Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
http://nemesis.marxists.org

11. Kapitel

In derselben Nacht lief ich bei der ersten kurzen Rast davon. Meine Pistole hatte ich wieder und trug außerdem noch eine Handgranate in der Tasche, die ich auf dem Wagen des Hauptmanns gefunden hatte.
Die ganze Nacht hindurch marschierte ich nach Norden. Ich ruhte und rastete nicht, mied auch nicht die gefährlichen Landstraßen, sondern schritt stur immer geradeaus. Durch finsteres Buschwerk hindurch, durch öde Schluchten und über kleine Brücken hinweg führte mein Weg. Zu anderen Zeiten wäre ich vorsichtig gewesen, hätte einen Hinterhalt gefürchtet und alle gefährlichen Stellen umgangen; diesmal ging ich mitten hindurch. Etwas Schlimmeres als das, was ich in den letzten Stunden durchgemacht hatte, konnte es nicht geben.
An nichts wollte ich denken, mochte mich an nichts erinnern. Ich hatte nur einen Wunsch – so bald wie möglich wieder bei den Unseren zu sein.
Am nächsten Tag lag ich vom Mittag an bis in die tiefe Dämmerung hinein unter dichten Büschen in einem abgelegenen Tal und schlief. Ich war wie betäubt. In der Nacht stand ich auf und wanderte weiter. Beim Stab der Weißen hatte ich erfahren, wo ungefähr ich die Unsrigen zu suchen hatte. Sie konnten nicht mehr weit sein. Aber vergebens lief ich bis zur Mitternacht auf schmalen Pfaden und Feldwegen umher – ich wurde von niemandem angehalten.
Wie ein Vogel zuckt und zittert, so war die Nacht voller Leben, war voll von den vielstimmigen Rufen nächtlicher Vögel, von dem Quaken der Frösche und dem Summen der Mücken. Es rauschten die Blätter, das Riedgras und die Nachtviolen dufteten – wie ein Eulenschrei klang die Stimme dieser sternklaren, heißen Nacht.
Verzweiflung packte mich. Wo sollte ich hin, wo noch suchen? Unten an einem Hügel, auf dem saftiggrüne junge Eichen wuchsen, warf ich mich ermattet auf einem Acker hin, mitten in den duftenden wilden Klee. Lange Zeit lag ich so. Je mehr ich darüber nachdachte, um so klarer wurde mir, welchen Fehler ich begangen hatte. Wie ein Blutegel saugte sich dieser Gedanke an mir fest. Vor mir hatte Tschubuk ausgespuckt, vor mir und nicht vor dem Offizier! Tschubuk wusste von nichts, kannte noch nicht einmal die Papiere des Kadetten; ich hatte vergessen, ihm davon zu erzählen. Zuerst mochte er denken, ich sei auch ein Gefangener. Doch als er mich neben dem Haus sitzen sah, vor allem aber, als mir der Hauptmann die Hand auf die Schulter legte, da musste Tschubuk ja glauben, ich sei zu den Weißen übergelaufen. Nicht anders konnte er sich erklären, wieso dieser weiße Offizier so besorgt um mich war. Dass er in letzter Minute vor mir ausgespuckt hatte, das tat weh, brannte in meiner Brust wie Schwefelsäure. Und noch mehr quälte mich der Gedanke, dass ich es nicht wiedergutmachen, niemandem erklären konnte. Es gab keinen Tschubuk mehr, er würde nicht mehr wiederkommen – heute nicht, morgen nicht, nimmermehr…
Was ich getan hatte, während Tschubuk in der Hütte lag und schlief, das war nicht wiedergutzumachen. Ich war wütend über mich selbst, und diese Wut fraß sich tiefer und tiefer. Weit und breit keiner zu sehen. Niemandem konnte ich mich anvertrauen, mit niemandem konnte ich sprechen. Tiefe Stille herrschte ringsum. Nur die Vögel zwitscherten, und die Frösche quakten. Und zu der Wut über mich selbst kam der Hass auf diese verfluchte Stille, die einem das Herz abdrückte. Ich sprang auf, voller Reue und Schmerz, riss in sinnlosem Zorn die Handgranate aus der Tasche, entsicherte sie und warf sie in hohem Bogen mitten in das grüne Gras, in den dichten Klee und in die Glockenblumen.
Die Granate detonierte mit dumpfem Krachen – so hatte ich es gewollt. Von weither kam das übermütige Echo zurück und zerriss das Schweigen.
Weiter ging mein Weg, immer am Waldrand entlang.
“Hallo, wer da?” hörte ich schon bald darauf eine Stimme aus dem Gebüsch.
“Ich bin‘s”, antwortete ich, ohne stehenzubleiben.
“Wer ist das, ‚ich‘…? Ich schieße!”
“Dann schieß doch!” brüllte ich voller Wut und riss die Pistole heraus.
“Halt! Bist du wahnsinnig geworden?” hörte ich eine zweite Stimme. Ich kannte diese Stimme, sie war an jenen anderen gerichtet, den ich nicht sehen konnte.
“Waska, verflucht noch mal, halt ein! Das ist doch, glaub ich, unser – Boriska.”
So weit hatte ich meine Sinne noch beieinander, dass ich nicht gleich auf einen unserer Genossen, auf den Bergmann Malygin, losknallte.
“Aber wo kommst du denn her? Wir liegen gar nicht weit von hier. Sie haben uns losgeschickt, wir sollten sehen, wer da Handgranaten schmeißt. Das warst du doch nicht?”
“Doch, das war ich.”
“Was machst du denn für‘n Zirkus hier? Wirfst mit Handgranaten um dich und riskierst Kopf und Kragen. Bist wohl besoffen?”

*

Den Genossen erzählte ich alles, was geschehen war: wie ich unter die Weißen geriet, wie ich gefangen genommen wurde und wie unser guter Tschubuk sterben musste. Dass er aber zuletzt noch ausgespuckt hatte vor mir, das verschwieg ich. Nebenbei berichtete ich alles, was ich beim Stab von den Absichten der Weißen und von ihren Befehlen erfahren hatte. Ich erzählte, dass die Abteilungen von Shicharew und Schwarz uns einholen wollten.
“Ja”, meinte Schebalow und stützte sich auf seinen Säbel, der dunkel geworden war und lauter Kratzer bekommen hatte, “ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, das mit Tschubuk ist eine traurige Geschichte. Er war ein guter Rotarmist, war unser bester Soldat und Genosse. Ja… einen schweren Fehler hast du gemacht, Junge… einen schweren Fehler.” Schebalow seufzte. “Wir können einen Toten nicht aufwecken. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Aber du hast es ja nicht mit Absicht getan… und welcher Mensch macht nicht mal schwere Fehler.”
“Ja, das stimmt”, pflichteten ihm einige Stimmen bei.
“Aber für das, was du von Shicharew gehört hast, und dass du gelaufen bist, es uns zu melden – dafür geb ich dir die Hand, dafür dank ich dir!”

*

Wir wichen scharf nach rechts aus und umgingen auf langen Nachtmärschen die Gegend, wo Shicharew uns in eine Falle locken wollte. Wir mieden die großen Dörfer und zerschlugen unterwegs kleinere Trupps der Weißen. Nach einer Woche schließlich stießen die Abteilungen von Schebalow und Begitschew im Raum der Bahnstation Poworino zu den regulären Einheiten der Roten Armee.
In jenen Tagen kam ich zu den berittenen Aufklärern. Während einer Rast trat Fedja Syrzow auf mich zu und schlug mir auf die Schulter. Er hatte eine Hand wie ein Dreschflegel.
“Boris”, fragte er, “hast du schon mal auf einem Pferd gesessen?”
“Klar”, erwiderte ich, “auf dem Dorf bei meinem Onkel, da bin ich geritten, ohne Sattel. Warum fragst du?”
“Wenn du schon mal ohne Sattel geritten bist, dann kannst du im Sattel erst recht reiten. Willst du zu mir kommen, zu den Reitern?”
“Das will ich schon”, antwortete ich und schaute Fedja ungläubig an.
“Gut, du kommst für Burdjukow zu uns, kriegst auch sein Pferd.”
“Und der Grischka, was macht der?”
“Schebalow hat ihn rausgeschmissen”, antwortete Fedja zornig. “Hat ihn ganz aus der Abteilung rausgeschmissen. Wir haben Haussuchung gemacht bei einem Popen, und da hat sich der Grischka einen Ring an den Finger gesteckt… hinterher hat er vergessen, ihn wieder abzunehmen. Ist doch Mist, so‘n Ring, dafür kriegst du im Frieden höchstens ein paar Rubel. Du gehst also jetzt zu Schebalow und sprichst mit ihm! Der Hund hat ihn rausgeschmissen, hat sich auf die Seite vom Popen gestellt.”
Ich hätte Fedja am liebsten widersprochen und ihm gesagt, Schebalow wäre gewiss nicht auf die Seite des Popen getreten, und der Grischka Burdjukow hätte wohl auch nicht zufällig vergessen, den Ring wieder abzuziehen. Aber ich sagte mir, das würde dem Fedja nicht gefallen. Die Hauptsache war: Er wollte mich bei seinen Aufklärern, bei den Reitern haben. Deshalb hielt ich den Mund. Längst schon hatte ich zu seinem Reitertrupp gewollt.
Wir gingen zu Schebalow.
Er wollte mich nur ungern von der 1. Kompanie weglassen. Doch da kam mir unerwartet der finstere Malygin zu Hilfe.
“Lass ihn doch”, meinte er. “Er ist noch jung, der Bursche, und flink ist er auch. Er läuft rum und trauert dem Tschubuk nach. Die beiden waren immer zusammen, aber jetzt hat er niemanden.”
Schebalow ließ mich gehen. Aber halb im Scherz, halb im Ernst sagte er stirnrunzelnd zu Fedja: “Fjodor, ich sag dir eins… verdirb mir den Jungen nicht! Schau mich an dabei, es ist mein Ernst!”
Fedja erwiderte nichts, dafür zwinkerte er mir frech zu, als wollte er sagen: Wir sind ja schließlich keine Kinder mehr.
Nach einem Monat war ich schon ein richtiger Reiter geworden. Wie Fedja ging ich umher, setzte die Füße nach auswärts, blieb nicht mehr in den Sporen hängen und war in jeder freien Minute bei dem mageren Schecken, den ich von Burdjukow übernommen hatte.
Mit Fedja Syrzow wurde ich gut Freund, wenn er auch Tschubuk so gar nicht ähnlich war. Offen gesagt, ich fühlte mich bei Fedja freier als bei Tschubuk. Tschubuk war mehr wie ein Vater zu mir gewesen, nicht wie ein Genosse. Manchmal hatte er etwas an mir auszusetzen gehabt, hatte mich getadelt. Dann war ich wütend vor ihm stehen geblieben, ohne jedoch ein böses Wort über die Lippen zu kriegen. Mit Fedja dagegen, da konnte man schimpfen und sich wieder vertragen, mit ihm war es lustig – selbst in den schwersten Augenblicken. Nur hatte Fedja seine Launen. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, dann war er durch nichts davon abzubringen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur