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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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4. Kapitel

Am dritten Tage wurden wir kurz vor der Station Schachtnaja in aller Eile ausgeladen.
Ein Kavallerist, ein junger Kerl noch, kam angelaufen, steckte Schebalow ein Papier zu und sagte lachend, als hätte er irgendeine angenehme Neuigkeit: “Gestern haben die Deutschen eine Masse von uns bei Krajuschkowo umgelegt. Eine tolle Schweinerei, da war was los!”
Unsere Einheit sollte die auf den Dörfern verstreut liegenden Truppen des Gegners umgehen und mit den Einheiten der Bergarbeiter Begitschews Verbindung aufnehmen.
“Aber wie sollen wir denn Verbindung aufnehmen?” fragte Schebalow ärgerlich und tippte mit dem Finger auf die Karte. “Wo soll ich sie denn suchen? Schreiben einfach drauf: zwischen Oleschkino und Sosnowka! Den genauen Ort will ich wissen, aber nicht so was wie ‚Verbindung aufnehmen‘ und ‚zwischen‘…”
Schebalow schimpfte auf die Stabschefs; sie verstünden nichts von der Sache und schrieben nur kluge Befehle. Dann ließ er die Kompanieführer rufen. Doch trotz seiner Schimpferei über die Stabschefs war Schebalow froh, dass er eine selbständige Aufgabe erhalten hatte und nicht einer anderen, stärkeren Einheit unterstellt worden war.
Die drei Kompanieführer erschienen. Es waren der glattrasierte Tscheche Halda, ein ruhiger Mensch, der finstere ehemalige Unteroffizier Sucharew und der dreiundzwanzigjährige Fedja Syrzow, ein Harmonikaspieler und guter Tänzer. Der stets zu lustigen Streichen aufgelegte Fedja war früher einmal Hirte gewesen.
Sie ließen sich im Grase um die Karten nieder, um sie herum standen dicht geschart die Soldaten.
“Also”, begann Schebalow und hob den Befehl hoch, “nach dem Befehl, den ich bekommen habe, sollen wir ins Hinterland des Feindes vorrücken, damit wir in der Nähe der Einheit von Begitschew kämpfen können. Heute Nacht geht‘s los, mit dem Gegner dürfen wir nicht in Berührung kommen. Alles klar?”
“Wieso? Warum sollen wir mit dem Gegner nicht in Berührung kommen? Versteh ich nicht!” fragte Fedja Syrzow mit verschmitztem Gesicht.
“Wir sollen eben nicht mit ihnen in Berührung kommen”, Schebalow drehte sich langsam um und drohte Fedja mit der Faust. “Ich kenne dich, du… Ich werd dir was, von wegen Feindberührung! Du machst mir keine Dummheiten…! Also heute Nacht rücken wir ab”, fuhr er fort, “ohne Fahrzeuge; Maschinengewehre und Munition werden getragen, es darf nichts zu hören sein. Dörfer werden vorsichtig umgangen, nicht einfach hinein, wie hungrige Hunde auf ein verrecktes Stück Vieh! Gilt ganz besonders für dich, Fjodor… Du hast da so einige, wenn die einen Hof nur von weitem sehen, dann ist ihnen alles egal – und nichts wie drauf!”
“Das machen meine Leute auch”, gestand der Tscheche Halda. “Neulich hat ein Spähtrupp von mir einen ganzen Trog mit frischem Teig angeschleppt. Ich hab sie gefragt: ‚Was wollt ihr denn damit?‘, und da sagten sie, sie wollten ihn auf dem Feuer backen…”
Alle lachten laut auf, sogar Schebalow schmunzelte.
“Das war bei Debalzewo”, sagte lachend neben mir Waska Schmakow. “Er meint uns damit. Wir waren unterwegs, auf Erkundung, und da stießen wir auf einen Kosaken, einen reichen Kosaken. Vom Hof her haben sie auf uns geschossen, nun, und da sind wir hin. Als wir ankamen, waren sie schon alle weg. Der Ofen war angeheizt, der Backtrog stand auf dem Tisch. Den Hof haben wir angesteckt, aber den Trog mitgenommen. Ja, und abends haben wir gebacken. Das hat geschmeckt! Da waren Milch und Eier drin… wie‘n richtiger Osterkuchen.”
“Den Hof habt ihr angesteckt?” fragte ich. “Wie kann man denn einen Hof einfach anstecken?”
“Ganz runtergebrannt ist er”, antwortete Waska kaltblütig. “Warum sollten wir ihn denn nicht abbrennen, wo die doch zuerst auf uns geschossen haben? Das waren doch Kosaken, ganz dreckige Kosaken. War ein reicher Kerl, der Bauer, was macht das dem schon aus, baut sich einfach einen neuen.”
“Aber wenn er nun noch wütender wird und die Roten dafür noch mehr Hasst, was dann?”
“Uns noch mehr hassen? Kann er ja gar nicht”, erwiderte Waska ernst. “Wer reich ist, der kann überhaupt nicht noch mehr hassen. Von uns haben sie mal den Petka Kokschin erwischt… erst haben sie ihn drei Tage lang durchgepeitscht und dann umgebracht. Und da redest du von ‚noch mehr hassen‘… Wie kann man denn noch mehr hassen?”
Vor dem Aufbruch zum nächtlichen Marsch kochten sich die Soldaten Brei mit Speck, brieten Kartoffeln auf Kohlenfeuern, lagen im Grase, reinigten ihre Gewehre oder ruhten sich aus. Auf dem Wagen des Kompanieführers Sucharew entdeckte ich einen überzähligen alten Militärmantel. Unten hatte er Brandflecken, aber sonst war er noch gut. Ich ging zu Sucharew und bat ihn um den Mantel.
“Wozu brauchst du den denn?” fragte er grob. “Du hast doch einen Mantel, einen aus Tuch sogar, den Mantel brauch ich selbst. Da lass ich mir eine Hose draus machen.”
“Die kannst du dir ja aus meinem machen lassen”, schlug ich vor, “wirklich… alle haben sie richtige Militärmäntel, bloß ich hab so ‘nen schwarzen, wie eine Krähe seh ich aus.”
“Na, na!” Sucharew schaute mich verwundert an. Über sein derbes Bauerngesicht lief ein ungläubiges Lächeln. “Wollen wir tauschen? Klar!” Er war auf einmal bereit. “Hast ja auch recht, was bist du schon für‘n Soldat in so‘nem Zivilmantel? Siehst nach gar nichts aus. Mein Mantel ist zwar ein bisschen verbrannt, aber man kann ja ein Stück abschneiden. Kriegst von mir noch ‘ne graue Papacha dazu, ich hab eine zuviel.”
Wir tauschten und waren beide zufrieden mit unserem Geschäft. Als ich von ihm wegging, in der Uniform eines richtigen Rotarmisten und mit umgehängtem Gewehr, sagte er zu Waska, der gerade vorbeikam: “Den Mantel schick ich auf jeden Fall meiner Frau. Was soll er auch damit? Trifft ihn ‘ne Kugel, ist der Mantel sowieso hin, und meine Alte zu Hause, die wird sich freuen!”
In der Nacht trieb Fedja Syrzow auf dem ersten Bauernhof, an dem wir vorbeikamen, zwei wegekundige Führer auf. Er nahm gleich zwei, damit wir nicht auf einen falschen Weg gerieten und dem Feind in die Arme liefen. Die beiden Führer waren voneinander getrennt, und wenn an einem Kreuzweg der eine nach links wollte, fragten wir auch den anderen; und nur dann, wenn beide denselben Weg gehen wollten, schlugen wir diese Richtung ein.
Am Anfang marschierten wir durch den Wald zu zweien nebeneinander, alle Augenblicke stießen wir gegen unseren Vordermann. Fedja Syrzow hatte gleich beim Aufbruch befohlen, die Hufe der Pferde mit Lappen zu umwickeln. Als der Morgen dämmerte, schwenkten wir vom Wege in den Wald ab. Auf einer kleinen Lichtung wurde Rast gemacht. Bei Hellem weiterzumarschieren war gefährlich. In einem Himbeergebüsch an der Straße ließen wir einen Posten zurück. Um die Mittagszeit trug der Wind vom Westen her den Donner eines heftigen Artillerieduells herüber.
Schebalow ging an uns vorbei, er schien beunruhigt. Neben ihm her schritt Fedja mit federnden, kräftigen Schritten und redete hastig auf den Kommandeur ein. Bei Sucharew blieben sie stehen. Ich verstand, was sie sagten: “Aufklärung durch die Schlucht.”
“Beritten?”
“Nein, nicht beritten, das fällt zu sehr auf. Nimm drei von deinen Leuten, Sucharew.”
“Tschubuk”, sagte Schebalow leise, wie fragend, “du führst, nimm Schmakow dazu und noch einen anderen zuverlässigen Mann.”
“Nimm mich mit”, bat ich leise, “auf mich kannst du dich verlassen.”
“Nimm Simka Gortschkow”, schlug Sucharew vor.
“Mich, Tschubuk”, flüsterte ich ihm zu, “nimm mich doch mit… Auf mich kannst du dich bestimmt verlassen.”
“Na, schön”, sagte Tschubuk und nickte.
Beinahe hätte ich laut aufgejubelt, konnte es nicht fassen, dass man mich zu einer so wichtigen Sache mitnahm. Meinen Rucksack auf dem Rücken und das Gewehr umgehängt, stand ich da; ich war verwirrt, da mich Sucharew unverwandt und ungläubig anstarrte.
“Warum willst du den denn mitnehmen?” fragte er Tschubuk. “Der kann dir alles verderben – nimm doch Simka mit.”
“Simka?” fragte Tschubuk nachdenklich, zündete ein Streichholz an und rauchte.
“Der Idiot!” flüsterte ich, blass vor Zorn und Hass auf Sucharew. Wie kann der nur vor allen anderen so über mich reden? Wenn ich nicht mit darf, dann gehe ich auf eigene Faust… bis an das Dorf ran, da werde ich alles genau beobachten, und dann kehr ich zurück. Und wenn Sucharew auch platzt vor Wut!
Tschubuk rauchte, öffnete das Schloss seines Gewehrs, schob vier Patronen ins Magazin und eine in den Lauf. Dann sicherte er und sagte gleichgültig und gelassen, nicht ahnend, was seine Entscheidung für mich bedeutete.
“Simka? Ja, ich kann auch Simka mitnehmen”, meinte er und rückte seine Patronentasche zurecht. Als er aber sah, wie ich blass geworden war, lächelte er und sprach dann grob: “Warum denn Simka…? Er… aber der hier, der will doch so gern mit… wenn er unbedingt will. Komm, Junge!”
Ich stürzte gleich auf den Waldrand los.
“Stehen bleiben!” Hart fuhr Tschubuk mich an. “Spring nur nicht so los, wird für dich kein Spaziergang werden. Hast du ne Handgranate mit? Nein? Hier, nimm eine von mir. Nu warte doch, steck sie nicht mit dem Griff in die Tasche, wenn du sie rausziehst, reißt du am Abzugsring. Steck sie rein mit dem Kopf nach unten. Ja, so ist‘s richtig. Ach, du bist noch so n richtiger Hitzkopf!” fügte er, schon milder, hinzu.

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