegen drei und dann noch ein paar Bullen, Hunde, Knarren und wat noch, da mäkst einfach nichts gegen! Aber jetzt sind wir dran!«
Stefan Mihallek sah nicht besser aus. Seine Augen bewegten sich in zwei schwarzen Säcken, die ihm die Fäuste der Feuerwehrmänner gehauen hatten. Und die Lippen waren so aufgedunsen wie die Würste bei Kreibel. Stefan Mihallek brütete erst recht Rache.
Am Nachmittag um drei Uhr sollte eine öffentliche Kolonieversammlung stattfinden.
Um zwei Uhr war die Kolonie auf Geheiß von Böß durch Polizei besetzt.
Worbas kam und erzählte: »Auf der Zeche haben sie Maschinengewehre aufgestellt!« Das steigerte noch die Erregung. »Das ist ja wie im Krieg!« ereiferte sich die alte Ragnitzki, die sich wieder mehr auf der Straße aufhielt. In ihren Augen erschien ihre ehemalige Streitlust.
Der plötzliche Streik hatte sie alle wie ein Wirbelwind ergriffen und aus den Häusern gejagt.
Die Polizei raste mit ihren Wagen von Straße zu Straße. Die Frauen wichen nicht aus, sie mussten mit Gewalt in die Häuser gestoßen werden.
Die Schlepper fanden sich zusammen. Walter Smolka organisierte unermüdlich, stellte Gruppen zusammen und bestimmte den Führer. Er selbst und Stefan Mihallek übernahmen das Ganze.
»Nun aber Einigkeit, Kumpels!« sagte Walter Smolka, teilte die Wachen für die Nacht ein und ließ Steine und Flaschen in verschiedene Häuser hineinschaffen. »Dat sind unsere Handgranaten!« erklärte er den Kumpels.
Gegen Abend kam in der Franzstraße mit Hilfe der Jugend doch noch eine größere Versammlung zustande. Alle Kumpels waren damit einverstanden, am nächsten Mittag zur Zeche zu ziehen.
»Wir müssen trotz der Maschinengewehre hin«, drängte Worbas, als einzelne Kumpels Bedenken äußerten. »Die Streikverräter, die sich Böß gekauft hat, müssen heruntergeholt werden!«
»Dein Genosse Reger verübt auch Streikbruch!« rief ihm einer der Kumpels zu.
Worbas Gesicht glühte. »Es ist mein Genosse nicht mehr! Ich habe mit Streikbrechern nichts zu tun!«
Der Fiedler erkletterte einen Zaun und schaufelte mit den Händen in der Luft, um Ruhe zu bekommen, konnte sich aber nicht verständlich machen, denn die vorausgeschickten Schlepper kamen eilig zurück und meldeten: Polizei.
Scheck befahl allen, auf die Höhe zu gehen. Die Polizei kam mit dem Auto angesaust. Aus allen Fenstern erhob sich ein drohender Lärm. Der Wagen fuhr ein paarmal durch die Straßen und sauste zurück zur Zeche. Die Menge strömte wieder auf die Straße hinaus.
Bis spät in die Abendstunden hinein ging der Alarm von Haus zu Haus: »Morgen gehen wir alle zur Zeche hin!«
»Mutter, vor unserem Fenster stehen soviel Männer!« rief
Jaschinskis Mädel. »Sie standen erst auf der Straße bei Falzmann, dort hat sie die Polizei fortgetrieben!«
Frau Jaschinski ging ans Fenster. Sie hörte das laute, empörte Sprechen der Leute. Frauen standen bei den Männern. Sie zog die Gardine beiseite und machte das Fenster auf. »Ist was passiert?« fragte sie.
»Die ganze Kolonie ist voll Polizei«, erklärte ihr eine Nachbarin, »und auf der Zeche stehen Maschinengewehre!«
»Weshalb denn?« fragte Frau Jaschinski bestürzt.
»Sie wissen es noch nicht? Mein Gott, unsere Mannsleute streiken doch!«
Frau Jaschinski sah sie verständnislos an.
»Wat die für 'n Gesicht mäkt, die Blöde!« lachte die Nachbarin. »Weil die Kerle einen Dreck verdienen und sich nicht tot jagen lassen wollen!« erklärte sie.
Frau Jaschinskis Gesicht wurde düster. All ihr Jammer fiel ihr wieder ein.
»Wir ziehen morgen alle vor die Zeche!« erzählte die Nachbarin.
»Was wollt ihr dort?« fragte Frau Jaschinski. »Den Männern helfen!«
»Die Streikbrecher müssen herunter!« erklärte eine andere Frau.
Frau Jaschinski verstand nur halb. »Wollen Sie nicht mit?« fragte die Nachbarin. »Mein Mann ist ja nicht mehr dabei!« »Aber Ihnen geht's mit an den Kragen, wenn unsere Männer verlieren!«
»Noch mehr verlieren?« Frau Jaschinski sah auf ihre schmalgesichtigen Kinder.
»Ja, es geht uns noch nicht dreckig genug! Kommen Sie nur mit!«
Frau Jaschinski nickte. Es war immer noch was anderes, als allein und ratlos in der leeren Bude zu hocken. »Ich geh mit!« sagte sie.
Montag früh waren die Kumpels draußen und hatten die Streikbrecher vor den Häusern abgepasst. Sie überredeten welche. Die Störrigen wurden in die Häuser gejagt. Trotz der Frühe wimmelte es in den dunklen Straßen von Menschen, bis der Wagen der Polizei herangerast kam und Scheinwerfer aufblitzten. Die Polizei musste unter dem schadenfrohen Geschrei der Kumpels und der Frauen wieder umkehren. Betriebsführer Böß, der die Zeche in Gang halten wollte und einen größeren Schwung Streikbrecher angefordert hatte, hörte und sah den verzweifelten Widerstand der Kumpels und hatte zum Schutze der Arbeitswilligen, die Montag Mittag auf die Zeche gebracht werden sollten, mehr Hilfe verlangt. Er befürchtete, dass die Kumpels die Schachtanlage stürmen würden.
In der Kolonie und den benachbarten Straßenzügen war alles auf den Beinen. Am Vormittag hatte eine große Arbeitslosenversammlung stattgefunden, in der beschlossen wurde, den streikenden Kumpels im Streikpostenstehen zu helfen. Polizei kam und löste die Versammlung auf.
Von der Stadtseite her kam Stefan Mihallek mit noch ein paar Schleppern in hastigem Lauf heran. Schon von weitem schrien sie: »Los, alles nach der Zeche hin, die Streikbrecher kommen!« Sie rannten durch die Straßen und alarmierten alles.
Den Abhang nach der Kolonie erklommen, ausgeschwärmt wie ein riesiger Heuschreckenschwarm, die Kumpels, Frauen mit Kindern und die Arbeitslosen aus den Baracken. Von oben brauste ihnen der stürmische Jubel der Koloniebevölkerung entgegen. Auch die Kolonisten schwärmten wie auf Verabredung aus und rückten über die Felder auf die Schachtanlage zu. Die Polizisten liefen hastig zusammen, versuchten, sich dem Schwärm der drohend heranrückenden Menge entgegenzuwerfen. Es war ihnen unmöglich. Sie wurden eingekreist und mussten flüchten, um nicht erdrückt zu werden.
»Weiter! Weiter, nicht aufhalten lassen!« Die Anrückenden trieben sich gegenseitig an. Voran rannte die Krämer, sie schnaufte vor Aufregung und schrie ein paar zögernden Männern zu: »Vorwärts! Habt ihr Schiss? Jetzt heißt es nicht nur das Maul riskieren!«
Die Polizei lief zum Zechenplatz zurück. Die Menschen überschwemmten die Straße.
»Halt! Nicht weiter!« schrien die Wächter hinter dem Tor.
Die Menge häufte sich vor dem Zecheneingang. Den Streikbrechern, die von einem Polizeikommando begleitet wurden, war der Weg abgeschnitten. Als die Arbeiter ihrer ansichtig wurden, erhob sich ein Gebrüll, alles wandte sich um und zog den Streikbrechern entgegen. Die Polizei kam vom Platz hinterher gestürmt und versuchte, durch Schläge die Menge zu zerstreuen.
»Auseinandergehen!« schrie ein Leutnant.
»Was will der?« Die Frauen kehrten um, blieben wie fest gerammt stehen.
»Räumen!« kam ein Kommando.
Frau Krämer kreischte auf: »Die schießen!« Das verwirrte die anderen, und sie begannen zurückzudrängen. Die Polizei hatte die Pistolen frei gemacht.
»Warum rennt ihr denn zurück?« schrie eine Frau.
»Nicht zurückgehen! Stehenbleiben!«
»Räumen!« erklang der scharfe Befehl.
Die Menge rammte sich fest. Einige nervöse Polizisten erhoben ihre Pistolen.
»Was, schießen wollt ihr?« schrie die Krämer. Sie riss das vierjährige Kind, das sie bei sich führte, hoch und hielt es vor sich hin: »Los, schießt doch!«
»Los, knallt doch drauf!« Immer mehr Frauen rissen ihre Kinder empor, streckten sie, empört und zum Letzten entschlossen, den Polizisten entgegen. »Schießt doch drauf!«
Auch auf der Hauptstraße ging ein Sturm los. Die Streikbrecher, die in einer geschlossenen Abteilung angerückt waren, meist fremde Gesichter, wurden durch die wütenden Frauen verjagt. Einzelne versuchten, über die Mauern nach dem Zechenplatz zu entkommen, wurden heruntergerissen und verschwanden unter den Leibern von über sie her stürzenden Männern und Frauen. Die anderen Streikbrecher flüchteten, von der Menge verfolgt.
Bis zum Abend belagerten Tausende die Straßen, die zur Zeche führten.

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