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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXVI

Frau Krämer entriss sich als erste dem niederdrückenden Brüten. Sie hatte ihren Mann verloren, doch sie sah ein, dass es nichts nützte, sich damit länger zu quälen. So schüttelte sie mit Gewalt das lähmende Grübeln von sich, ging wieder hinaus vor die Tür ihres Hauses und suchte Menschen, mit denen sie sich unterhalten konnte.
Sic traf Marie Plaschewski, die mit gesenktem Blick an ihr vorübereilen wollte, und rief sie an. Marie blieb, brennendrot im Gesicht, stehen und sah sie unsicher an.
»Wie geht es deinem Mann?« fragte die Krämersche.
»Er sitzt noch immer in Untersuchung!« erwiderte Marie und sah an der Krämern vorbei.
»Tröste dich mit mir, ich bin auch gestraft genug!« sagte die Krämersche. Marie wurde gesprächig, als sie merkte, dass die andere nicht mit Vorwürfen kam. Sic erzählte, was sie alles durchgemacht hatte und dass sie vom Wohlfahrtsamt leben musste, das so bitter wenig hergab.
Die Wochen, in denen sie sich vor den Blicken der anderen verbergen oder scheu ducken musste, hatten scharfe Spuren in ihr Gesicht gegraben. Es war blass und schmal geworden, und die früher lebensfrohen Blicke forschten unruhig in dem Gesicht der Nachbarin.
»Warum versteckst du dich denn so?« tadelte die Krämer. Und als Marie schuldbewusst ihren Kopf senkte: »Du bist dumm, es hätt dich niemand wat getan!«
»Dat sagst du so«, entgegnete Marie beklommen, »ich weiß doch, dass nicht alle so denken wie du!«
Ihr Gespräch lockte einen grauen Kopf ans Fenster. Die alte Ragnitzki. Sic hörte eine Zeitlang den beiden zu und hüstelte, um sich bemerkbar zu machen.
»Wat meint ihr, Frau Ragnitzki«, wandte sich die Krämer zu ihr, während Marie beim Anblick der Alten wieder die Glut ins Gesicht schoss. »Die Marie dachte, wir hätten sie gemieden; als ob wir nicht unser eigen Kreuz hätten!«
Frau Ragnitzki seufzte. »Hätt ich dat geahnt, dat es so kam, dann hätt ich dem Kerl kein Wort von die Geschichte erzählt, Marie!«
»Einmal hätt er es doch erfahren«, entgegnete Marie, die noch immer zu Boden sah, »ich war schuld, dass ich mich drauf eingelassen hab!«
Gemeinsames Unglück spült manches Hässliche fort. Maries Tat, die anfangs den anderen so abscheulich und verwerflich erschienen war, erschien ihnen jetzt verständlich und entschuldbarer. Das schamhaft gesenkte, verängstigte Gesicht der hart gestraften Frau rührte die alte Ragnitzki, die sich ihr nun vollends zuwandte. »Du bist recht herunter, Mäken«, sagte sie besorgt, »hast wohl nichts zu beißen?«
»Wat 'ne Frage!« antwortete statt Marie die Krämer. »Wat gibt denn die Wohlfahrt für 'n Geld her?«
»Achtzehn Mark die Woche, mit drei Kindern!« erklärte Marie, »davon muss ich aber die Miete zahlen!«
»Du kannst mal deine Blagen rüberschicken«, sagte die Ragnitzki, die angestrengt nachgedacht hatte, »ich koch ein paar Löffel voll mehr, dann könn'n sie mitessen!«
Marie machte Einwände.
»Sei doch nicht so blöde, Mensch!« entrüstete sich die Krämer. »Schickst die Kinder hin und damit fertig!« »Mir gleich!« sagte Marie zu.
»Und dann hockst du nicht wieder so allein in deiner Bude, kommst zu mir rüber. Wirst ja dösig, wenn du den anderen Menschen aus dem Weg gehst!«
Marie erhob ihren Kopf und sah erleichtert in die gutmütigen Augen der Nachbarin. »Und trägst mir wegen der Geschichte nichts nach?«
»Was gewesen ist, ist gewesen«, wehrte die Krämer energisch ab, »es kann dem besten Menschen vorkommen, wat dich passiert ist. Komm nur rüber!«
Marie machte ein glückliches Gesicht, als sie weiterging.
»Armes Luder!« seufzte die alte Ragnitzki.
»Dem Kerl knallen sie bestimmt ein paar Jahre auf!« meinte die Krämer.
»Sie sollen lieber die Bande einsperren, die unsere Männer in den Tod gejagt hat!« fuhr ihr die Ragnitzki ins Wort.
Die Breimann kam herbei. »Was habt ihr?«
Die Ragnitzki wiederholte: »Den armen Teufel sperren sie ein, und für die Treiber unserer Leute findet sich kein Gericht!«
»Wer 'n Sack voll Geld hat, der findet auch gnädige Richter!« warf die Gleich ein, die aus einem oberen Fenster zugehört hatte.
Immer mehr Frauen kamen herbei und machten ihrem bedrängten Herzen Luft.
So fanden sie sich jeden Tag.
Bontzeck sah, dass die Frauen nach dem Tode ihrer Männer ohne Freude waren. Er zog eines Morgens unterm Bett seinen verstaubten Kasten hervor, in dem seit langer Zeit das Bandonion unberührt gelegen hatte, strich mit behutsamen Händen den Staub fort und probierte an den Tasten.
»Mein Gott, der Bontzeck spielt!« entsetzte sich die Breimann und kreuzte die Hände über der Brust.
Bontzeck spielte von nun an jeden Morgen, bevor er zur Mittagsschicht musste. Begann er nicht zur gewohnten Zeit, sahen die Frauen ungeduldig zu seiner Wohnung hinauf.
»Ich hör so gern Musik!« sagte die Ragnitzki eines Tages, und ihr Gesicht entspannte sich.
»Wir haben genug geheult!« meinte die Krämer. Sie zog sich sonntäglich an und ging in die Stadt, versuchte so, dem wiederkehrenden Gram zu entgehen. Sie nahm die Marie mit, mit der sie sich mehr befreundete.
So kam nach furchtbaren Tagen nach und nach Leben unter die vom Unglück heimgesuchten Einwohner der Kolonie.
Die Trauer milderte sich, doch nicht der Hass; denn drüben die Schächte bargen Männer und Söhne, die morgens und mittags einfuhren, um Kohle zu hauen.

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