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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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3. Kapitel

Beim ersten Haus wurde ich angerufen: “Wer kommt denn da an, verflucht noch mal? Heda, Bursche! Stehen bleiben, du Hornochse!”
Aus dem Schatten am Hause trat eine Gestalt mit einem Gewehr heraus und kam auf mich zu.
“Wohin? Wo kommst du her?” fragte der Posten und drehte mich um, dass mir das Mondlicht ins Gesicht fiel.
“Ich will zu euch…”‚ antwortete ich schwer atmend. “Ihr seid doch Genossen…
Er unterbrach mich: “Wir sind Genossen, aber was bist du?”
“Ich auch…”, begann ich stockend und reichte ihm wortlos meine Tasche hin, da ich keine Luft mehr bekam und nicht weitersprechen konnte.
“Du auch?” fragte der Posten schon etwas zugänglicher, aber immer noch misstrauisch. “Komm mit zum Kommandeur, wenn du auch einer bist!”
Trotz der späten Stunde schlief das Dorf noch nicht. Pferde wieherten, Tore kreischten in ihren Angeln, Bauernwagen fuhren hinaus, und dazwischen brüllte jemand: “Do-ku-kin…! Wo bist du denn, verdammt noch mal?”
“Was machst du nur für‘n Krach, Waska?” fragte mein Begleiter streng, als wir dorthin kamen.
“Ich such den Mischka”, erwiderte der Angesprochene wütend. “Er hat den Zucker für mich mitempfangen, und jetzt sagen sie, er soll mit einem Posten zu unserem Transportzug vorausgeschickt werden.”
“Dann gibt er dir‘n eben morgen.
“Gibt ihn morgen! Da kann ich lange warten. Morgen früh trinkt er seinen Tee und wirft den ganzen Zucker auf einmal rein, ist doch verrückt auf Süßes!”
Jetzt erst hatte er mich erblickt und fragte neugierig in ganz anderem Ton: “Wen hast du denn da geschnappt, Tschubuk? Bringst ihn zum Stab, ja? Na, dann man zu! Da werden sie ihm schon was zeigen. Lumpenpack…”‚ brüllte er mich plötzlich an und machte eine Bewegung, als wolle er mit dem Kolben auf mich loshauen.
Mein Begleiter jedoch stieß ihn zurück und sagte ärgerlich: “Hau bloß ab … Das geht dich gar nichts an. Man soll einen Menschen nicht zu früh anbellen. Bist wie ein richtiger Dorfköter, weiß Gott!”
Neben uns hörte ich Sporen klirren. Ein Mann mit schwarzer Papacha, Sporen an den Stiefeln, den blitzenden Reitersäbel an der Seite, die Pistole im hölzernen Futteral und die Nagaika über den Arm gehängt, führte ein Pferd aus dem Tor heraus.
Neben ihm her schritt ein Trompeter.
“Antreten!” befahl der Mann mit der Papacha und setzte einen Fuß schon in den Bügel.
Weich und zärtlich klang die Trompete.
“Schebalow”, rief mein Begleiter, “einen Augenblick! Hier bringe ich dir jemanden.”
“Wozu?” fragte er und nahm den Fuß nicht aus dem Bügel. “Was ist das für ein Mann?”
“Der gehört zu uns, sagt er, und Papiere hat er auch.”
“Hab keine Zeit”, antwortete der Kommandeur und schwang sich in den Sattel. “Du kannst doch auch lesen, Tschubuk, prüf das mal nach… Wenn er zu uns gehört, dann lass ihn in Gottes Namen laufen.”
“Ich geh nicht mehr weg”, fiel ich ein, da ich fürchtete, schon wieder allein zu bleiben. “Ich bin zwei Tage lang allein durch den Wald gelaufen. Ich wollte zu euch, und bei euch will ich auch bleiben.”
“Bei uns?” fragte erstaunt der Mann mit der schwarzen Papacha. “Vielleicht können wir dich überhaupt nicht brauchen!”
“Ihr könnt mich brauchen”, erklärte ich dickköpfig. “Wo soll ich denn allein hin?”
“Da hat er recht! Wenn das stimmt, was er sagt, wo soll er denn allein hin?” mischte sich mein Begleiter ein. “Wer jetzt hier allein rumläuft, der geht vor die Hunde. Schebalow, stoß ihn nicht vor den Kopf, hilf ihm lieber. Hat er gelogen, dann werden wir ja sehen; sagt er aber die Wahrheit und gehört wirklich zu uns, dann kannst du ihn nicht zurückstoßen. Komm, sitz ab von deinem Gaul, kommst schon noch zur rechten Zeit.”
“Tschubuk!” fuhr ihn der Kommandeur an. “Wie redest du denn? Bin ich Kommandeur oder nicht? Bin ich Kommandeur, habe ich gefragt?”
“Das bist du!” gab Tschubuk ruhig zu.
“Dann brauchst du mir auch nicht zu sagen, ich soll absitzen.
Er sprang vom Pferd, warf die Zügel über den Zaun und ging säbelklirrend ins Haus.
Dort erst, beim Schein des Talglichts, konnte ich ihn mir richtig ansehen. Er trug keinen Bart, Pockennarben bedeckten sein hageres Gesicht. Seine weißblonden Augenbrauen wuchsen an der Nasenwurzel zusammen, darunter blickte mich ein Paar gutmütiger Augen an, die er ständig zusammenkniff, wohl um seinem Gesicht die gebührende Strenge zu verleihen. An der Art, wie er lange meinen Ausweis studierte und dabei die Lippen bewegte, erkannte ich, dass er nicht besonders gut lesen konnte. Als er fertig war, reichte er Tschubuk das Papier hin und sagte zweifelnd: “Wenn das hier nicht gefälscht ist, dann ist es echt. Was meinst du, Tschubuk?”
“Stimmt!” meinte der gelassen und stopfte sich seine krumme Pfeife mit Machorka.
“Und wie bist du hier hergekommen?” fragte der Kommandeur.
Ich fing an zu erzählen, hitzig und aufgeregt, weil ich fürchtete, sie würden mir nicht glauben. Aber anscheinend glaubten sie mir doch, denn als ich geendet hatte, machte der Kommandeur nicht mehr so ein strenges Gesicht, sondern sagte gutmütig zu Tschubuk: “Ja, wenn das nicht gelogen ist, dann hat unser Kerlchen die Wahrheit gesagt! Was meinst du dazu, Tschubuk?”
“Jawohl!” bestätigte Tschubuk und klopfte die Asche seiner Pfeife an der Stiefelsohle ab.
“Na, und was wollen wir mit ihm machen?”
“Er kommt in die erste Kompanie; der Sucharew soll ihm das Gewehr von Paschka geben, der gefallen ist”, empfahl Tschubuk.
Der Kommandeur überlegte, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und befahl ernsten Gesichts: “Bring ihn in die erste Kompanie, Tschubuk, und sag dem Sucharew, er soll ihm ein Gewehr geben, das Gewehr von Paschka, der gefallen ist, und auch Patronen, soviel ihm zustehen. Dann soll er diesen Mann in die Liste unserer revolutionären Abteilung eintragen.”
Und wieder klirrten Sporen und Säbel, der Kommandeur riss die Tür auf und trat langsam zu seinem Pferde.
“Komm mit”, sagte Tschubuk und klopfte mir plötzlich auf die Schulter.
Wieder klang die Trompete in weichen Tönen, lauter wieherten die Pferde, stärker knarrten die Wagen. Ich war außer mir vor Glück und lachte vor Freude, als ich hinüberging zu meinen neuen Genossen.
Wir waren die ganze Nacht unterwegs. Gegen Morgen wurden wir auf irgendeiner kleinen Bahnstation in einen Militärzug verladen, und gegen Abend wurde eine verwahrlost aussehende Lokomotive vorgespannt. Dann rollten wir nach Süden, den Einheiten der Roten Armee und den Arbeiterwehren zu helfen, die im Kampf standen mit den Haidamaken und Krasnow-Truppen und mit den Deutschen, die den Donbass erobert hatten.
Unsere Abteilung trug den stolzen Namen “Sondereinheit des revolutionären Proletariats”. Sie war nicht groß, hatte nur an die einhundertfünfzig Mann. Wir waren Infanteristen, mit einem berittenen Aufklärungszug von fünfzehn Mann unter dem Kommando von Fedja Syrzow. Kommandeur unserer gesamten Abteilung war Schebalow, ein ehemaliger Schuster. Seine Finger waren vom Pechdraht zerschnitten, und von seinen Händen hatte er die schwarze Farbe noch nicht runterbekommen. Er hatte so seine Eigenarten. Die Soldaten achteten ihn, lächelten aber über manche seiner Schwächen. Eine davon war seine Vorliebe für ein eindrucksvolles Äußeres. Sein Pferd hatte er mit roten Bändern geschmückt, seine gebogenen Sporen waren über die Maßen lang und endeten in einem spitzen Dorn. So etwas hatte ich nur auf alten Ritterbildern gesehen; vielleicht hatte er sie sogar in einem Museum entdeckt. Sein langer vernickelter Säbel reichte bis zur Erde hinab, und in das hölzerne Futteral seiner Pistole war ein Kupferplättchen eingelassen. Darauf standen eingraviert die Worte: “Ich sterbe, aber du, Satan, stirbst mit mir!” Man erzählte sich, er habe zu Hause eine Frau und drei Kinder. Sein Ältester arbeitete schon. Nach dem Februar war er von der Front desertiert und hatte zu Hause wieder Schuhe geflickt. Als die Junker anfingen, den Kreml zu beschießen, hatte er seinen besten Anzug angezogen, dazu fremde, eben erst auf Bestellung angefertigte Lederstiefel, hatte sich auf dem Arbat bei der Arbeiterwehr ein Gewehr besorgt und sich dann, wie er sagte, “für ewige Zeiten in die Revolution gestürzt”.

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