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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXXVIII

Böß hatte mit seinen Leuten einen Plan beraten, durch den er die noch immer streikende Belegschaft loswerden und mit der Förderung beginnen konnte. Steiger Bein wurde beauftragt, sich mit noch einigen Vertrauten auf die Suche nach Arbeitswilligen zu begeben. Man wandte sich an die Stempelstellen, an die Leitungen des Stahlhelms und der Nationalsozialisten um Vermittlung von Leuten, die bereit waren, unter den Bedingungen, die im Schiedsspruch vereinbart waren, auf Zeche »Hoffnung« zu arbeiten. Es gelang ihrem Bemühen, einige hundert Mann aufzutreiben, meist außerhalb wohnende, die man frühmorgens mit dem 5uhrzug zur Zeche befördern wollte.
Durch die Arbeitslosen kam es den Streikenden zu Ohren, und der Kampfausschuss forschte sofort nach.
Am Dienstag sollte der Transport herangeschafft werden. Das hätte für die Kumpels nicht nur gewaltsamen Streikabbruch, sondern auch Verlust ihrer Arbeit bedeutet.
Dränger schlug vor, die folgende Nacht zu wachen, damit man am Dienstagmorgen früh auf den Beinen war, um die anderen alle zu wecken.
Den ganzen Nachmittag hindurch gingen Kumpels von Haus zu Haus und warben um Unterstützung beim Streikpostenstehen.
Weil der größte Teil der Kumpels bedroht wurde, war die Erregung sehr groß, und alle waren entschlossen, den Streikbrecherzug aufzuhalten und ihn nicht bis zur Zeche kommen zu lassen.
Lotte hatte alle ihre Freundinnen zusammengeholt und vereinbarte mit ihnen, alle Frauen zu benachrichtigen, um diese mit zum Wachen zu veranlassen.
Meinert, der sich den Arbeitslosen, die den Kumpels beigestanden hatten, anschloss, übernahm die Benachrichtigung der Stempelstelle und der Baracken, in denen er seit seiner Räumung wohnte.
In der Ludwigsgasse, in den Baracken und in der Kolonie saßen, als es Nacht wurde, Hunderte Kumpels und Frauen. Immer wieder knarrten die Treppen unter den schweren Tritten heraufsteigender Männer. Um vier Uhr sollten die andern geweckt werden.
Frau Dränger hatte sich von den Nachbarn Bänke und Stühle ausgeliehen. Es reichte nicht aus. Küche und Stube waren voll. Man musste die frischen Trupps bei Ragnitzkis unterbringen. Aber auch dort füllte sich die Wohnung so stark, dass Scheck zu Jarzacks und Frau Krämer hinüberging, um Platz für die Kumpels zu bekommen. Dabei wickelte sich alles möglichst unauffällig ab. Alle hatten ein Interesse, nicht zu verraten, was sie vorhatten, damit man nicht aufmerksam wurde und ihren Plan nicht vereiteln konnte.
Dränger begab sich nach Mitternacht zum Schlackenberg, wo Lotte wohnte. Dort versammelten sich die Frauen, die die Nacht durchwachen wollten. Schon von weitem hörte Dränger das lustige Lachen von Lotte und anderen Frauen, die sich aus Langeweile Männerkleidung angezogen und Schnurrbarte angemalt hatten.
Dränger klopfte gegen ein Fenster. Lotte kam hinaus. Hinter ihr erschienen mehrere Frauenköpfe.
»Holla, Dränger!« Sie umringten ihn.
»Rin in die gute Stube!«
Dränger ging mit hinein.
»Geht's bald los?« fragten einige kampfeifrig.
»Wir sagen euch noch Bescheid!« sagte Dränger und überblickte die Insassen.
Die Frauen begannen zu quietschen. Ein paar versuchten, sich hinter anderen zu verbergen. Das waren die, die sich bemalt hatten. Eine Dicke in Männerkleidung sah so prall und rund wie eine Riesenwurst aus. Sie trat hervor, stemmte die starken Arme in die Seiten und sagte: »Wat meinste, Dränger, wenn eck so mitgehe?«
»Mensch, Suse, dann müssen wir dich rollen!« Eine andere lachte. »Du kannst ja nicht laufen!«
Gelächter.
»Wat, eck nich laufen?« wehrte sich die Dicke, und sie machte einen Satz nach vorn.
Neues Gelächter. Die Hose war ihr bei dem Sprung aufgeplatzt.
Dränger wurde mit Fragen bestürmt. Er beruhigte und musste gleich wieder fort. Er begab sich zurück zur Kolonie. Dort berieten die Funktionäre, wo sie den Zug anhalten konnten, ohne mit der Polizei, die bestimmt stark vertreten sein würde, zusammenzustoßen.
Sie entschlossen sich, auf der Zwischenstrecke der Stadt und dem kleinen Bahnhof von H. aufzupassen. Aber der Zug musste irgendwie zum Halten gebracht werden.
Ein Kumpel riet, die Schienen aufzureißen. Ein anderer schlug vor, Balken heranzuschleppen und diese quer über die Gleise zu packen.
»Ich weiß Rat!« meldete sich Walter Smolka. »Lasst das nur mich mit dem Stefan Mihallek machen, und der Zug steht, wo ihr ihn haben wollt!«
Walter Smolka erklärte den Kumpels seinen Plan. Der Plan wurde begeistert aufgenommen. So musste es bestimmt gelingen.
Eine Abteilung Kumpels wurde bestimmt, nach dem Bahnhof in H. zu gehen, um die dort wartende Polizei und Schutzabteilungen, die Böß stellte, zu täuschen.

Walter Smolka nahm den Stefan Mihallek und noch einen Schlepper mit, und sie fuhren auf Fahrrädern nach M., der nächsten Station, wo die Streikbrecher einsteigen mussten.
Vor dem Bahnhof waren die Trupps der Streikbrecher angetreten. Die Schlepper versuchten sich anzuschließen, befürchteten jedoch eine Kontrolle und ließen den Plan fallen.
»Wie kommen wir nur in den Zug?« fragte Mihallek, besorgt, dass die »feine Sache« nicht gelingen könnte. »Über den Zaun!« sagte Smolka.
Der dritte Schlepper nahm die Fahrräder der beiden Kumpels in Verwaltung. Smolka und Mihallek gingen hinten um den Bahnhof herum, um über den Zaun zu klettern. Die Bahnbeamten passten überall scharf auf. Es war nicht leicht, hinüber und in den Zug zu kommen.
»Los, und wenn sie uns schnappen!« trieb Smolka; denn die Streikbrecher bestiegen schon nacheinander den Zug. Es war eine ansehnliche Zahl.
Mihallek kletterte als erster hinüber. Er warf sich rasch auf der anderen Seite des Eisenzaunes zu Boden, weil er einen Bahnbeamten sah, der sich ihnen näherte. Mihallek blieb am Zaun in der Hocke sitzen, bis der Beamte das Gleis überquerte und verschwunden war. Smolka schwang sich mit einem leichten Sprung über den Zaun. »Los, aber aufgepasst, dat uns keiner sieht, wo wir herkommen!« flüsterte er Mihallek zu. Sie krochen erst eine Strecke im Schatten von Güterwagen bis in die Nähe des Streikbrecherzuges, passten einen Augenblick auf, und als ein Gedränge vor einem Wagen entstand, mischten sie sich, innerlich zitternd, unter die Leute.
Es gelang ihnen, mit in den Wagen zu kommen. Ihre Gesichter, die wegen der Aufregung sehr blass waren, konnten sie nicht verraten, denn die Gesichter der Streikbrecher, die sich prahlerisch großtaten, waren nicht minder blass.
Die beiden Schlepper pressten sich auf eine Bank zwischen die Streikbrecher. Es waren meist jüngere Leute. Ein ganz wüster Bursche zog sein Taschenmesser hervor, klappte es auf, strich damit über die linke Hand und fuhr darauf mit dem. Messer stoßartig in die Luft. »Wenn mie eener wat well, dem schnied eck die Strote af!« Mihallek stieß den Smolka mit dem Ellenbogen an. Smolka sah ihn verständnisvoll an. Bevor der Zug abfuhr, lief ein gutangezogener Mann den Zug entlang und rief in die Fenster: »Schaut euch gut an, dass keine fremden Gäste drin sind!«
Beunruhigt musterten die Insassen einander. Auch die beiden Schlepper taten es.
Smolka, der bemerkte, dass der Kerl, der vorhin das Messer geschwungen hatte, der misstrauischste war, nahm seine Kaffeeflasche von der Schulter, spuckte den zerkauten Kautabak vor seine Füße, setzte die Kaffeeflasche demonstrativ an den Mund und trank einige Schluck. Er wandte sich zu seinem Nachbarn, dessen Augen ebenso argwöhnisch in den Gesichtern der anderen forschten, und tuschelte mit einer leichten Kopfbewegung zu dem »schweren Jungen« hin: »Du, kennst du den? Dem trau ich nicht!«
Der Nachbar drehte sich zu dem besorgten Smolka um und lachte überlegen: »Mann, der is gut, den kenn ich!«
»Na, dann is gut!« sagte Smolka beruhigt und kniff im Übermut dem ihn heimlich boxenden Mihallek in den Oberschenkel.
Der Zug fuhr ab. Bis nach H. war es etwa eine halbe Stunde. Noch eine Gefahr bestand: Kontrolle der Fahrkarten! Die Schlepper mussten, wenn ein Kontrolleur kam, auffallen, denn sie hatten keine Fahrkarten. Smolka ließ es darauf ankommen. - Mehr als die Fresse vollhauen und aus dem Zug schmeißen können sie uns nicht, dachte er und sah heimlich nach der Notbremse, die heruntergerissen werden musste, sobald sich der Zug an der verabredeten Stelle zwischen der Stadt und H. befand. Er drängte sich zum Fenster, um den richtigen Augenblick nicht zu verpassen. Über ihm war die Notbremse. Auch Mihallek schob sich erregt in Erwartung bis an die Tür des Wagens und starrte durch das Fenster ins Dunkel. Der »schwere Junge« im Wagen erzählte von Schlägereien und prahlte immer lauter, je mehr sich der Zug H. näherte.
Smolka sprang das Herz in der Brust. Der Zug fuhr auf die auftauchende Anhöhe der Kolonie zu, über der die hellen Brandflecke der Zeche »Hoffnung« aufstiegen. Sie rückten immer näher. Smolka trat dem Mihallek auf den Fuß. Sie sahen sich an. Ein Blick zu den andern hin, die sich noch immer im lauten Gespräch befanden - ein Griff nach der Notbremse - ein Ruck - es zischte betäubend - und der Zug hielt mit harten Stößen. Die Insassen flogen übereinander.
Auf Umwegen waren die Kumpels und ihre Frauen zu der Stelle hingegangen, wo der Zug erwartet werden sollte.
Von Minute zu Minute wurde die Schar größer. Auch der Lärm. Die Frauen waren die ungeduldigsten und mussten oft zur Ruhe ermahnt werden, denn oben am Bahnhof stand Polizei und erwartete die Streikbrecher.
Die Streikposten spähten erregt zur Stadt. Der Zug musste jeden Augenblick kommen. Hände zerrten Taschenuhren hervor. »Noch fünf Minuten!« - »Drei Minuten!«
»Ob es den Jungens gelingt?«
Ein greller Maschinenpfiff.
Die Spannung stieg aufs äußerste. »Jetzt kommt er!« -»Gelingt es?« - »Steine bereithalten!«
Die Leute suchten Steine, umklammerten sie fest mit den Händen. Der Zug fauchte heran. In der aufgespeicherten Phantasie erschienen die Lichter der heran donnernden Maschine wie ein paar mächtige Feuerräder.
»Er hält nicht! Die Jungens sind nicht drauf!«
»Er hält!«
»Der Zug fährt durch! Los, die Steine bereit!« Die großen Feuerräder waren zum Greifen nahe. »Gottverdammt, er hält!« Schsssssss!
Die Bremsen schrillten. Der Maschinist gab Konterdampf. Das Geschrill betäubte die Ohren der wartenden, vor Aufregung zitternden Kumpels. Frauen schrien in das Kreischen des Zuges hinein: »Er hält! Los!«
Mihallek hatte, als der Zug bremste, die Tür aufgerissen, und ehe die anderen zur Besinnung kamen, sprangen die Schlepper ins Freie. Rechts und links vom Zuge strömten die Scharen der Streikposten heran.
»Runter!« - »Raus aus dem Zug!« Fäuste und Hackenstiele flogen hoch. »Raus!«
Im Zug erhob sich lauter Lärm. Alles schrie durcheinander. »Ein Überfall!« - »Nicht rausgehen, drin bleiben!«
An den Fenstern und Türen erschienen die erschrockenen Gesichter der Streikbrecher. »Was wollt ihr denn von uns?« »Los, runter, sonst hauen wir euch heraus!« -»Holt sie raus!« schrien die Frauen.
Die Menge erkletterte die Waggons. Wie Säcke wurden die sich sträubenden Streikbrecher hinausgeworfen.
Ehe die Polizei eingreifen konnte, hatten die Kumpels entschieden. In voller Auflösung flohen die Streikbrecher, von den empörten Streikposten verfolgt, der Stadt zu.
Ein voller Erfolg!
Betriebsführer Böß wartete vergeblich auf den Streikbrechertransport. Er sah ein, dass er, der geschlossenen Front der Kumpels gegenüber, der Schwächere war.
Die Kumpels von Zeche »Hoffnung« zwangen ihn nachzugeben. Böß erklärte sich bereit, mit dem Streikausschuss zu verhandeln. Die Maßregelungen mussten zurückgenommen werden.
Die Belegschaft fuhr als letzte nach dem Streik ein, ohne einen Mann verloren zu haben.
An der alten Zechenmauer stand, von den tapferen Schleppern in großen Buchstaben geschrieben:
»Wir sind nicht geschlagen! Wir bleiben unbesiegt!«

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