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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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DIE FRONT

1. Kapitel

Ein halbes Jahr war vergangen.
An einem sonnenhellen Apriltag warf ich auf dem Bahnhof einen Brief an Mutter in den Kasten.
“Liebe Mutter!
Lebe wohl! Ich fahre jetzt zur Armee des berühmten Genossen Siwers, er kämpft gegen die weißen Truppen von Kornilow und Kaledin. Wir sind zu dritt. Von der Arbeiterwehr in Sormowo haben wir unsere Papiere bekommen. Ich war da mit Dohle zusammen. Mir wollten sie lange keine geben, ich wäre noch zu jung. Aber da habe ich Dohle gefragt, und er hat das dann erledigt. Er wäre auch selbst gern gefahren, doch er ist sehr schwach und hat einen schlimmen Husten.
Ich habe einen ganz heißen Kopf vor Freude. Alles, was früher einmal war, ist gar nicht wichtig, und das richtige Leben fängt nun erst an. Deshalb bin ich auch so froh…”
Am dritten Tage hatten wir auf einer kleinen Station sechs Stunden Aufenthalt. Wir erfuhren, dass es in der Gegend unruhig war. Kleinere Einheiten von Banditen seien aufgetaucht, und an einigen Stellen hätte es Schießereien zwischen den Kulaken und unseren Verpflegungskolonnen gegeben.
Erst spät in der Nacht erhielt unser Zug eine Lokomotive. Ich lag mit meinen Genossen Seite an Seite auf der oberen Pritsche eines Güterwagens und lauschte dem gleichmäßigen Stoßen der Räder und dem Quietschen des schaukelnden Wagens. Schließlich zog ich meinen dicken Tuchmantel über den Kopf und wollte schlafen.
Aus dem Dunkel klang Schnarchen und Husten; ich hörte, wie sich die Leute kratzten. Wer sich bis auf die Pritsche vorgedrängt hatte, schlief. Wem das aber nicht gelungen war, hatte sich unten zwischen den Säcken schlecht und recht eingerichtet und fand keinen Schlaf. Ein ständiges Gemurmel war von dort zu hören, man schimpfte und knuffte seinen Nachbarn in die Seite, wenn er zu nahe heranrückte.
“Drängel doch nicht so!” brummte leise eine Bassstimme. “Wirfst mich ja von meinem Sack runter! Gleich kriegst du eine!”
“Pass doch auf, verflucht noch mal!” jammerte eine erzürnte Frauenstimme. “Warum trittst du mir eigentlich immer mit den Stiefeln ins Gesicht? Aach, so‘ne verdammte Schweinerei, oje, oje!”
Ein Streichholz flammte auf, warf sein trübes Licht auf das unruhige Durcheinander von Stiefeln, Säcken, Körben, Mützen, Armen und Beinen und erlosch wieder. Noch dunkler schien es jetzt zu sein. In einer Ecke erzählte jemand mit knarrender, eintöniger Stimme seinen müden Zuhörern die endlose, langweilige Geschichte seines elenden Lebens. Unser Wagen zitterte und zuckte wie ein Pferd, das die Bremsen beißen, und rollte mit ungleichen Stößen über die Schienen.
Ich wurde wach… einer meiner Reisegefährten hatte mich am Arm gezogen. Ich hob den Kopf und fühlte, wie mir durch das offene Fenster ein kühler Luftstrom angenehm in mein schlaftrunkenes Gesicht wehte. Der Zug fuhr langsam, es ging eine Steigung hinan. Über dem Horizont stand weithin ein brandroter Schein. Wie versengt von seiner Glut, waren die Sterne am Himmel verblichen, hatte der fahle Mond sein Licht verloren.
“Das ganze Land ist in Aufruhr”, klang eine ruhige Stimme aus dem Dunkel.
“Es hat die Peitsche haben wollen, und nun ist es in Aufruhr”, kam es leise und gereizt aus einer anderen Ecke.
Ein heftiges Krachen ließ die Gespräche jäh verstummen. Der Wagen schlingerte und ruckte, ich flog von meiner Pritsche hinunter und fiel denen, die unten lagen, auf den Kopf. Alles geriet durcheinander, jammernd drängten sich die Menschen aus dem schwarzen Inneren des Wagens durch die offene Tür ins Freie.
Der Zug war entgleist.
Ich flog unsanft in einen Graben neben dem Bahndamm, kam aber gerade noch rechtzeitig hoch, um nicht von den abspringenden Leuten zertreten zu werden. Zweimal fiel ein Schuss. Neben mir stand einer mit zitternden Händen und sprach hastig.
“Halb so wild… halb so wild… Nur nicht wegrennen, sonst schießen sie. Das sind keine Weißen, das sind von hier welche aus den Stanizen. Sie nehmen uns alles weg, aber dann lassen sie uns laufen.”
Zwei Mann mit Gewehren rannten auf unseren Wagen zu und brüllten: “Alles rein…! Alles wieder rein…! Warum seid ihr rausgesprungen?”
Die Menge rannte zu den Wagen zurück. Ich bekam einen heftigen Stoß, flog nach hinten und fiel in einen nassen Graben. Da machte ich mich ganz flach und kroch flink wie eine Eidechse bis ans Ende des Zuges. Unser Wagen war der vorletzte gewesen, so war ich schon einen Augenblick später neben dem trübe scheinenden Signallicht am Ende des Zuges. Hier stand einer aus dem Dorf mit einem Gewehr. Ich wollte kehrtmachen, doch da lief er auf die andere Seite des Bahndammes; wahrscheinlich hatte er dort jemanden gesehen. Ein Sprung – und ich rollte einen glitschigen, lehmigen Hang hinab. Unten zog ich mich an einem Strauch hoch; nur mit Mühe und Not bekam ich meine Beine wieder frei, so tief steckte ich im Lehm.

*

Wie unter einem feinen Schleier stand der Wald im ersten Grün. Allmählich wurde es lebendig. Irgendwo in der Ferne krähten streitlustig die Hähne. Von einer nahe gelegenen Waldwiese klang das Quaken der Frösche herüber. Sie waren hervorgekommen, um sich zu wärmen. An einigen schattigen Stellen lagen noch Reste grau gewordenen Schnees, aber wo die Sonne hinschien, war das harte Gras vom letzten Jahr schon trocken. Ich setzte mich und kratzte mir mit einem Stück Birkenrinde den dicken Lehm von den Schuhen. Dann nahm ich ein Büschel Gras, tauchte es ins Wasser und rieb mir mein schmutzstarrendes Gesicht ab.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Wie sollte ich zur nächsten Bahnstation kommen? Irgendwo bellten Hunde, es musste wohl ein Dorf in der Nähe sein. Wenn ich nun einfach hinginge und fragte? Aber dabei könnte ich den Kosaken in die Hände fallen. Sie würden mich aushorchen nach woher und wohin und wer ich sei. Und ich hatte doch einen Ausweis bei mir und dazu noch die Pistole. Den Ausweis könnte ich ja im Stiefel verstecken, aber meine Pistole? Sollte ich sie wegwerfen?
Ich zog sie heraus und drehte sie hin und her. Mir wurde traurig ums Herz dabei. Die kleine Waffe, sie lag so fest in meiner Hand, so ruhig glänzte der dunkle Stahl des Laufs, dass ich mich meines Gedankens schämte. Ich strich zärtlich darüberhin und schob sie wieder vorn in meine Bluse, wo ich innen im Futter eine geheime Tasche hatte.
Es war ein strahlendheller Morgen, Summen und Zwitschern rings um mich her.
Ich mochte gar nicht an eine Gefahr glauben.
“Zi-zi-trrr!” klang neben mir ein bekanntes Zwitschern. Eine Blaumeise saß über mir auf einem Zweig und schaute mich mit schräggehaltenem Kopf neugierig an.
“Zi-zi-trrr … ich begrüße dich!” pfiff sie und hüpfte hin und her.
Unwillkürlich musste ich lachen und dachte an Timka Schtukin. Narrenschwänzchen nannte er die Meisen. War‘s denn schon so lange her…? Die Meisen, der Friedhof, unsere Spiele … Ich runzelte die Stirn. Was sollte ich jetzt anfangen?
Ganz in der Nähe knallte eine Peitsche, Kühe brüllten – eine Herde. Da würde ich hingehen und den Hirten nach dem Weg fragen. Was sollte mir der Hirte schon tun? Ich würde einfach hingehen und ihn fragen – und dann nichts wie weg! Eine kleine Herde Kühe zog gemächlich am Rande des Waldes entlang. Träge und unlustig rupften die Tiere die Büschel des alten Grases ab. Ein uralter Hirte ging nebenher, einen langen, dicken Stock in der Hand. Ohne Hast, so ruhig wie einer, der spazierengeht, kam ich von der Seite her auf ihn zu: “Einen guten Tag wünsch ich, Großvater!”
“Guten Tag!” Er zögerte, blieb stehen und schaute mich misstrauisch an.
“Zur Bahnstation, ist das noch weit?”
“Zur Station? Zu welcher denn?”
Ich stockte, wusste nicht einmal, zu welcher Station ich wollte, aber da half mir der Alte selbst aus der Klemme.
“Wohl nach Alexandrowka, wie?”
“Ja, ja”, stimmte ich ihm bei, “das meine ich. Hab mich nämlich ein bisschen verlaufen.”
“Wo kommst du denn her?”
Wieder stockte ich.
“Von da drüben”, erwiderte ich so gelassen wie möglich, und machte eine unbestimmte Handbewegung nach der Richtung, wo am Horizont ein kleines Dorf zu sehen war.
“Hm… von da drüben… von Demjonowo, wie?”
“Jawohl, direkt aus Demjonowo.”
Hinter mir knurrte ein Hund, ich hörte Schritte und drehte mich um. Ein stämmiger junger Bursche kam auf den Alten zu, sicherlich ein junger Hirte.
“Was ist denn hier los, Onkel Alexander?” fragte er und kaute weiter an seinem Stück Roggenbrot.
“Der hier, der will wissen, wie er nach Alexandrowka kommt. Er sagt, er kommt aus Demjonowo.”
Der Bursche hörte auf zu kauen, schaute mich groß an und sagte verständnislos: “Versteh ich nicht!”
“Versteh ich auch nicht, wo doch Demjonowo direkt am Bahnhof liegt. Alexandrowka und Demjonowo – das ist doch dasselbe. Und wie ist er denn hier hergekommen?”
“Den müssen wir ins Dorf bringen”, schlug der Bursche in aller Ruhe dem Alten vor. “Auf der Wache werden sie schon wissen, was sie mit ihm anfangen. Der lügt ja ganz schön!”
Ich hatte keine Ahnung, was für eine Wache das sein sollte, wo man wüsste, was mit mir anzufangen wäre. Doch ich wollte nicht in das Dorf mitgehen, weil die Dörfer in dieser Gegend reich und unsicher waren. Ich wartete also nicht länger, machte einen mächtigen Satz und rannte in den Wald hinein.
Der Bursche blieb bald hinter mir zurück, nur der verdammte Köter biss mich zweimal ins Bein. Aber ich spürte den Schmerz gar nicht, fühlte auch nicht, dass mir die Zweige wie mit gespreizten Fingern ins Gesicht schlugen, und auch die Baumstümpfe auf dem unebenen Boden bemerkte ich nicht.
So irrte ich bis zum Abend durch den Wald. Überall ragten die Stümpfe gefällter Bäume aus dem Boden hervor, es musste also ein Dorf in der Nähe sein.
Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto weiter standen die Bäume auseinander, um so häufiger stieß ich auf lichte Stellen mit Spuren von Pferdehufen und Pferdemist.
Die Nacht brach herein. Ich war hungrig und müde. Und ganz zerkratzt. Höchste Zeit, mich nach einer Stelle umzusehen, wo ich schlafen könnte. Unter einem Busch fand ich ein trockenes Fleckchen. Todmüde legte ich mich nieder, ein Stück Holz unter dem Kopf. Meine Wangen glühten, und es schmerzten die Stellen, wo mich der Hund gebissen hatte.
Ich schlafe jetzt, entschied ich. Es ist Nacht, und hier findet mich niemand. Ich bin so müde… ich will schlafen, morgen früh wird mir schon etwas einfallen.
Beim Einschlafen dachte ich an Arsamas, an den Teich, an unseren Krieg auf den Flößen und an mein Bett mit der alten, warmen Decke. Ich dachte daran, wie Fedka und ich Tauben gefangen und in Fedkas Pfanne gebraten hatten. Sie hatten so gut geschmeckt …
Durch die Wipfel der Bäume pfiff der Wind. Einsam und unheimlich war es im Wald. Warm und duftend, wie ein Stück Kuchen am Feiertag, stand das alte Arsamas vor meinen Augen.
Ich zog mir den Kragen über den Kopf und fühlte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Doch ich weinte nicht.
Steif vor Kälte sprang ich in der Nacht von meinem Lager auf. Um warm zu werden, lief ich hin und her, versuchte auf eine Birke zu klettern, sogar zu tanzen begann ich. Dann legte ich mich wieder hin. Nach einer Weile, als der Nebel im Wald mich mit seiner Kälte durchdrang, sprang ich wieder auf und lief auf der Lichtung umher.

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