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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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5. Kapitel

“Du gehst rechts auf dem Hang vor”, befahl Tschubuk. “Schmakow hält sich links, und ich bleib unten in der Mitte. Sobald ihr was merkt, gebt ihr ein Zeichen.”
Langsam bewegten wir uns vorwärts. Erst nach einer halben Stunde sah ich Schmakow etwas hinter mir auf dem linken Hang. Er ging gebückt, den Kopf vorgestreckt. Sein sonst so gutmütiges, etwas verschmitztes Gesicht war jetzt ernst.
An einer Biegung verlor ich Schmakow und Tschubuk aus den Augen. Ich wusste, sie waren irgendwo nicht weit von mir und gingen wie ich im Schutze der Büsche vorwärts. Das Bewusstsein, trotz scheinbarer Trennung durch eine gemeinsame Aufgabe und gemeinsame Gefahr fest miteinander verbunden zu sein, machte mich stark. Die Schlucht wurde breiter, das Gehölz ringsum immer dichter. Noch eine Biegung, und ich warf mich flach auf den Boden.
Auf dem breiten, mit Steinen gepflasterten Wege, kaum hundert Schritt vom rechten Hang entfernt, ritt eine starke Kavallerieeinheit.
Die wohlgenährten Rappen griffen mächtig unter ihren Reitern aus; an der Spitze ritten drei oder vier Offiziere. Gerade mir gegenüber hielt die Abteilung an. Der Kommandeur zog eine Karte heraus und blickte hinein.
Ich zog mich zurück und hielt Ausschau nach Tschubuk, um ihm das verabredete Zeichen zu geben.
Mir war unheimlich zumute; aber trotzdem war ich stolz, dass ich nicht umsonst mitgegangen war und nicht ein anderer, sondern ich als erster den Gegner entdeckt hatte.
Wo ist nur Tschubuk? dachte ich beunruhigt und schaute mich nach allen Seiten um. – Wo steckt er denn nur? – Ich wollte ihn schon suchen, als ich bemerkte, wie sich in dem Gebüsch auf dem linken Abhang etwas bewegte.
Es war Waska Schmakow, der vorsichtig aus dem Gebüsch hervorschaute. Er deutete mit der Hand nach unten, gab mir Zeichen, die ich nicht verstand, schien mich zu warnen.
Zuerst glaubte ich, ich solle hinuntergehen; aber als ich in die Richtung seiner ausgestreckten Hand blickte, zog ich gleich den Kopf ein.
Auf dem dicht bewachsenen Grunde der Schlucht schritt ein weißer Soldat und führte ein Pferd am Zügel. Entweder suchte er dort eine Wasserstelle, oder er gehörte zur Seitensicherung der marschierenden Kolonne – jedenfalls war er ein Feind, der unserem Auftrag im Wege stand. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Reiter war jetzt im Gebüsch verschwunden. Aber Waska musste wohl von drüben her noch etwas anderes sehen, was mir bisher verborgen geblieben war.
Er hatte sich auf ein Knie niedergelassen und den Kolben auf den Boden gestützt. Mit ausgestreckter Hand deutete er in meine Richtung und gab mir ein Zeichen, ich solle mich ja nicht rühren. Dabei schaute er nach unten, als wolle er hinunterspringen.
Von rechts klangen Huftritte herüber, ich schaute mich um. Die Kavallerieabteilung war auf den Weg eingeschwenkt und ritt nun im Trabe. In diesem Augenblick winkte mir Waska, mit der Hand weit ausholend, und sprang mit einem mächtigen Satz mitten durch das Strauchwerk nach unten. Ich ihm nach. Ich rollte bis auf den Grund hinunter, brach nach rechts durch und sah, wie sich dort, eng ineinander verschlungen, zwei Mann auf dem Boden wälzten. In dem einen erkannte ich Tschubuk, in dem anderen den feindlichen Soldaten. Ich weiß nicht mehr, wie ich dorthin gekommen bin. Tschubuk lag auf dem Rücken und hatte den Weißen, der seinen Revolver zu ziehen versuchte, am Arm gepackt. Anstatt ihm eins mit dem Kolben über den Kopf zu hauen, warf ich in meiner Verwirrung das Gewehr fort und wollte ihn an den Beinen von Tschubuk wegzerren; er war mir aber zu schwer und stieß mich zurück. Ich schlug rücklings hin, konnte ihn aber noch an der Hand packen und biss ihm in den Finger. Der Weiße brüllte auf und riss die Hand los. In diesem Augenblick brach es krachend aus dem Gebüsch hervor – Waska. Nass bis an den Gürtel, stürzte er herbei und streckte mit einem sauber gezielten Schlag, wie er es gelernt hatte, den Soldaten mit dem Gewehrkolben nieder.
Hustend und spuckend stand Tschubuk auf.
“Waska!” sprach er, heiser und abgerissen, und deutete mit der Hand auf das Pferd, das immer noch dastand und an Grasbüscheln rupfte.
“In Ordnung!” antwortete Waska, griff nach den am Boden schleifenden Zügeln und zog das Pferd zu sich heran.
“Mitnehmen!” sprach Tschubuk und zeigte auf den betäubt daliegenden Haidamaken.
“Arme binden!”
Tschubuk hob mein Gewehr auf, schnitt mit dem Bajonett den Gewehrriemen ab und band damit dem Soldaten, der noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war, die Ellbogen zusammen.
“Nimm ihn an den Beinen!” rief er mir zu. “Schneller, Menschenskind!” brüllte er mich an, als er sah, wie verwirrt ich war.
Wir legten unseren Gefangenen quer über das Pferd. Waska sagte kein Wort, sprang in den Sattel, zog dem Pferd eins mit der Nagaika über und jagte über den holprigen Grund der Schlucht zurück.
Tschubuk griff meine Hand.
“Hierher!” sprach er mit röchelnder Stimme, blutrot im Gesicht und schweißbedeckt. “Komm mit!”
Er hielt sich an den Ästen der Büsche fest und kletterte nach oben.
“Halt”, rief er, als wir schon fast oben waren, “runter!”
Mit knapper Not gelang es uns noch, im Gebüsch zu verschwinden, als unten plötzlich fünf Berittene auftauchten. Anscheinend waren sie der Kern der Seitensicherung. Die fünf hielten und schauten sich um, sie suchten ihren Kameraden. Ihr lautes Fluchen drang bis zu uns herüber. Sie nahmen den Karabiner von der Schulter, einer sprang vom Pferd und hob etwas vom Boden auf. Es war die Mütze des Soldaten, die wir in der Eile liegengelassen hatten. Die Kavalleristen waren beunruhigt und sprachen aufgeregt miteinander. Einer von ihnen, wohl ihr Wachtmeister, deutete mit der Hand geradeaus.
Die holen Waska ein, dachte ich, mit seiner schweren Last auf dem Pferd. Sie sind zu fünft, er ist allein.
“Schmeiß deine Handgranate runter!” befahl Tschubuk. Im selben Augenblick sah ich, wie in seiner Hand etwas aufglänzte und hinunterflog.
Ein dumpfes Krachen betäubte meine Ohren.
“Nu wirf doch!” schrie Tschubuk, riss mir die Handgranate aus den Fingern, entsicherte sie und warf sie hinunter.
“Idiot!” brüllte er mich an. Durch die laute Detonation und die plötzliche höchste Gefahr war ich wie von Sinnen. “So‘n Idiot! Reißt den Ring runter und wollte die Sicherung drinlassen!”
Wir rannten über frisch gepflügtes Land, der zähe Lehm blieb an unseren Stiefeln hängen. Die Weißen aber waren anscheinend mit ihren Pferden nicht durch das dichte Gestrüpp nach oben gekommen und hatten sich schleunigst aus dem Staube gemacht. Im Laufen erreichten wir eine andere Schlucht, bogen seitwärts ein, rannten wieder über einen Acker, kamen in ein Wäldchen und von da aus in ein dichtes Gehölz. Hinter uns in der Ferne hörten wir Schüsse.
“Die haben doch den Waska nicht gekriegt?” fragte ich mit zitternder, fremd klingender Stimme.
“Nein”, antwortete Tschubuk und lauschte, “die schießen vor lauter Wut. Jetzt aber los, Junge! Und einen Schritt zulegen. Die finden unsre Spur nicht mehr!”
Schweigend schritten wir weiter. Mir war, als habe sich Tschubuk über mich geärgert und verachte mich, weil ich vor Schreck mein Gewehr hingeworfen und wie ein kleiner Junge den Soldaten in den Finger gebissen hatte, weil meine Hände zitterten, als wir unseren Gefangenen auf das Pferd hoben. Hauptsächlich aber deshalb, weil ich vor lauter Aufregung noch nicht mal richtig eine Handgranate werfen konnte. Am peinlichsten und schmerzlichsten aber war mir der Gedanke, Tschubuk werde in unserer Abteilung davon erzählen. Dann würde Sucharew kommen und sagen: “Ich hab dir ja gesagt, gibt dich nicht mit ihm ab; hättest Simka nehmen sollen oder sonst jemanden!” Mir war das Weinen nahe; ich schämte mich, ärgerte mich über mich selbst und über meine Feigheit.
Tschubuk blieb stehen und zog seinen Beutel mit Machorka heraus; als er die Pfeife stopfte, bemerkte ich, dass auch seine Finger ganz leicht zitterten. Er machte ein paar Züge und zog den Rauch so gierig ein, als trinke er kaltes Wasser. Dann steckte er den Tabaksbeutel in die Tasche, klopfte mir auf die Schulter und sagte in seiner einfachen Art: “Na… haben wir ja noch mal Glück gehabt, mein Junge, wie? Halb so wild, Boriska, bist ein ordentlicher Kerl. Wie du den so mit den Zähnen an der Hand gepackt hast, Donnerwetter!” Und Tschubuk lachte gutmütig. “Wie so‘n richtiger Wolf hast du ihn gebissen. Klar, manchmal geht‘s auch ohne Gewehr, im Krieg darf man auch die Zähne nehmen!”
“Aber die Handgranate…”, sagte ich schuldbewusst, “wie konnte ich die nur mit der Sicherung…?”
“Die Handgranate?” Tschubuk lächelte. “Da bist du nicht der einzige, mein Junge. Fast alle, die es nicht gewohnt sind, werfen sie so: entweder noch gesichert oder ohne Sprengkapsel. Als ich anfing, hab ich das auch so gemacht. Dann sind sie alle wie vor den Kopf geschlagen, vergessen nicht nur, dass die Granate noch gesichert ist, sie ziehen auch den Ring nicht ab. Sie werfen sie einfach weg – wie einen Kieselstein –‚ und fertig ist der Laden. Nun komm… wir haben es noch weit!”
Der Weg zurück fiel uns nicht mehr schwer. Ich war ruhig und in gehobener Stimmung, wie nach einer bestandenen Prüfung… Niemals mehr würde Sucharew mich beleidigen können.

*

Bei der Abteilung angekommen, brachte Waska seinen noch besinnungslosen Gefangenen zum Kommandeur. Als es hell wurde, kam der Weiße wieder zu sich. Beim Verhör sagte er aus, die Eisenbahnlinie, die wir zu überschreiten hatten, würde durch einen Panzerzug gesichert, auf der Bahnstation läge ein deutsches Bataillon und in Gluchowka eine weißgardistische Einheit unter Führung des Hauptmanns Shicharew.
Es duftete das frische Grün des Waldes – der Faulbaum stand in voller Blüte. Unsere Jungen hatten sich ausgeruht, waren voller Tatendrang, sorglos und unbekümmert. Fedja Syrzow kehrte mit seinen tollen Reitern vom Spähtrupp zurück und meldete, vor uns wäre niemand und die Bauern im nächsten Dorf stünden auf Seiten der Roten; vor drei Tagen sei nämlich der Gutsbesitzer, der Anfang Oktober ausgerissen war, ins Dorf zurückgekehrt und habe in Begleitung von Soldaten alle Häuser nach seinem Eigentum durchsucht. Alle, bei denen Sachen aus dem Besitz des Herrn gefunden wurden, hätte man auf dem Platz vor der Kirche durchgepeitscht. Es wäre schlimmer gewesen als in den Zeiten der Leibeigenschaft, und deshalb wären die Bauern nur froh, wenn die Roten kämen.
Nachdem ich meinen Durst gestillt und ein Stück Speck gegessen hatte, stand ich auf. Ein Haufen Rotarmisten drängte sich um unseren Gefangenen; dort ging ich auch hin.
“Hallo!” begrüßte mich Waska Schmakow und wischte sich mit dem Ärmel über sein von Wasser triefendes Gesicht. Er hatte gerade einen halben Teekessel Wasser leer getrunken. “Das warst du doch gestern mit dem Gewehr, wie?”
“Was ist mit gestern?”
“Na, du hast doch dein Gewehr hingeschmissen.”
“Ja, und du, du bist noch vor mir runtergesprungen, aber erst ganz am Schluss bist du gekommen und hast uns geholfen!” entgegnete ich bissig.
“Ja, zuerst, da bin ich in den Sumpf reingeraten, hab kaum die Beine wieder rausgekriegt, deswegen kam ich erst hinterher. Ja, und dann hab ich die Handgranaten gehört … und da hab ich gedacht: Jetzt ist es aus mit den beiden, ja, das hab ich gedacht. Dann bin ich zurückgeritten zu unseren Leuten und hab gerufen: ‚Sie haben Pech gehabt, die beiden, die kommen allein nicht raus.‘ Und dann hab ich noch gedacht: Das hat er nun davon, mir wollte er seine Tasche nicht geben, aber die Weißen, die kriegen sie jetzt umsonst von ihm. Deine Tasche, die ist was wert.”
Er strich mit der Hand über die Tasche, die ich mir umgehängt hatte. Sie stammte von dem Unbekannten, den ich niedergeschossen hatte.
“Aber ich pfeif auf deine Tasche, wenn du sie nun mal nicht geben willst”, setzte er hinzu. “Ich hatte im vergangenen Monat eine, die war noch viel besser als deine, aber ich hab sie verkauft, und du meinst wunder was für ‘ne Tasche du hast!” Verächtlich zog er die Nase kraus.
Ich schaute Waska an und wunderte mich: Er hatte ein so dümmliches, rotes Gesicht, seine Bewegungen waren so unbeholfen; man sollte es nicht glauben, dass es derselbe Waska war, der gestern so gewandt durch die Büsche schlich, der die Weißen aufspürte und so wütend auf das Pferd losschlug, als er mit dem Gefangenen über dem Sattel davongaloppierte.
Die Rotarmisten waren mit dem Frühstück fertig. Sie knöpften ihre Blusen zu und wickelten sich Fußlappen um die ausgeruhten Füße. Bald sollte es weitergehen.
Ich war schon abmarschbereit und wollte noch einmal zum Waldrand hinübergehen, wo der Faulbaum blühte.
Da hörte ich Schritte neben mir und sah, wie Tschubuk und drei andere von uns den gefangenen Haidamaken vorbeiführten. Wo wollen die denn hin? dachte ich und betrachtete den finsteren, abgerissen aussehenden Gefangenen.
“Halt!” kommandierte Tschubuk. Alle blieben stehen.
Ich schaute auf den Weißen und schaute auf Tschubuk – da wusste ich, warum sie den Gefangenen hier hergeführt hatten. Ich ging auf die Seite; meine Füße waren schwer. Bei einer Birke blieb ich stehen und hielt mich fest. Meine Hände klammerten sich um den Baum.
Die Salve war wie ein harter Peitschenschlag.
“Junge”, sagte Tschubuk zu mir, streng und zugleich mit einem Anflug des Mitleids, “wenn du glaubst, der Krieg sei so etwas wie ein Spiel oder wie ein Spaziergang durch schöne Gegenden, dann geh lieber nach Hause! Ein Weißer ist ein Weißer, und zwischen uns und ihnen gibt es keine Brücken. Sie schießen uns nieder, und wir schonen sie auch nicht!”
Mit geröteten Augen blickte ich zu ihm auf und sagte leise, aber fest: “Ich gehe nicht nach Hause, Tschubuk, das… kam mir bloß so unerwartet. Ich bin ein Roter, ich bin von selbst zu euch in die Armee gekommen…” Ich stockte und fuhr dann fort, leise, als wollte ich mich entschuldigen: “… für die lichten Höhen des Sozialismus.”

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