8. Kapitel
Drei Tage darauf wurde Mutter zur Polizei bestellt. Dort teilte man ihr mit, ihr Mann sei aus seiner Einheit desertiert. Sie musste unterschreiben, dass ihr der derzeitige Aufenthalt unbekannt und sie verpflichtet sei, den Behörden sofort Mitteilung zu machen, wenn sie etwas erfahre.
Durch den Sohn des Polizeichefs wurde es am nächsten Tag in der Schule bekannt, dass mein Vater ein Deserteur war.
Vater Gennadi hielt im Religionsunterricht eine kleine Predigt über die Treue zu Zar und Vaterland und über die Heiligkeit des Fahneneides. Bei der Gelegenheit erzählte er, wie in der Zeit des Krieges gegen Japan einmal ein Soldat vom Schlachtfeld geflohen war, um sein Leben zu retten, dabei aber den Tod unter den Zähnen eines reißenden Tigers erlitten hatte.
Vater Gennadi sah darin ein untrügliches Zeichen göttlicher Vorsehung; sie hatte den Flüchtigen gebührend gestraft. Jener Tiger hatte nämlich – ganz gegen seine Gewohnheit – den Soldaten nicht gefressen, sondern ihn nur in Stücke gerissen und sich dann davongemacht.
Nach zwei Tagen wurde mir mitgeteilt, der Lehrerrat habe entschieden, mir für mein eigenmächtiges Verlassen der Schule eine Drei in Betragen zu geben.
Eine Drei in Betragen bedeutete im allgemeinen, dass der Schüler bei der nächsten Ermahnung aus der Schule ausgeschlossen würde.
Drei Tage später gab man mir ein Schreiben mit, in dem es hieß, meine Mutter habe unverzüglich mein Schulgeld für das erste Halbjahr in voller Höhe zu entrichten. Bis jetzt brauchte ich als Sohn eines Soldaten nur die Hälfte zu zahlen.
*
Es kam eine schwere Zeit. Den entehrenden Spitznamen “Deserteurssohn” wurde ich nicht mehr los. Viele kündigten mir die Freundschaft. Andere wieder sprachen zwar noch mit mir und wichen mir auch nicht aus, verhielten sich aber so eigenartig, als hätte man mir ein Bein abgenommen oder als läge ein Toter bei uns zu Hause. Mit der Zeit stand ich ganz allein. Ich spielte mit niemandem mehr, war nicht mehr dabei, wenn eine andere Klasse überfallen wurde, und besuchte auch meine Kameraden nicht mehr.
An den langen Herbstabenden saß ich zu Hause oder war bei Timka Schtukin und seinen Vögeln.
In jener Zeit wurden wir gute Freunde. Auch sein Vater war immer freundlich zu mir. Ich verstand nur nicht, warum er mich manchmal unverwandt von der Seite anschaute, mir über den Kopf strich und dann, mit den Schlüsseln klirrend, wortlos hinausging.
Eine unruhige Zeit brach an. Viele Menschen lebten jetzt in der Stadt, doppelt soviel wie früher. Die Schlangen vor den Läden wurden immer länger. An jeder Straßenecke, überall standen die Leute in Gruppen zusammen, und immer wieder zogen Prozessionen mit wundertätigen Bildern durch die Straßen. Alle möglichen unsinnigen Gerüchte lagen in der Luft. So hieß es, an den Seen, oben am Flusse Serjosha, wären die Altgläubigen in die Wälder gezogen. Unten bei den Hügeln hätten die Zigeuner Falschgeld umgesetzt, und nun wäre alles so teuer, weil riesige Mengen dieses falschen Geldes in Umlauf kämen. Einmal entstand ein sehr gefährliches Gerücht: In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend sollten die Juden verprügelt werden, sie wären Spione und Verräter, und deswegen dauere der Krieg so lange.
Immer mehr Landstreicher tauchten auf, keiner wusste, woher sie kamen. Und immer wieder hörte man von erbrochenen Türschlössern, von ausgeplünderten Wohnungen. Eine halbe Hundertschaft Kosaken hatte in der Stadt Quartier bezogen. Dicht aufgeschlossen ritten sie über die Straßen, finstere Kerle mit langwehendem Haar, und sangen ihre Lieder, wilde Lieder. Dann trat Mutter vom Fenster zurück und sagte: “Die hab ich lang nicht gesehen… seit 1905 nicht mehr. Nun sitzen sie wieder im Sattel, wie Adler sehen sie aus, genau wie damals.”
Von Vater hörten wir gar nichts. Ich glaubte ihn in Sormowo bei Nishni Nowgorod. Bevor er ging, hatte er Mutter lange und eingehend nach ihrem Bruder Nikolai gefragt, der dort in einer Waggonfabrik arbeitete. Nur darauf stützte sich meine Vermutung.
Eines Tages im Winter kam Timka Schtukin auf mich zu und winkte mir vorsichtig mit dem Finger. Er tat sehr geheimnisvoll, aber ich nahm das nicht besonders ernst. Ohne mir was dabei zu denken, folgte ich ihm in eine Ecke.
Erst schaute er sich nach allen Seiten um, dann flüsterte er mir zu: “Komm heute Abend mal zu uns. Mein Vater hat gesagt, du musst unbedingt kommen!”
“Was will er denn von mir? Das sagst du bloß so.”
“Das sag ich nicht bloß so. Du musst unbedingt kommen, dann siehst du, weshalb!”
Timka machte dabei ein ernstes, beinahe ängstliches Gesicht. Da wusste ich, dass er keinen Scherz machte.
Am Abend ging ich zum Friedhof. Schnee wirbelte durch die Luft, und das Licht der trüben, verschneiten Laternen vermochte kaum das Dunkel der Straßen zu durchdringen. Der Weg zum Wäldchen und zum Friedhof führte über freies Feld. Wie Nadeln stach der Schnee ins Gesicht. Ich zog den Kopf noch tiefer in den Kragen und stapfte über den vom Schnee verwehten Pfad auf das grüne Lämpchen zu, das am Friedhofstor brannte. Ich stolperte über eine Grabplatte und fiel der Länge nach in den Schnee. Die Tür zum Küsterhäuschen war verschlossen. Ich klopfte, aber man machte nicht sofort auf. Ich klopfte ein zweites Mal, da hörte ich Schritte hinter der Tür.
“Wer ist da?” fragte die bekannte Bassstimme des Küsters. “Ich bin‘s, Onkel Fjodor, mach auf!”
“Borka?”
“Ja,ja… mach doch auf!”
Ich trat ein, drinnen war es gemütlich warm. Auf dem Tisch standen der Samowar und ein Schälchen mit Honig, daneben lag ein rundes Brot. Als ob nichts wäre, bastelte Timka an einem Vogelkäfig herum.
“Schneit wohl mächtig draußen, was?” fragte er, als er mein rotes, nasses Gesicht sah.
“Kann man wohl sagen!” antwortete ich. “Ich glaub, ich hab mir den Fuß aufgeschlagen. Ist ja stockdunkel draußen.”
Timka lachte laut auf. Ich verstand ihn nicht und sah ihn verwundert an. Er lachte noch lauter, aber an seinen Augen sah ich, dass er nicht über mich lachte, sondern über etwas, das hinter mir sein musste. Ich drehte mich um – hinter mir standen Onkel Fjodor und mein Vater.
“Er ist schon zwei Tage bei uns”, sagte Timka, als wir uns zum Tee hingesetzt hatten.
“Zwei Tage… und du hast mir nichts gesagt! Und du willst mein Freund sein, Timka?”
Schuldbewusst blickte Timka bald seinen, bald meinen Vater an, als ob er von dort Hilfe erwartete.
Timkas Vater klopfte seinem Sohn derb auf die Schulter. “Wenn du auch noch so klein bist, aber auf dich kann man sich verlassen.”
Vater trug keine Soldatenuniform mehr. Er war lebhaft und in fröhlicher Stimmung, fragte mich nach der Schule und musste immer wieder lachen. Dann meinte er: “Halb so wild, mach dir nichts draus! Merkst du nicht, dass andere Zeiten kommen, mein Junge?”
“Ja, aber beim ersten Tadel schmeißen sie mich aus der Schule raus… und was dann?”
“Und wenn sie dich rausschmeißen!” Das erschütterte ihn nicht. “Was ist schon dabei! Wirst auch ohne die Schule ein rechter Kerl. Man muss nur wollen und einen klugen Kopf haben!”
“Du bist ja so guter Laune, Vater, und du lachst… wie kommt das? Deinetwegen hat uns der Pope eine Predigt gehalten, alle glauben, du wärst tot, und nun bist du so…
Seit ich um Vaters Geheimnis wusste, redete ich anders mit ihm als früher – wie zu einem älteren, gleichgestellten Kameraden. Und ich sah, das gefiel ihm.
“Ich bin so froh, weil jetzt frohe Zeiten kommen. Wir haben genug geweint, Schluss damit! … Na schön, und jetzt mach dich auf den Heimweg! Wir sehen uns bald wieder.”
Es war spät geworden. Ich verabschiedete mich, zog den Mantel an und war schon draußen vor der Tür. Aber Timkas Vater hatte noch nicht den Riegel vorgeschoben, als mich jemand mit solcher Gewalt zur Seite stieß, dass ich mit dem Kopf in eine Schneewehe flog. Im selben Augenblick hörte ich schwere Stiefel ins Haus poltern… Pfiffe, Kommandos. Ich sprang auf – vor mir stand ein Polizist. Es war Jewgraf Timofejewitsch. Sein Sohn Paschka und ich hatten gemeinsam die Gemeindeschule besucht.
“Bleib hier!” sagte er, als er mich erkannte, und hielt mich am Arm fest. “Wo willst du hin? Die werden da drin auch ohne dich fertig… Wisch dir mal das Gesicht ab, hier an meiner Kapuze. Um Gottes willen, hoffentlich hast du dir nicht den Kopf aufgeschlagen?”
“Nein, das hab ich nicht, Jewgraf Timofejewitsch, aber was ist mit meinem Vater?”
“Mit deinem Vater? Gegen die Gesetze hat er verstoßen, das hat ihm keiner befohlen. Darf man denn gegen die Gesetze verstoßen?”
Sie führten meinen Vater und den Küster aus dem Haus, beide waren gefesselt. Hinter ihnen her taumelte Timka, den Mantel über die Schulter geworfen, keine Mütze auf dem Kopf. Timka weinte nicht, er zitterte nur so seltsam.
“Timka”, sprach sein Vater ernst, “du bleibst heut Nacht beim Paten, und sag ihm, er soll nach dem Haus sehen, damit hier nichts wegkommt bei der Haussuchung.”
Schweigend und mit tief gesenktem Kopf ging mein Vater hinterher. Die Hände hatten sie ihm auf dem Rücken gebunden. Da sah er mich, richtete sich hoch auf und rief mir noch einmal zu: “Macht nichts, mein Junge! Auf Wiedersehen! Gib der Mutter noch einen Kuss und Tanjuschka auch. Kopf hoch, Junge! Bald kommen bessere Zeiten, frohe Zeiten!” |
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