XIX
Von den Schächten der Zeche »Hoffnung« flatterte schwarzes Tuch auf Halbmast. Die Waschkaue hatte einen schwarzen Behang. An der hinteren Wand war ein Altar errichtet mit einem großen Bildnis des Gekreuzigten, vor dem riesige Kerzen brannten. In langen Reihen lagen in Särgen die Kumpels - einhundertneunundsechzig Tote.
Zwischen den Reihen der Särge gingen Angehörige, die die Erlaubnis hatten, die Waschkaue betreten zu dürfen. Auch befrackte Herren, den Zylinder in der Hand, schritten mit würdevollen Mienen einher, ließen sich halblaut über den Vorfall berichten.
Balasz lag mitten unter den Toten. Betriebsführer Böß, der eine Besichtigungskommission führte, hielt vor dem Sarg und erzählte von Balasz, dass dieser als Arbeitsloser an dem Rettungswerk mit teilgenommen hätte und dabei verunglückt wäre.
»Ein Held!« Einer der Herren nickte teilnahmsvoll.
Im Verwaltungsgebäude lag ein Berg von Kränzen.
In einem Zimmer des Gebäudes befanden sich eine Anzahl Herren. Sic waren nervös, rauchten viel und verhörten Kumpels über die Katastrophe. Es wurden Fragen gestellt, kreuz und quer.
»Können Sie sich nicht entsinnen, ob nicht einer der Hauer unvorsichtig mit der Munition umgegangen ist?« fragte einer der Herren einen älteren Kumpel, der mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck vor ihnen stand und seine Mütze knäulte.
Der Kumpel verneinte es.
Der Frager wandte sich zu der Kommission: »Ich kann Ihnen aus Erfahrung erzählen, meine Herren, wie unverantwortlich manche Leute mit dem Sprengstoff umgehen. Ein Fall zum Beispiel: Ein Steiger findet im Bergeversatz eine ganze Kiste Dynamit. Denken Sie sich, was da für ein Unheil entstehen könnte!«
Der Hauer räusperte sich. »Dat muss aber schon lange her sein, denn heute geht dat nicht so leicht!«
»Warum denn nicht?«
Die Blicke der Kommission richteten sich gespannt auf den Hauer.
»Weil wir jeden Sprengschuss buchen müssen, und am Schichtschluss wird die Restmunition in der Schießbude verrechnet!«
»Ja, wie denken Sie sich, wie das Unglück hier entstehen konnte?« fragte ein anderer der Herren. »Die zwölfte Rutsche war uns doch als ein Musterbetrieb bekannt!«
Der Hauer schwieg mit düsterem Gesicht.
»Na?«
Der Hauer sah ihn an. »Die Kumpels, die drin gearbeitet haben, sind tot - die könnten es am besten erzählen!«
Nach einem kurzen, peinlichen Schweigen sagte der erste der Herren: »'s ist gut, Sie können gehen!«
Man forschte hin und her, um die Ursache festzustellen. Und wieder wurde ein Kumpel hereingerufen.
»Haben Sie vielleicht bemerkt, dass der Ortsälteste schon mal seine Lampe nicht in Ordnung gehabt hatte?«
»Das kann ich nicht behaupten, ich weiß nur, dass Schramm ein sehr vorsichtiger Mensch war. Er war nicht so dumm, wegen einer schlechten Funzel sein Leben aufs Spiel zu setzen, wo er sechs Blagen hatte!«
»Wie war es denn mit dem Bergeversatz? War der in Ordnung?« wandte sich der Frager an Böß, der seit einiger Zeit der Verhandlung beiwohnte.
Böß fuhr erschreckt zusammen. Er erwiderte hastig: »Sieben Mann verpacken auf Mittagsschicht Steine, Herr Assessor!«
»Waren keine Hohlräume vorhanden?« »Soviel ich weiß, nicht!«
»Na, so ganz in Butter war's doch nicht!« sagte der Kumpel. »Da war manches Loch, so groß wie ein Pferdestall, drin!« Böß' Gesicht verzog sich.
»Woher wissen Sie das?« fragte der Assessor den Kumpel.
»Na, ich war im Verbauen, und da musste ich oft hin vor Kohle, und da hab ich's gesehen!«
»Also, Sie meinen, dass die Steineverpacker sehr nachlässig gearbeitet haben!«
»Jaa, wann konnten die denn richtig verpacken? Die mussten doch die meiste Zeit an die Kohle!«
Der Assessor wandte sich an Böß: »Stimmt das?«
»Nein!« sagte Böß.
»Doch!« sagte der Hauer aufgebracht. »Ich kann's beweisen!« und schlug dabei mit der Faust gegen seine Brust.
»Sie können gehn!« sagte der Assessor zu dem Hauer. Ein dritter wurde hereingerufen.
»Sie haben noch vor dem Unglück in der zwölften Rutsche gearbeitet?« fragte der Assessor. Der Hauer nickte. »Haben Sie dort Feuer bemerkt?«
»Mehr wie einmal!«
»Wo, im Bergeversatz?«
»Ja, auch vor Kohle und in den Strecken. Es war oft so heiß und stickig, dass wir's nicht aushalten konnten!«
»Stimmt das, was der Mann sagt?« wurde Böß gefragt.
»Nicht der Rede wert, Herr Assessor«, erwiderte Böß, »die Leute übertreiben gern!«
»Ich übertreib schon nicht!« sagte der Hauer ärgerlich. »Die Wetterstrecke war ja nie in Ordnung, und wenn wir es dem Steiger meldeten, dann sagte der, er hätte keine Leute zum Ausbauen!«
»Unsinn, der Steiger hatte Leute genug!« sagte Böß unwillig.
»Wie war denn der Steiger in seinem Dienst sonst?« fragte der Assessor. »Konnten Sie sich auf ihn verlassen? Trank er nicht? Es gibt Steiger«, wandte er sich lächelnd zu den andern Herren, »die gern einen über den Durst nehmen und dann im Pütt alles laufen lassen, wie's läuft!«
»Steiger Schacke war ein tüchtiger Beamter, er hatte aber einen eigenen Schädel und umging gern meine Anweisungen«, sagte Böß.
»Können Sie den Steiger herbeiholen?« fragte der Assessor, der den Herren einen bedeutungsvollen Blick zuwarf.
»Steiger Schacke ist tot!« erwiderte statt Böß der Hauer.
»Hm - schade, da hätten wir was erfahren.«
Die Untersuchung musste vorläufig resultatlos abgebrochen werden.
Bei Schleihmann war öffentliche Versammlung. Die Direktion versuchte, die Versammlung zu verhindern, begründete, dass sie die Trauer der Bevölkerung störe. Die Kumpels hatten die Versammlung aber durch einen stürmischen Protest erzwungen. Der Saal war so voll, dass ein großer Teil draußen bleiben musste. Ein junger Hauer eröffnete die Kundgebung. »Wir untersuchen vor der Öffentlichkeit, wer der Schuldige an den Unglück ist!«
»Ich möcht was sagen!« meldete sich ein alter Hauer. Im Saal schluchzten Frauen. »Zwei Jungen hab ich bei dem Unglück verloren«, erzählte der Alte mit erschütternder Stimme, »der eine einundzwanzig, der andere neunzehn Jahre alt. Im Krieg ist der älteste gefallen. Ich bin auf mein Alter ohne Brot, wer gibt mir was? Von der Rente kann ich beim besten Sparen nicht leben. Wofür hab ich die Kinder großgezogen?« Er schrie empört: »Konnte die Treiberei noch ein Mensch aushalten? Wie mit 'm Vieh ist man mit uns umgegangen! Zwanzig und dreißig Mark Abschläge und drauflos gejagt, als wenn man ein Ochse wäre! Nun sucht man den Schuldigen! Unter den Toten! Meine Jungens sind tot, ich bin ein alter Mann, was nun?«
»Seht her!« Frau Ragnitzki, die sehr gealtert, lenkte durch den Zuruf die Augen aller auf sich. »Da, seht, was zwei Tage Gram aus mir gemacht haben!« Sie griff mit beiden Händen nach ihrem Haar, das weiß geworden war: »Mein Mann ein Krüppel, zwei Jungens verbrannt!« Sie konnte nicht weiter, stöhnte und brach zusammen.
Ein Weinen ging durch den Saal.
»Sie suchen den Schuldigen«, begann ein anderer Hauer, »Steiger Schacke ist verbrannt, er kann sich nicht verteidigen.« Die Stimme des Hauers wurde hart und lauter. »Böß hat ihn verrückt gemacht! Wenn ein Steiger sein Soll nicht brachte, dann wurde auf ihm herumgeritten! Dann mussten wir es ausfressen! Die nach Kohle gejagt haben, die gehören vor den Richter!«
»Wenn man jeden Moment Leute entlässt, die Förderung hochtreibt, das Gedinge herabsetzt, dann muss so was geschehen!« sprach noch einer. »Sonst hat Böß keine Augen, nur wenn der Direktor oder sonst jemand kommt!«
»Wir klagen die Schuldigen öffentlich an!« nahm Scheck, der junge Hauer, der die Versammlung leitete, das Wort. Er kam nicht weiter, Polizei kam in den Saal und forderte die Auflösung der Versammlung. Es durfte niemand mehr sprechen. Die Menge wurde gewaltsam hinausgedrängt. Ein Sturm der Empörung brach los. Draußen saß ein größeres Kommando Polizei ab und löste die Menge auf, die sich vor dem Saaleingang staute.
Die Beerdigung der Opfer hatte stattgefunden. Särge särge - Särge. Ein unendlicher Zug von Särgen.
Frau Ragnitzki stieß die ihr von Böß gereichte Hand zurück, als er ihr sein Beileid sagen wollte. »Du bist schuld, dass ich meine Jungen verloren hab!«
Böß verließ unter Murren der Masse den Friedhof.
Auf einem Grabhügel hockte Heinrich Renteleit. Sein Junge war unter den Toten. Es war für ihn eine Erlösung; denn blind sein ist entsetzlich. Er sah nicht zu, als die Toten in die Gruben gesenkt wurden. Er hielt den Kopf in die Hände gestützt und sprach halblaut vor sich hin. Eine Hölle hatte sich vor ihm aufgetan und seinen Jungen, sein Altersbrot und seinen Glauben gefressen.
Eine Stunde später kam eine kleine Trauergemeinde. Kinder trugen einen weißen, winzigen Sarg. Hinter dem Sarg schritt die gebrochene Frau Jung, ihr Mann neben ihr.
Frau Jung weinte nicht. Ihr Gesicht hatte die Starre einer Toten. Erst als der kleine Sarg in die Grube gesenkt wurde, zerschnitt ein wilder Schrei das Gejammer, das von den andern Gräbern herüberkam.
Der Nachmittag verging. Die Kolonie weinte. Die Nacht kam. Es weinte ein jedes Haus. Der Morgen kam. Die Häuser wimmerten.
Die Sonne stieg hoch, ein strahlender roter Ball. Sie schien auf die Kolonie herab, vermochte aber den Menschen drinnen keine Linderung zu bringen.
Einhundertneunundsechzig tot...
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