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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XVII

Der Förderkorb brachte eine Totenlast nach der andern zutage. In der Totenbude hinterm Schacht flickte Heinrich Renteleit die Stücke der Zerrissenen zusammen, bandagierte sie. Träger trugen die Bündel in die Waschkaue, wo die Toten nebeneinandergebettet wurden. Viele Gesichter waren nicht mehr zu erkennen. Viele Leiber waren verkohlt. Heinrich Renteleit hatte Hilfe, er konnte das furchtbare Geschäft allein nicht bewältigen. Mühsam erforschte er einzelne. Sie waren alle schauderhaft verstümmelt und entstellt.
Balasz hatte von dem Unglück erfahren und eilte nach der Zeche.
Er schloss sich Dränger an, der Nachmittagsschicht hatte und wie er mit Rettungsarbeiten vertraut war. Es gelang ihm, in dem Wirrwarr, der überall herrschte, mit der ersten Bergungsmannschaft in die Grube zu kommen. Die Männer drangen bis zum fünften Revier vor. Unten am Bremsberg stießen sie auf die beiden Ragnitzkis, die von den Schwaden betäubt waren. Sie hielten sich noch immer fest umklammert.
Nun begann das schwierigere Werk: den Bremsberg hinaufzukommen und die von der Katastrophe betroffenen Strecken und Kohlenbetriebe zu erreichen. Ohne Sauerstoffapparate war das nicht möglich.
Balasz erbat sich von einem der Leute einen Apparat, und sie stiegen mit Steiger Lehrte und noch einigen den Bremsberg hinauf.
Nach einem mühseligen Hinüberkriechen über Brüche kamen sie in die erste Teilstrecke. Die Bauhölzer waren mit furchtbarer Wucht herausgerissen und lagen kreuz und quer. Mächtige Steinblöcke versperrten den Zugang zu dem Innern der Strecke, durch die man in die zwölfte Rutsche gelangen konnte. Erst musste der Weg freigelegt werden. Nach einer Stunde war es gelungen. Dränger stieß im Vorwärtstasten mit dem Fuß gegen einen weichen Klumpen. Es war ein kleiner Körper. Wer es war, konnte im Augenblick nicht festgestellt werden.
Weiter ging das Suchen.
Hundert Meter tiefer in der Strecke fanden sie wieder einen Toten. Der war verbrannt. Zwei der Rettungsmänner fassten an, um den Toten zum Bremsberg fortzutragen; ihre Hände vergruben sich in die breiige Fleischmasse, die sich von den Knochen löste. Nach ein paar Metern standen sie vor einem Bruch. Es war unmöglich hindurchzukommen.
Sie machten kehrt und krochen zurück bis zum Bremsberg; den hinauf, wobei sie immer wieder Steine aus dem Weg räumen mussten.
Stunden vergingen.
Die Apparate ermüdeten sie. Einige fürchteten, ersticken zu müssen, und kehrten um.
Balasz, Dränger und der Steiger blieben und drangen mit schweißdurchnässten Leibern und zerrissenen Händen über die Brüche höher. Kurz vor der zweiten Teilstrecke klebte zwischen Steinen und Holzstößen ein Körper. Der Steiger nahm ein Holz und riss ihn heraus. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Dränger erkannte den Kumpel nur an einer Handtätowierung; es war Willi Mihallek. Dreißig Meter höher fanden sie Martin Swoboda, den Schlepper der zweiten Teilstrecke. Swoboda fehlten das linke Bein und ein Teil der linken Hüfte, die durch einen fliegenden Stein samt dem Bein abgerissen worden war. Das Bein mit der Hüfte hing zwischen zusammengewirbelten Leitungsrohren. Die drei Männer waren zu Tode ermattet. Sie schleppten unter Aufwand der letzten Kräfte die Leichen der Kumpels den Bremsberg hinunter und betteten sie in der Förderstrecke.
»Alles tot!« sagte der Steiger niedergeschlagen.
Sie hatten die Apparate abgenommen und hockten in der Nähe eines Wetterüberbaues, um frische Luft zu atmen.
Nach einer Viertelstunde kam unter Leitung eines anderen Steigers eine Hilfsmannschaft an. Gemeinsam wurde der Bremsberg wieder erstiegen. Die Wühlarbeit mit dem Gestein begann von neuem. Meter um Meter musste unter Schweißströmen und Lebensgefahr erkämpft werden, denn je näher sie den Unglücksstätten kamen, umso wüster war dort die Verheerung. Nun fanden sie eine Leiche nach der andern. Die Leute der sechsten Rutsche fanden sie im Bereich der Gezähkisten zerfetzt und verbrannt. Das Holz war ebenso verkohlt. Tiefe Brüche gähnten über den Köpfen. Die Rettungsmannschaft konnte es in der Siedehitze nicht lange aushalten, musste umkehren, um nicht zu verbrennen oder zu ersticken. Einige Hölzer glommen noch von dem Brand. Dicke Rauchschwaden entströmten der rückliegenden Strecke, die wie eine Falle zusammengequetscht war.
»Zurück!« befahl der Steiger, denn einige der Leute begannen zu hüsteln. Einer knickte in die Knie und musste von den andern mitgeschleift werden.
Unterm Bremsberg waren noch mehr Rettungsleute angekommen. Sie versuchten von der Förderstrecke aus, sich einen Weg zu den Rutschen zu bahnen. Mann hinter Mann krochen sie durch die Wetterstrecke, erreichten auf Umwegen die Schleppstrecke der zwölften Rutsche. An der Wettertür, die, in Stücke zerrissen, weit in die Strecke fortgeschleudert lag,   fanden sie den Lader Fritz Krainowski.
Krainowski hatte noch sein Brot in der Faust, und auch sein Mund war voll Brot. Die Rettungsmannschaft musste sich durch ein Trümmerfeld von Eisenschienen, Förderwagen, Holz und Gestein hindurch wühlen.
In einem engen Loch, das noch von der frischen Luft berührt wurde, wimmerte eine Stimme.
»Rasch, Kumpels, da lebt noch jemand!« rief einer entsetzt. Es war ein Wunder, dass so nahe am Herd der Katastrophe einer mit dem Leben davongekommen war. Und sofort griffen alle Hände zu und scharrten. Sie griffen in das Loch und zerrten ein kohlenschwarzes Etwas hervor, das eher einem Tier als einem Menschen glich. Entsetzte Augen stierten die Retter aus einem gedunsenen Gesicht an. Der schwächliche Körper bebte immerfort.
»Der Fredi!« erkannte einer den Schlepper.
Die Retter machten die verzweifeltsten Versuche, der zwölften Rutsche näher zu kommen. Sie stießen auf unüberwindliche Hindernisse und mussten, weil sie von Schwaden bedroht wurden, wieder zurück.
Sie überlegten und drangen einen andern Bremsberg hinauf, der dritten Rutsche zu, um von dort aus hineinzukommen. Da war es nicht so wüst zugerichtet, sie hatten jedoch schwer mit den Schwaden zu ringen, die dort immer wieder herausquollen. Winziger wurden die Lichter, so dicht lag der Qualm in den Strecken. Dann fanden sie einen Kumpel nach dem anderen. Der Tod hatte sie mitten auf der Flucht eingeholt. Da lagen der Schrader, der Waitack, der Jakob Brandes, Pilniack. Ein grauenhafter Anblick: Brese und Salz ineinander verkrallt. Man konnte sie nicht auseinanderreißen, oder man war gezwungen, ihnen die Knochen zu brechen. Sic wurden darum gemeinsam fortgeschleppt. Ein paar Retter blieben zurück. Einer begann zu schreien. Das Geschrei entsetzte die übrigen. Einer nach dem anderen kehrte um und flüchtete. Sie hatten in eine Glut hineingeschaut. Von einer Eisenschiene hing ein Körper herunter und brannte. Das Feuer fraß sich fort, fand neue Nahrung: Kohle, Holz - Menschen.
Über Tage war eine Kantine eingerichtet worden. Der Zechenplatz war voll Sanitäter, Polizei, Kommissionen, Pressevertreter und eifriger Fotografen, die mit ihren Apparaten umhersprangen. Vom Tor her wimmerte, schrie und heulte es wie aus einem Rudel gehetzter Tiere.
Vom Schacht tönten dumpf die Signale. Tote, Tote, Tote. Hin und wieder ein Glücklicher, der dem Tode entronnen war, der aber sein weiteres Leben ein Krüppel blieb, ohne Arme, ohne Beine, das Gesicht unkenntlich entstellt. Viele der Geretteten röchelten unter den zitternden Händen Heinrich Renteleits, der sie der verbrannten und zerfetzten Lumpen entledigte, ihre furchtbaren Wunden waschen musste. Er musste stark bleiben. Sanft wie eine Mutter, so streichelten seine rauen Hände die verzerrten Gesichter der schreienden und stöhnenden Kumpels.
Dann kam das Grausigste: Man brachte seinen Jungen. Er lebte noch. Heinrich hielt zum ersten Mal nach Stunden in seinem entsetzlichen Werk an. Sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen. Es war sein einziger.
Mit beiden Armen hob er die wimmernde Last auf, wandte sich damit zur Tür, rannte hinaus auf den Zechenplatz; mit verzerrtem Gesicht stand er draußen, seinen Sohn auf den Armen und heulte. »Blind! Die Augen fort!«
Man musste Heinrich Renteleit mit Gewalt den Sohn entreißen. Er wehrte sich rasend. »Das ist eure verfluchte Treiberei nach Kohle! Die Hölle soll euch fressen!«
Dann saß er auf der Treppe der Totenkammer. Das Gesicht in seine Hände vergraben. Nur zuweilen entrang sich seiner Brust ein Stöhnen. Alle, die vorüberkamen, wichen ihm scheu aus. Heinrich Renteleit hatte beim Anblick seines blinden Sohnes seinen Gott begraben.

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