15. Kapitel
Die Kämpfe bei Nowochoper dauerten schon einige Tage. Wir hatten alle Divisionsreserven eingesetzt, aber immer noch verteidigten die Kosaken zäh ihre Stellungen.
Am Morgen des vierten Tages trat Stille ein.
“Mal herhören, Jungens!” rief Schebalow, als er an die Schützenlinie unserer Abteilung herangeritten kam. Wir lagen ausgeschwärmt am Steilhang einer Höhe, von der der Wind den Schnee weggefegt hatte. “Heute Nachmittag wird angegriffen… Mit der ganzen Division hauen wir zu.
Sein Pferd schimmerte silbern vom Raureif und dampfte. Der lange, schwere Säbel funkelte in der Sonne, und wie eine leuchtende Blume blühte mitten in Eis und Schnee der rote Deckel seiner schwarzen Papacha.
“Männer”, rief er uns mit seiner hellen Stimme zu, “heute geht es ums Ganze. Wird ein schwerer Tag für uns. Aber heute hauen wir die Weißen raus, dass sie bis Bogutschar nicht zum Halten kommen. Strengt euch noch einmal an und blamiert mich alten Mann nicht vor der Division!”
“Was heißt hier alter Mann?” schrie mit schriller, krächzender Stimme Malygin, der auch hinzugekommen war. “Ich bin älter als du, aber ich fühl mich noch jung.”
“Ich und du, wir sind ein Paar abgelaufener Schuhe”, wiederholte Schebalow in seiner üblichen Art. “Boriska”, rief er mir freundlich zu, “wie alt bist du eigentlich?”
“Sechzehn, Genosse Schebalow”, antwortete ich stolz, “am 22. bin ich schon sechzehn geworden!”
“Schon!” ahmte Schebalow mir nach. “Schon… das ist gut! Ich bin schon siebenundvierzig. Ach Gott, Malygin, weißt du, was das heißt, sechzehn Jahre alt? Was der noch zu sehen kriegt, das sehen wir beide nicht mehr…”
“Nur noch aus dem Himmel”, krächzte Malygin und machte ein finsteres Gesicht. Fester schlang er seine zerrissene, tressengeschmückte Offizierskapuze um den Hals.
Schebalow gab seinem zitternden Pferd die Sporen und ritt weiter – an unseren Feuern entlang.
“Boriska, komm Tee trinken… Ich hab heißes Wasser, und du hast doch Zucker!” rief Waska Schmakow mir zu und nahm sein verrußtes Kochgeschirr vom Feuer.
“Zucker hab ich auch nicht, Waska.”
“Was hast du denn überhaupt?”
“Brot hab ich, und gefrorene Äpfel kannst du auch kriegen.”
“Na, dann komm her mit deinem Brot, sonst krieg ich überhaupt nichts zu essen! Nur reines Wasser.”
“Gorikow!” rief es von der anderen Seite. ‚Komm doch mal her.”
Ein paar Rotarmisten standen dort beieinander und stritten sich über irgend etwas. Ich ging hin.
“Sag mal”, begann Grischka Tscherkassow, ein dicker, rothaariger Kerl, den wir den Psalmensänger nannten, “passt auf, was der euch erzählt. Du hast doch Erdkunde gehabt…? Dann sag mal, was jetzt von hier am nächsten liegt…”
“In welcher Richtung denn? Nach Süden – da kommt Bogutschar.”
“Und dann?”
“Und dann… dann kommt Rostow. Aber das ist noch nicht alles. Noworossisk, Wladikawkas, Tiflis, ja, und dann, noch weiter, da liegt die Türkei. Und warum willst du das wissen?”
“Ist aber noch‘ne ganze Menge!” meinte Grischka und kratzte sich verlegen hinterm Ohr. “Da müssen wir ja noch das halbe Leben lang Soldat sein… Ich hab gehört, Rostow liegt schon am Meer, und da hab ich gedacht, dann wär Schluss!”
Grischka sah, wie die anderen lachten. Das machte ihn verwirrt, und er meinte: “Kinder, Kinder, da müssen wir aber noch lange Soldat sein!”
Die Gespräche verstummten.
Von hinten her kam auf der Straße ein Reiter angaloppiert. Schebalow ritt ihm im Trab entgegen. Noch zweimal feuerte das Geschütz auf der Flanke…
“Erste Kompanie, zu miiir!” rief Sucharew mit lang gezogener Stimme, hob die Hände und winkte.
*
Stunden vergingen… dann sprangen unsere Soldaten aus ihren Schneelöchern auf und gingen im knietiefen Schnee nach vorn. Gegen die feindlichen Maschinengewehre und Batterien, im Splitterhagel des Kartätschenfeuers rückten unsere gelichteten, ausgebluteten Reihen vor zum letzten, entscheidenden Schlag. Schon drangen die vordersten Teile in die Vorstadt ein, da traf mich eine Kugel in der rechten Seite.
Ich schwankte und fiel in den weichen, zertretenen Schnee. Macht nichts, dachte ich, macht gar nichts. Bin ja noch bei Bewusstsein, bin ja noch nicht tot … und wenn ich nicht tot bin, dann bleibe ich auch am Leben.
Ganz weit vorn liefen unsere Infanteristen. Wie schwarze Pünktchen sahen sie aus.
Macht nichts, dachte ich und griff in einen Strauch. Mein Kopf sank gegen seine Zweige. Bald kommen die Sanitäter und holen mich.
Es war still geworden. Nur irgendwo im Nachbarabschnitt wurde immer noch gekämpft. Dumpf dröhnten die Geschütze, eine einsame Leuchtkugel stieg empor und zog wie ein feuriggelber Komet über den Himmel.
Warmes Blut sickerte durch meine Bluse hindurch. – Wenn nun die Sanitäter nicht kommen und ich sterben muss? dachte ich und machte die Augen zu.
Eine große schwarze Krähe ließ sich auf dem Schnee nieder und hüpfte mit kleinen Schritten auf einen Haufen Pferdemist zu, der nicht weit von mir lag. Plötzlich drehte sie argwöhnisch den Kopf und schaute mich von der Seite an. Dann schlug sie mit den Flügeln und strich ab.
Krähen haben keine Angst vor Toten. Sterbe ich an Blutverlust, dann kommt sie angeflogen und setzt sich neben mich. Sie hat keine Angst.
Der Kopf wurde mir schwach und schaukelte – wie missbilligend – hin und her. Rechts von mir, von den verschneiten Höhen herüber, dröhnten dumpfer und dumpfer die Geschütze, stiegen heller und häufiger Leuchtkugeln empor.
Die Nacht stellte ihre Wachtposten auf – Tausende von Sternen. Ich sollte sie wohl noch einmal sehen.
Ich sann und sann. Einen Tschubuk hat es gegeben, Zigeunerchen hat einmal gelebt, und der Wiesel auch… Nun sind sie alle tot, und bald werde ich auch nicht mehr sein. Mir fiel ein, wie Zigeunerchen einmal gesagt hatte: “Seitdem habe ich das schöne Leben gesucht.” – “Und glaubst du, du wirst es finden?” hatte ich gefragt. Er hatte geantwortet: “Einer bringt das nicht fertig, aber alle zusammen finden es ganz gewiss… Darum ist ihre Sehnsucht so groß.”
Ja, so ist es! Alle zusammen, flüsterte ich und klammerte mich an diesen Gedanken; alle zusammen werden es ganz gewiss finden. – Die Augen fielen mir zu, und ich dachte lange an irgend etwas, was ich jetzt vergessen habe, aber es war etwas sehr, sehr Schönes. |
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