Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
http://nemesis.marxists.org

5. Kapitel

In der Nacht kam mein Zug in Nishni Nowgorod an. Als ich aus dem Bahnhof trat, stand ich auf einem großen Platz. Im Schein seiner Laternen funkelten Schulterstücke, blitzten Bajonette auf nagelneuen Gewehren.
Auf einer Tribüne stand ein Mann mit rotem Bart und hielt vor den Soldaten eine Rede. Die Verteidigung des Vaterlandes sei ihre Pflicht, sagte er und versuchte sie davon zu überzeugen, dass die “verfluchten deutschen Imperialisten” unvermeidlich den Krieg bald verlieren würden.
Alle Augenblicke wandte er sich an einen alten, grauhaarigen Oberst neben ihm, der jedes Mal zustimmend mit seinem runden Kahlkopf nickte, als wolle er die Worte des rothaarigen Sprechers bestätigen.
Der Sprecher machte einen völlig erschöpften Eindruck. Er schlug sich mit gespreizten Fingern an die Brust und fuchtelte bald mit einem Arm, bald mit beiden in der Luft herum. Er appellierte an das Bewusstsein der Soldaten, an ihr Gewissen. Als ihm schien, er habe nun durch die Gewalt seiner Rede die graue Masse bis ins Innerste aufgewühlt, holte er noch einmal mit der Hand aus und hätte dabei ums Haar dem erschreckt zurückweichenden Obersten an den Hals geschlagen. Dann stimmte er laut die Marseillaise an. Ein paar Dutzend Stimmen fielen ein, die Kolonnen der Soldaten aber schwiegen.
Da brach der Rothaarige mitten im Liede ab, warf seine Mütze auf den Boden und ging von der Tribüne hinunter.
Der alte Oberst aber stand noch eine Weile oben, er machte eine hilflose Handbewegung und stieg dann – die Hand am Geländer – gesenkten Hauptes vorsichtig hinab.
Das Marschbataillon sollte an die deutsche Front abrücken.
Singend zogen die Soldaten zum Bahnhof, man warf ihnen Blumen und Geschenke zu, und es war alles in bester Ordnung. Auf dem Bahnhof stellte sich aber heraus, dass nicht genügend heißes Wasser zum Teekochen da war, und in einigen Waggons fehlten die hölzernen Schlafpritschen. Daraufhin riefen die Soldaten sofort ein Meeting zusammen.
Mit einem Male waren Redner da, die die Bataillonsführung nicht bestellt hatte; mit dem fehlenden Teewasser ging es los und endete unerwartet mit der Entschließung: “Es ist genug! Wir standen an der Front, und zu Hause ging unser Hof vor die Hunde, das Gutsbesitzerland ist immer noch nicht aufgeteilt, wir wollen nicht mehr an die Front!”
Feuer loderten auf, es roch nach dem Harz zersplitternder Bretter, nach Machorka und getrocknetem Fisch, der in Stapeln am Ufer lag, und nach dem frischen Wind, der von der Wolga kam.
Vorbei an den Feuern, den Gewehren, den aufgeregten Soldaten, an laut schreienden Rednern, an wütenden Offizieren, die völlig den Kopf verloren hatten, schritt ich, aufgewühlt und voller Freude, in das nächtliche Dunkel der Straßen am Bahnhof.
Der erste, den ich nach dem Weg nach Sormowo fragte, gab mir erstaunt zur Antwort: “Nach Sormowo führt kein Weg von hier, mein Lieber. Da musst du mit dem Dampfer fahren. Zahlst einen halben Rubel und steigst ein; aber vor morgen früh fährt kein Dampfer mehr.”
Ich strich noch eine Weile in den Straßen umher und kroch dann in eine leere Kiste, wie sie in ganzen Stapeln an einem Zaun herumlagen. Hier wollte ich warten, bis es hell würde; bald war ich eingeschlafen.
Durch ein Lied wurde ich wach: Arbeiter waren es, die mit vereinten Kräften irgendeine schwere Last hochwuchteten.
“Hallo, Kinder: zu-u-gleich!”
Ein Vorsänger führte sie mit einem etwas heiseren, aber angenehmen Tenor.
Plötzlich fielen die übrigen mit schneidenden und ebenso heiseren Stimmen ein: “Noch mal, Kinder: zu-u-gleich!”
Irgend etwas geriet in Bewegung, krachte und kreischte.
“Den Anfang haben wir gemacht,          
nur das Pack nicht umgebracht.”
Ich steckte den Kopf aus meiner Kiste. Wie Ameisen um ein Stück Roggenbrot, so drängten sich von allen Seiten die Hafenarbeiter um eine rostige Winde und schoben sie über schräge Schienen auf eine Rampe. Und wieder begann der unsichtbare Vorsänger:
“Zu-u-gleich… verjagt ist nun der Nikolai,             
zu-u-gleich… man sagt, dass das zuwenig sei!”
Und wieder kreischte es.
“Schlägt das Volk noch einmal zu,         
hat es auch vor Saschka Ruh!”
Es rasselte und krachte. Die Rampe ächzte, als die Winde schwer aufsetzte. Das Lied brach ab, ich hörte, wie die Arbeiter sprachen und fluchten.
Das war ein Lied! dachte ich. Wer mag dieser Saschka sein? Bestimmt der Kerenski…! Für so ein Lied würde man bei uns in Arsamas bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen, hier aber stand einer von der Miliz dabei und tat so, als hätte er nichts gehört.
Ein kleiner schmutziger Dampfer hatte schon lange am Ufer angelegt. Einen halben Rubel besaß ich nicht, und neben der schmalen Schiffstreppe standen ein rothaariger Kontrolleur und ein Matrose mit einem Gewehr.
Ich kaute an meinen Nägeln und betrachtete verzagt das ölige Wasser, das gurgelnd zwischen der Ufermauer und der Bordwand des Schiffes hindurchfloss. Melonenschalen, Holzspäne, zerrissene Zeitungen und anderer Kram trieben auf dem Wasser umher.
Vielleicht gehe ich zum Kontrolleur, überlegte ich. Ich lüg ihm irgendwas vor: Ich wär ein Waisenkind und wollte jetzt zu meiner kranken Großmutter. Lassen Sie mich doch bitte mitfahren!
In dem trüben Wasser spiegelten sich mein braungebranntes Gesicht, mein Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar und die Schülerbluse mit ihren glänzenden Knöpfen.
Seufzend entschloss ich mich, die Geschichte mit dem Waisenkind gar nicht erst anzubringen, da Waisenkinder mit solch gesundem Aussehen wenig überzeugen können.
In Büchern hatte ich gelesen, dass sich junge Leute, denen wie mir das Geld für die Fahrkarte fehlte, auf einem Dampfer als Schiffsjunge anstellen ließen. Aber das konnte ich hier nicht machen; ich wollte ja nur aufs andere Ufer hinüber.
“Was stehst du hier rum? Geh mal weg!” hörte ich eine dreiste Stimme und sah einen kleinen, pockennarbigen Burschen neben mir stehen.
Der Junge warf nachlässig einen Packen irgendwelcher Flugblätter auf eine Kiste und holte blitzschnell einen dicken Zigarettenstummel unter meinen Füßen hervor.
“Bist ja schön blöd!” sagte er herablassend zu mir. “So ‘ne Kippe hast du nicht gesehen!”
Ich antwortete, auf Kippen sei ich nicht scharf, weil ich nicht rauchte, und fragte ihn, was er hier suche.
“Wer? Ich?” Dabei spuckte er so geschickt aus, dass er mitten auf ein Holzscheit traf, das gerade vorbeischwamm. “Ich verteile Flugblätter von unserem Komitee.”
“Von welchem Komitee?”
“Na… vom Arbeiterkomitee natürlich. Du kannst mir dabei helfen, wenn du willst.”
“Ja, aber ich muss mit dem Dampfer nach Sormowo rüber, hab bloß keine Fahrkarte”, antwortete ich.
“Was willst du denn in Sormowo?”
“Ich will zu meinem Onkel, der arbeitet da in der Fabrik.”
Vorwurfsvoll fragte er: “Wie kannst du denn zu deinem Onkel wollen, wenn du nicht mal ‘nen halben Rubel hast?”
“‚Halben Rubel‘ ist gut, aber ich bin doch von zu Hause weggelaufen”, brach es ehrlich aus mir heraus.
“Weggelaufen?” Misstrauisch glitten seine Blicke an mir hinab.
Er zog die Nase kraus und meinte mitfühlend: “Und wenn du nach Hause kommst, haut dir dein Vater die Jacke voll.”
“Ich geh nicht mehr nach Hause, und einen Vater hab ich auch nicht mehr. Den haben sie unterm Zaren umgebracht. Mein Vater war Bolschewik.”
“Meiner ist auch Bolschewik”, antwortete er hastig, “bloß der lebt noch. Mein Vater, der ist der Erste von ganz Sormowo, so ‘n Mann ist das! Du brauchst nur einen zu fragen: ‚Wo wohnt hier Pawel Kortschagin?‘, dann sagt dir jeder: ‚Der ist im Komitee… In Waricha, in der Fabrik von Ter-Akopow.‘ Ja, so‘n Mann ist mein Vater!”
Dann warf er seinen Zigarettenstummel weg, zog die Hose hoch, die ihm hinuntergerutscht war, und tauchte irgendwo in der Menge unter. Die Flugblätter hatte er neben mir liegenlassen.
Ich nahm eins und las.
Darauf stand, Kerenski sei ein Verräter und wolle mit dem konterrevolutionären General Kornilow verhandeln. Das Flugblatt forderte offen dazu auf, die Provisorische Regierung zu stürzen und die Sowjetmacht zu errichten.
Der scharfe Ton des Flugblatts machte auf mich einen noch stärkeren Eindruck als das freche Lied der Arbeiter. Atemlos kam der Junge zwischen den Heringsfässern hervor und rief mir noch im Laufen zu: “Ich hab keinen gekriegt!”
“Was hast du nicht?” Ich hatte ihn nicht verstanden. “Ich hab keinen halben Rubel gekriegt. Simon Kotylkin von uns, der arbeitet hier, aber der hat auch keinen, hat er gesagt.”
“Aber was willst du denn mit dem Geld?”
“Das wollte ich dir geben!” Er sah mich ganz erstaunt an. “Damit du dir ‘ne Fahrkarte kaufen kannst. In Sormowo kriegst du‘s von deinem Onkel, und dann kannst du‘s mir zurückgeben; ich bin nämlich auch aus Sormowo.”
Er drehte sich um und war schon wieder im Gewühl verschwunden, kehrte aber gleich zurück.
“Alles in Ordnung! Hier hast du meine Flugblätter, und damit gehst du einfach auf den Dampfer. Siehst du da den Matrosen mit dem Gewehr? Das ist Paschka Surkow. Wenn du über den Steg gehst, dann sagst du ihm: ‚Flugblätter vom Komitee‘, aber sprich nicht mit dem Kontrolleur. Geh einfach durch. Der Matrose hilft dir, wenn was passiert.”
“Ja, und du?”
“Ach, ich komm schon rauf, bin ja nicht fremd hier.”
Der altersschwache kleine Dampfer, auf dem lauter Apfelschalen und zertretene Äpfel herumlagen, hatte schon lange das Ufer verlassen, von meinem Kameraden war aber immer noch nichts zu sehen.

*

Ich hatte mich auf einem Haufen rostiger Ankerketten niedergelassen und atmete tief die kühle Luft ein, die nach Äpfeln, 01 und Fischen roch. Neugierig betrachtete ich die anderen Passagiere. Neben mir saß einer, der sah halb wie ein Diakon, halb wie ein Mönch aus. Er sprach kein Wort und wollte wohl so wenig wie möglich auffallen. Verstohlen blickte er sich nach allen Seiten um und kaute an einem Stück Melone, wobei er die Kerne sorgfältig in die Hand spuckte.
Außer diesem Mönch und einigen Frauen mit Milchkannen fuhren noch zwei Offiziere mit, etwas abseits standen vier Milizionäre neben einem Mann in Zivil mit roter Armbinde. Alle anderen waren Arbeiter. Sie saßen und standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich laut, stritten miteinander und fluchten, lachten oder lasen laut aus der Zeitung vor. Es sah aus, als seien sie alle miteinander bekannt, weil sie sich ohne große Umstände in die Streitigkeiten anderer einmischten; Bemerkungen und Scherzworte flogen hinüber und herüber.
Vor uns erschien Sormowo. Es war ein windstiller Morgen. Der Rauch der Fabriken hatte sich zu dichten Wolken zusammengeballt; vom Schiff sah es aus, als streckten die riesigen Schornsteine weithin ihre schwarzen Fühler aus.
“He, du!” vernahm ich hinter mir die bekannte Stimme des pockennarbigen Jungen.
Ich war froh, dass er wieder da war, denn ich wusste nicht, was ich mit den Flugblättern anfangen sollte.
Er setzte sich neben mich auf ein zusammengerolltes Tau, zog einen Apfel aus der Tasche und hielt ihn mir hin.
“Da hast du ‘nen Apfel. Die Arbeiter am Ufer haben mir ‘ne ganze Mütze voll gegeben, weil ich ihnen immer die neuesten Flugblätter und Zeitungen bringe. Gestern haben sie mir ein ganzes Bündel Fische geschenkt, Rotaugen. Macht denen gar nichts aus! Sie brauchen bloß in einen Sack zu greifen, das ist alles. Drei hab ich selbst gegessen und zwei mit nach Hause genommen, einen für Anka und einen für Manka. Das sind meine Schwestern”, erklärte er und fügte herablassend hinzu: “Die sind noch dumm… wollen nur was zu fressen haben.
Mit einem Schlage verstummte das lebhafte Sprechen – der Zivilist mit der roten Armbinde, von den Milizionären begleitet, begann unerwartet die Ausweise zu prüfen. Schweigend zeigten die Arbeiter ihre zerknitterten, schmierigen Papiere vor und machten dann feindselig-frostige Bemerkungen.
“Wen mögen die wohl suchen?”
“Weiß der Teufel!”
“Die sollten mal zu uns nach Sormowo kommen, da könnten sie aber suchen!”
Den Milizionären schien das Ganze nicht zu gefallen; man sah, wie unangenehm es ihnen war, dass sie von vielen nur mit Verachtung angesehen wurden.
Den Zivilisten rührte diese allgemeine abweisende Zurückhaltung nicht. Herausfordernd runzelte er die Stirn und schritt auf den Mönch zu. Dieser wurde noch kleiner und deutete mit einer traurigen Handbewegung auf eine Sammelbüchse, die er am Bauch hängen hatte. Darauf stand: “Übt christliche Barmherzigkeit und spendet für den Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Kirchen.” Mit einem widerlichen Grinsen wandte sich der Zivilist von dem Mönch ab und packte ohne viel Umstände den Jungen neben mir an der Schulter.
“Ausweis?”
“Den krieg ich erst, wenn ich älter bin”, antwortete der wütend.
Als er sich losreißen wollte, verlor er das Gleichgewicht und ließ seine Flugblätter fallen.
Der Zivilist hob eins auf, überflog es hastig und sagte in leisem, aber gefährlichem Ton: “Für einen Ausweis noch zu jung, aber für dieses Zeug scheint er alt genug zu sein. Los, festnehmen!”
Doch der Mann mit der Armbinde war nicht der einzige, der so ein Flugblatt gelesen hatte. Vom Wind emporgerissen, flatterten sie weithin über das ganze Verdeck; die trägen, verlegenen Milizionäre waren noch nicht bis zu dem Jungen vorgedrungen, als sich ein Murren an Bord erhob. Stimmen wurden laut:
“Die sollten lieber den Kornilow suchen!”
“Wenn so‘n Mönch da keinen Ausweis hat, dann macht das nichts, aber über den Jungen fällt er her!”
“Hier seid ihr nicht in der Stadt, hier seid ihr in Sormowo!”
“Na, na, na, Ruhe da!” knurrte der Mann in Zivil und schaute sich verwirrt nach seinen Milizionären um.
‚Nichts von wegen ‚na, na‘! Tu nur nicht so! Du bist ja auch ein Gendarm, hast dich nur anders angezogen! Habt ihr gesehen, wie er über die Flugblätter her war? Wie die Geier sind sie da!”
Schon flog ein Stück Gurke dem Zivilisten an der Mütze vorbei.
Von allen Seiten von den Passagieren bedrängt, schauten sich die Milizionäre hilflos um und redeten ängstlich auf die Menge ein: “Nun drängt doch nicht so, drängt doch nicht alle. Seid ruhig, Bürger!”
Plötzlich heulte die Schiffssirene; von der Kommandobrücke kam der verzweifelte Ruf: “Weg von der linken Seite… von der linken Seite weg… das Schiff kippt um!”
Über das schrägliegende Deck stürzte die Menge auf die andere Seite des Schiffes. In dem allgemeinen Durcheinander brüllte der Mann in Zivil die Milizionäre noch einmal wütend an und drängte sich dann zu den beiden Offizieren vor, die bleich und aufgeregt am Fuß der Treppe zur Kommandobrücke standen.
Der Dampfer legte an; die Arbeiter hasteten ans Ufer. Der Junge mit den Pockennarben war schon wieder an meiner Seite. Seine Augen glänzten, mit weitgeöffneten Händen hielt er die Flugblätter umklammert, die er wieder aufgehoben hatte.
“Komm mal zu uns!” rief er mir zu. ‚Direkt nach Waricha! Brauchst bloß nach Waska Kortschagin zu fragen, dann sagt dir jeder Bescheid.”

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur