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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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3. Kapitel

Ich ging zum Friedhof hinaus, wollte Abschied nehmen von Timka Schtukin. Er fuhr mit seinem Vater in die Ukraine zu einem Onkel, der irgendwo bei Shitomir einen kleinen Hof besaß.
Ihre Sachen waren schon gepackt, sein Vater war nach einem Wagen unterwegs. Timka schien sich zu freuen. Es hielt ihn nicht auf seinem Platz, er lief von einem Winkel zum anderen, als wolle er sich noch einmal das kleine Haus ansehen, in dem er groß geworden war.
Aber ich fühlte, Timka war nicht froh, er musste an sich halten, um nicht loszuheulen. Seine Vögel hatte er alle freigelassen.
“Alle… sie sind alle weg, fortgeflogen”, sagte er, “mein Rotkehlchen und die Meisen, die Stieglitze und der Zeisig auch… alle. Weißt du, Borka, den Zeisig hatte ich am liebsten von allen. Er war ganz zahm, als ich jetzt seinen Käfig aufmachte, wollte er gar nicht raus. Da hab ich ihn mit einem Stöckchen aufgescheucht, und da ist er auf die Pappel geflogen und hat gesungen und gesungen… Seinen Käfig, den hatte ich an einen Zweig gehängt, und dann hab ich mich unter den Baum gesetzt und noch mal über alles nachgedacht: wie wir hier gewohnt haben. An die Vögel hab ich gedacht, an den Friedhof, an unsere Schule und dass das nun alles vorbei ist und wir von hier fort müssen. Ich hab lang so gesessen, und als ich aufstand und den Käfig mitnehmen wollte, da saß mein Zeisig obendrauf und wollte nicht wieder weg. Da bin ich auf einmal so traurig geworden, Borka, dass ich… dass ich beinahe geweint hätte.”
“Ich glaub, Timka, du hast wirklich geweint!” Auch mich hatte es gepackt.
“Das hab ich auch”, bekannte Timka mit zitternder Stimme. “Ich hab mich hier so an alles gewöhnt und bin nun so traurig, dass wir raus müssen! Weißt du, ich bin sogar beim Starosten, bei Sinjugin, gewesen und hab ihm gesagt, er möchte uns doch hier lassen! Vater weiß nicht, dass ich dort war. Aber das macht der Sinjugin ja nicht.” Timka seufzte tief auf und wandte sich ab. “Es geht nicht! Dem ist das ja egal, der hat ja sein Haus, und was für eins!”
Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern; rasch lief er ins Zimmer nebenan. Als ich einen Augenblick später zu ihm trat, hatte er das Gesicht in ein Kissen gepresst und weinte bitterlich.

*

Auf dem Bahnhof herrschte starkes Gedränge, alles stürzte sich auf den einlaufenden Zug. Timka und sein Vater waren verschwunden.
Sie werden Timka zerquetschen, dachte ich besorgt. Wo wollen die nur alle hin?
Der Bahnsteig war brechendvoll. Soldaten, Offiziere, Matrosen. Die sind daran gewöhnt, dachte ich, das ist ihr Dienst, aber wo wollen nur die anderen alle hin? Die Menschen hatten sich zwischen Bergen von Körben und Koffern niedergelassen. Ganze Familien waren unterwegs. Die Männer machten ein zorniges Gesicht; vom vielen Herumlaufen und von der Aufregung stand ihnen der Schweiß auf der Stirn. Frauen waren da, mit feinen Zügen, ihren Augen sah man die Müdigkeit an. Alte Muttchen liefen herum mit komischen Hüten auf dem Kopf, eigensinnig, verwirrt durch das Gewühl.
Auf einem riesigen Koffer, links von mir, saß eine alte Frau; mit der einen Hand klammerte sie sich an ein Bett, das mit Riemen zusammengebunden war, in der anderen hielt sie einen Käfig mit einem Papagei. Sie glich den alten hochwohlgeborenen Gräfinnen, wie man sie im Kino sah.
Sie rief einem jungen Marineoffizier etwas zu, der sich mühte, einen schweren, eisenbeschlagenen Koffer vom Bahnsteig hinunterzuzerren.
“Lassen Sie doch!” antwortete er. “Wo soll denn hier ein Gepäckträger herkommen? Verdammt noch mal…! Hallo!” rief er einem vorbeigehenden Soldaten zu und setzte den Koffer ab. “He, du… ! Los, hilf mir mal die Sachen in den Wagen tragen!”
Der so unerwartet angesprochene Soldat gehorchte dem befehlenden Ton, stand stramm und legte die Hände an die Hosennaht. Doch als schäme er sich seiner allzu großen Dienstbeflissenheit, nahm er unter den spöttischen Blicken seiner Kameraden wieder seine gewöhnliche Haltung ein. Langsam schob er eine Hand hinter den Riemen und schaute mit leicht zusammengekniffenen Augen den Offizier verschmitzt an.
“Ich rede mit dir!” schrie ihn der Offizier an. “Bist wohl taub, wie?”
“Gar nicht, ich bin nicht taub, Herr Leutnant, aber Ihre Sachen brauch ich nicht zu schleppen!”
Dann drehte er sich um und schritt ohne Eile den Zug entlang.
“Grégoire…!” schrie die Alte und verdrehte die farblosen Augen. “Grégoire, geh und hol einen Gendarm, der soll diesen Flegel festnehmen und vors Gericht bringen!”
Der Offizier winkte hoffnungslos ab. Dann packte ihn die Wut, und er entgegnete in scharfem Ton: “Wollen Sie noch etwas? Sie haben ja keine Ahnung! Einen Gendarm! Vielleicht fällt einer vom Himmel? Bleiben Sie lieber sitzen, und seien Sie still!”
Plötzlich schaute Timka aus einem Abteilfenster heraus. “He! Borka, wir sind hier!”
“Wie seid ihr untergekommen?”
“Och… ganz gut. Vater sitzt auf unseren Sachen, und mich hat ein Matrose auf seine Pritsche raufgelassen. Ich lieg bei ihm am Fußende. ‚Bleib nur ruhig liegen‘, hat er gesagt, ‚sonst schmeiß ich dich wieder runter!‘”
Aufgeschreckt durch das zweite Signal, lärmte die Menge noch stärker. Es herrschte ein wildes Durcheinander: Hier wurde wüst geflucht, nebenan französisch gesprochen, es duftete nach Parfüm und stank nach Schweiß, die Klänge einer Ziehharmonika verschmolzen mit lautem Weinen – eins ging ins andere über… Plötzlich war über allem der Pfiff der Lokomotive.
“Leb wohl, Timka!”
“Leb wohl, Borka!” rief er zurück, schaute noch einmal heraus und winkte.
Der Zug verschwand und mit ihm das ganze bunt zusammengewürfelte Volk aus allen Himmelsrichtungen. Der Bahnhof aber, so schien es, war nicht leerer geworden.
“Puh! Was ist das für‘n Gedränge!” hörte ich eine Stimme neben mir. “Alles will in den Süden, nur nach Süden. Nach Rostow, an den Don. Nach Norden, da fahren nur Soldaten hin und Dienstbotenvolk, aber nach Süden, dahin drängen sich die besseren Herren.”
“Die fahren wohl zur Kur?”
“Natürlich, zur Kur…”, antwortete er, und seine Stimme war voller Hohn. “Die wollen sich von der Angst kurieren lassen, die Herren leiden heute alle an der Angst!”
Ich ging zum Ausgang, vorbei an Kisten, Kästen und Säcken, an Menschen, die ihren Tee tranken und Sonnenblumenkerne kauten, an schlafenden, lachenden und schimpfenden Menschen ging ich vorbei.
Auf einmal tauchte Semjon Jakowlewitsch auf, der lahme Zeitungsverkäufer. Mit einer für sein Holzbein erstaunlichen Geschwindigkeit stelzte er durch die Menge und schrie mit seiner dünnen, kreischenden Stimme:
“Neue Zeitungen…! ‚Das russische Wort‘…! Sensationelle Nachrichten über das Auftreten der Bolschewiki! Regierung jagt bolschewistische Demonstration auseinander! Tote und Verwundete! Vergebliche Suche nach dem Bolschewikenführer Lenin…!”
Man riss ihm die Zeitungen aus der Hand und ließ sich gar nicht erst das Wechselgeld herausgeben.
Auf dem Heimweg hielt ich mich rechts von der Landstraße und schlug einen Pfad ein, der mitten durch ein Feld mit reifem Roggen führte.
Als ich in die Schlucht hinunterstieg, sah ich vom anderen Hang her einen Mann mir entgegenkommen, der unter einer schweren Last gebückt ging. Ich erkannte ihn sofort: es war Dohle.
“Boris”, rief er mir zu, “was machst du denn hier? Kommst du vom Bahnhof?”
“Ja, vom Bahnhof. Und wo wollen Sie hin? Doch nicht auch wegfahren? Dann kommen Sie zu spät, Semjon Iwanowitsch, der Zug ist gerade weg.”
Der Lehrer blieb stehen, ließ die schwere Last ins Gras fallen und legte sich daneben. Er machte ein betrübtes Gesicht und sprach: “Auch das noch! Was machen wir jetzt hiermit?” Er stieß mit dem Fuß an den dickverschnürten Packen.
“Was ist denn da drin?” wollte ich wissen.
“Alles Mögliche…Literatur…und sonst noch was.”
“Na, dann geben Sie‘s mal her! Zurück helfe ich Ihnen tragen. Sie lassen das Zeug im Klub und können morgen fahren.”
Dohle schüttelte seinen schwarzen Bart, der wie immer voller Machorkakrümel hing.
“Mit dem Klub, das geht nicht, mein Junge. Es ist aus mit dem Klub, wir haben keinen mehr.”
“Was? Wir haben keinen Klub mehr?” Fast wäre ich aufgesprungen. “Ist er abgebrannt, wie? Ich bin doch noch heute morgen dran vorbeigegangen…
“Nein, abgebrannt ist er nicht, mein Lieber, geschlossen haben sie ihn. Nur gut, dass uns unsere Leute rechtzeitig warnen konnten. Da machen sie jetzt Haussuchung.”
Ich konnte es nicht fassen.
“Semjon Iwanowitsch, das versteh ich nicht. Wer kann denn einfach unseren Klub zumachen? Haben wir denn schon wieder das alte Regime…? Jetzt haben wir doch die Freiheit. Die Sozialrevolutionäre haben einen Klub und die Menschewiki und die Kadetten und die Anarchisten auch. Die sind immer besoffen und haben die Fenster mit Brettern zugenagelt, aber denen tut keiner was. Bei uns aber ist immer alles ruhig, und jetzt haben sie uns den Klub auf einmal zugemacht!”
“Freiheit!” Dohle lächelte. “Freiheit für wen, Junge, und für wen nicht? Doch was soll ich nur mit dem Zeug hier anfangen? Wir müssen es bis morgen verstecken. Zurück damit in die Stadt, das geht nicht, am Ende nehmen sie‘s mir noch ab.”
“Wir verstecken es, Semjon Iwanowitsch! Ich weiß ‘ne Stelle, hier ganz in der Nähe. Wenn wir ein Stückchen in der Schlucht weitergehen, kommen wir an einen Teich. Daneben ist eine Grube, da haben sie früher Lehm gestochen für Ziegel. In den Wänden sind lauter Löcher; darin kann man nicht nur so ‘nen Packen verstecken, da gehen Pferd und Wagen rein. Bloß Schlangen soll‘s da geben, und ich bin barfuss. Aber Sie mit Ihren Stiefeln können ruhig rein. Und wenn sie mal beißen, das ist nicht so schlimm, davon stirbt man nicht, da wird‘s einem nur schwindlig.”
Meine letzte Bemerkung gefiel Dohle nicht besonders gut, und er fragte, ob es nicht in der Nähe noch ein anderes Versteck gebe, ohne Schlangen.
“Nein, ein anderes gibt es nicht. Hier laufen auch überall Leute rum: Hirten ziehen durch mit ihrer Herde, die Leute arbeiten auf ihrem Kartoffelacker, und in den Gärten, da strolchen immer die Jungens herum.”
Dohle nahm den Packen auf den Rücken, und wir schritten den Bach entlang.
Wir versteckten das Bündel an einer sicheren Stelle.
“Und jetzt lauf in die Stadt”, sagte Dohle. “Ich hol die Sachen morgen selbst ab. Wenn du einen vom Komitee siehst, dann sag ihm, ich wäre noch nicht weggefahren. Halt! Noch eins…” Er hielt mich an und schaute mir in die Augen. “Noch eins! Junge! Nicht drüber reden…” Und er legte mir den Finger auf den Mund.
“Aber was glauben Sie denn, Semjon Iwanowitsch!” antwortete ich und verzog verächtlich das Gesicht. “Was denken Sie denn von mir! Meinen Sie, ich würde auch nur das geringste… irgendwann? Das habe ich schon in der Schule nicht getan, nicht mal beim Spielen, aber jetzt ist es doch Ernst, und da sagen Sie noch…”
Dohle ließ mich nicht zu Ende reden, klopfte mir mit seiner mageren Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: “Schon gut…nun geh…! Verschwörer du!”

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