6. Kapitel
  Staunend und voller Neugierde betrachtete ich die vom vielen Ruß  grau gewordenen Häuschen und die hohen steinernen Mauern der Fabriken;  durch ihre schwarzen Fenster leuchteten blendend hell die Feuer,  vernahm ich das dumpfe Dröhnen der dort eingesperrten Maschinen. 
    Es  war gerade Mittagspause. Quer über die Straße fuhr eine Lokomotive an  mir vorbei und scheuchte mit ihrem Dampf die umherstreifenden Hunde  auseinander. Die Maschine zog einige offene, mit Rädern beladene Wagen  hinter sich her. Sirenen heulten in allen Tönen, und Massen von  Arbeitern strömten müde und schweißgebadet aus dem Tor ins Freie. 
    Schwärme von barfüßigen, frechen Kindern kamen ihnen entgegen. Am Arm  trugen sie Bündel mit Schüsseln und Tellern – es roch nach Zwiebeln und  Sauerkohl. 
    Durch winklige, schmale  Straßen gelangte ich schließlich in die Gasse, wo Dohle wohnte. 
    An einem kleinen Holzhaus klopfte ich ans Fenster. Eine hagere,  grauhaarige Alte richtete sich von ihrem Waschtrog auf und schaute mit  vom Dampf gerötetem Gesicht heraus. Was ich wolle, fragte sie ärgerlich. 
    Ich sagte es ihr. 
    “Der wohnt nicht hier, hat mal  hier gewohnt – ist schon lange her”, gab sie zur Antwort und schlug das Fenster  zu. 
    Das war ein schwerer Schlag für mich. An der nächsten Ecke, neben einem  Haufen Feldsteine, blieb ich stehen; ich merkte jetzt erst, wie müde  und hungrig ich war und wie gern ich geschlafen hätte. 
    Außer Dohle wohnte in Sormowo noch mein Onkel Nikolai, ein Bruder  meiner Mutter. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo er wohnte,  wo er arbeitete und wie er mich aufnehmen würde. 
    Stundenlang strich ich durch  die Straßen und blickte allen Arbeitern ins Gesicht. Doch meinen Onkel fand ich  nicht. 
    Ich war verzweifelt und fühlte mich einsam und verlassen – so richtig  überflüssig kam ich mir vor. Auf einem kleinen, kümmerlichen  Wiesenstück setzte ich mich hin. Fischhäute und Mörtelbrocken, gelb vom  Regen, lagen hier herum. Die Augen hatte ich geschlossen und dachte  über mein bitteres Los nach: Alles war schiefgegangen. 
    Je länger ich darüber  nachdachte, desto schwerer wurde mir ums Herz, desto sinnloser kam mir meine  Flucht von zu Hause vor. 
    Aber auch jetzt verscheuchte ich jeden Gedanken an eine Heimkehr nach  Arsamas. Dort wäre ich noch verlassener als hier; man würde über mich  lachen, mich verachten wie damals den Tupikow. Meine Mutter würde  nichts sagen und sich quälen, ja sogar in die Schule gehen und beim  Direktor ein Wort für mich einlegen. 
    Aber ich hatte immer schon meinen Kopf durchsetzen wollen. In Arsamas  sah ich oft, wie mit den funkensprühenden, hellerleuchteten  Eisenbahnzügen das richtige, große Leben an mir vorbeiflog. Mir war  dann immer, als brauchte ich nur auf das Trittbrett eines dahinrasenden  Wagens zu springen – gerade noch auf die äußerste Kante – und nicht  mehr loszulassen; dann könnte mich nichts mehr zurückbringen. 
    Ein alter Mann ging am Zaun entlang. Er trug Eimer und Pinsel in der  Hand und hatte eine Rolle Plakate unter dem Arm. Dick schmierte er den  Kleister auf die Bretter und klebte ein Plakat an, schaute nach, ob es  keine Falten geworfen hatte, und stellte dann seinen Eimer auf den  Boden. Da erblickte er mich und rief: “Du, Junge, hol mir doch mal die  Streichhölzer aus meiner Tasche, ich hab die Hände voll Kleister.” Er  bedankte sich, als ich ein Streichholz angezündet und ihm an seine  erloschene Pfeife gehalten hatte. 
    Ächzend nahm er den schmutzigen Eimer wieder auf und meinte gutmütig:  “Ach ja, es macht keinen Spaß mehr, wenn man alt ist! Früher, da nahm  ich einen pudschweren Hammer, das machte mir gar nichts aus, aber  jetzt, da stirbt mir schon die Hand ab, wenn ich bloß einen Eimer  trage.” 
    “Gib nur her, Großvater, den  trag ich”, antwortete ich bereitwillig. “Mir schläft sie nicht ein, ich bin  stark genug.” 
    Schon zog ich den Eimer zu mir  herüber, aus Furcht, er wäre nicht einverstanden. 
    “Schön, kannst ihn tragen”,  der Alte hatte nichts dagegen. “Zu zweit sind wir bald fertig.” 
    Wir gingen immer an den Zäunen  entlang und kamen so durch manche Straße. 
    Wenn wir Halt machten, blieben hinter uns die Leute stehen. Sie wollten  wissen, was wir anklebten. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass  ich meinen Kummer ganz vergessen hatte. Auf den Plakaten standen  allerlei Losungen: “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht  Stunden Erholung”. Diese Losung war mir – offen gesagt – zu langweilig,  zu wenig verlockend. Viel besser gefiel mir ein großes blaues Plakat  mit dicken roten Buchstaben: “Nur mit der Waffe in der Hand erobert das  Proletariat die lichten Höhen des Sozialismus.” 
    Durch ihre rätselhafte, noch nie gesehene Schönheit lockten mich diese  “lichten Höhen des Sozialismus” viel stärker, als einen begeisterten  Schuljungen die fernen exotischen Länder in den Büchern von Reed  anziehen könnten. Wie weit auch diese Länder entfernt sein mochten, sie  waren alle schön erforscht, aufgeteilt und auf langweiligen Schulkarten  eingetragen. Doch die “lichten Höhen”, von denen das Plakat sprach, sie  waren noch von niemandem erobert. Keines Menschen Fuß hatte je dieses  herrliche, unbekannte Land betreten. 
    “Wenn du müde bist, Junge?”  fragte der Alte und blieb stehen, “dann geh nach Hause, ich werd jetzt allein  fertig.” 
    “Ich bin nicht müde”,  entgegnete ich und dachte traurig daran, dass ich bald wieder allein wäre. 
    “Na gut”, meinte der Alte,  “bloß, dass sie nicht mit dir schimpfen zu Hause.” 
    “Ich hab hier kein Zuhause”,  erwiderte ich mit einer plötzlichen Offenheit. “Mein Zuhause ist weit weg von  hier.” 
    Ich war froh, einmal all meinen Kummer einem anderen Menschen  anvertrauen zu können, und erzählte dem Alten meine ganze Geschichte. 
    Er hörte aufmerksam zu und  schaute mir dabei unverwandt – und ein klein wenig spöttisch – in mein  verwirrtes Gesicht. 
    “Die Geschichte muss man in Ordnung bringen”, meinte er bedächtig.  “Sormowo ist groß, aber schließlich ist ein Mensch ja keine Stecknadel.  Schlosser ist dein Onkel, sagst du?” 
    “Ja, er war Schlosser.” Ich hatte wieder Mut gefasst. “Nikolai heißt  er, Nikolai Jegorowitsch Dubrjakow. Ich glaub, er ist auch in der  Partei, wie mein Vater. Vielleicht kennen sie ihn im Komitee?” 
    “Ich kenn so einen nicht. Aber jetzt sind wir fertig mit unseren  Plakaten, und du kommst mit zu mir. Ich will mal einen von uns fragen.” 
    Aus irgendeinem Grunde machte  er ein nachdenkliches Gesicht und paffte schweigend seine Pfeife. Er ging  weiter. 
    “Dann haben sie deinen Vater  also erschossen?” fragte er plötzlich. 
    “Ja, sie haben ihn  erschossen.” 
    Der Alte wischte sich die Hände an seiner schmierigen, geflickten Hose  ab, klopfte mir auf die Schulter und sagte: “Jetzt gehst du mit zu mir.  Es gibt Kartoffeln mit Zwiebeln, und dazu machen wir uns Wasser warm.  Wirst wohl großen Hunger haben, wie?” 
    Der Eimer kam mir jetzt leicht  vor. Und meine Flucht aus Arsamas erschien mir wieder notwendig und sinnvoll. 
   
    * 
   
    Mein Onkel wurde gefunden. Er  war allerdings nicht Schlosser, sondern Meister in der Kesselschmiede. 
    Kurz und bündig erklärte er  mir, ich solle vernünftig sein und wieder nach Hause fahren. 
    “Bei mir kannst du nicht bleiben… Aus einem Menschen wird erst dann  was, wenn er weiß, wo er hingehört”, sagte er mit mürrischem Gesicht  bereits am ersten Tage nach dem Mittagessen und wischte sich mit einem  Handtuch seinen roten, fettigen Schnurrbart ab. “Ich weiß, wo ich  hingehöre… Ich war zuerst Handlanger, dann Schlosser, und jetzt bin ich  Meister. Warum bin ich wohl Meister geworden und nicht ein anderer?  Weil der andere nichts taugt. Arbeiten, siehst du, das will er nicht,  und neidisch ist er auf den Ingenieur. 
    Du hattest wohl kein Sitzfleisch in der Schule, wie? Hättest anständig  lernen sollen, dann wärst du vielleicht ein Doktor oder ein Techniker  geworden. Aber das hast du ja nicht gewollt. Kommt alles von der  Faulheit… Wenn man sich aber schon mal für was entschlossen hat, dann  muss man auch sehen, dass man weiterkommt, meine ich. Vorsichtig und  immer mit der Ruhe, und auf einmal ist man was geworden.” 
    “Wie meinst du das, Onkel Nikolai?” fragte ich ruhig. Ich fühlte mich  gekränkt. “Nehmen wir doch meinen Vater. Er war Soldat. Wenn es nach  dir ginge, dann hätte er eine Schule für Leutnante besuchen sollen,  dann wäre er Offizier geworden, vielleicht hätte er‘s bis zum Hauptmann  gebracht. Aber was hat er getan? Er ist in die illegale Arbeit  gegangen. War das denn nicht auch notwendig?” 
    Mein Onkel runzelte die Stirn. 
    “Ich will nichts Schlechtes über deinen Vater sagen; aber was er getan  hat, darin kann ich wenig Vernünftiges finden. Ja, er war etwas wirr im  Kopf, war ein unruhiger Mensch, hätte mir bald auch noch den Kopf  verdreht. Auf dem Kontor wollten sie mich gerade zum Meister machen, da  sagen sie mir auf einmal: ‚So einen Verwandten haben Sie? Und jetzt hat  er Sie sogar besucht!‘ – Hab das noch so eben wieder geradebiegen  können.” 
    Mit diesen Worten langte er sich einen fetten Brocken aus der Schüssel,  bestrich ihn dick mit Senf und schüttete viel Salz darauf. Seine  starken gelben Zähne bissen in das Fleisch. Als meine Tante, eine  hochgewachsene, hübsche Frau, ihm nach dem Essen seinen buntbemalten  Krug mit hausgemachtem Kwaß hinstellte, sagte er zu ihr: “Ich leg mich  jetzt noch was hin, weck mich so in einer Stunde. Ich muss noch rasch  einen Brief an meine Schwester Warwara schreiben. Den nimmt Boris mit,  wenn er fährt.” 
    “Wann fährt er denn?” 
    “Na, wann schon? Morgen fährt  er.” 
    Es klopfte ans Fenster. “Onkel  Nikolai”, hörte ich eine Stimme von der Straße, “kommst du zum Meeting?” 
    “Wohin?” 
    “Zum Meeting, hab ich gesagt,  ist schon ‘ne Masse Leute auf dem Platz versammelt.” 
    “Lass sie doch”, winkte mein  Onkel ab, “hab keine Lust.” 
    Sobald mein Onkel  eingeschlafen war, schlich ich mich leise auf die Straße. 
    Das ist ein ganz Schlauer, mein Onkel! dachte ich, denkt, er wäre ein  großes Tier: Meister! Und ich hab geglaubt, er wäre in der Partei. Soll  ich nun wirklich nach Arsamas zurückkehren? 
    An die zwei- bis dreitausend Menschen hatten sich um eine aus Brettern  aufgeschlagene Tribüne versammelt und hörten zu. Aus dem Gewühl tauchte  das bekannte pockennarbige, pfiffige Gesicht Waska Kortschagins auf.  Ich rief, er hörte mich aber nicht. 
    Ich versuchte, an ihn heranzukommen … zweimal noch sah ich seinen Kopf  mit den krausen Haaren in der Menge, dann war er endgültig  verschwunden. Ich stand jetzt nicht weit von der Tribüne. 
    Noch näher heranzukommen war schwierig. So blieb ich stehen und hörte  zu. Es kamen immer wieder andere Sprecher zu Wort. Ich entsinne mich  heute noch an einen von ihnen. Unansehnlich und schlecht gekleidet, sah  er aus wie jeder andere Arbeiter auch; so wie er liefen sie zu  Hunderten auf den Straßen von Sormowo herum und fielen nicht weiter  auf. Mit einer linkischen Handbewegung nahm er seine Mütze ab, die  platt war wie ein Pfannkuchen, räusperte sich und begann mit heiserer  und, wie mir schien, zornig erregter Stimme: 
    “Die Genossen von den Lokomotivwerken und vom Waggonbau, die kennen  mich alle, auch die vom Öllager. Die wissen auch, dass ich acht Jahre  Zwangsarbeit gehabt habe, als Politischer. Ja, aber ich war noch nicht  ganz wieder zu Hause, hatte noch nicht richtig Luft geholt, da haben  sie mich schon wieder zwei Monate eingesperrt! Und wer war das? Diesmal  nicht die Polizei vom alten Regime, diesmal haben mich die Mitläufer  vom neuen Regime eingesperrt. Beim Zaren war es keine Schande, wenn  einer von uns sitzen musste, da waren unsere Genossen immer im  Gefängnis. Aber wenn uns heute so‘n Mitläufer einsperrt, dann ist das  eine Beleidigung. Die Generale und Offiziere haben sich rote Schleifen  angesteckt, als ob sie Freunde der Revolution wären. Unsere Brüder  aber, die sperren sie gleich ein. Sie hetzen und jagen uns, wo sie  können. Ich spreche nicht, weil ich beleidigt bin, Genossen, nicht,  weil sie mich noch mal zwei Monate eingesperrt haben. Ich spreche, weil  sie uns Arbeiter beleidigen.” 
    Er musste husten, rang nach Luft. Aber kaum wollte er weitersprechen,  hatte er wieder einen Hustenanfall. Ein Zittern überlief ihn, er musste  sich am Geländer festhalten; er schüttelte den Kopf – er konnte nicht  mehr und stieg hinunter. 
    “Den haben sie fertiggemacht!”  hörte ich eine laute, zornige Stimme. 
    Der Himmel war grau und hatte sich zugezogen, es fiel der erste Schnee.  Ein kalter, trockener Wind riss die letzten, schwarz gewordenen Blätter  von den Zweigen. Die Füße wurden mir kalt, und ich versuchte, aus dem  Gedränge herauszukommen, wollte beim Gehen wieder warm werden. Ich  drängelte mich vorwärts und schaute nicht mehr nach den Sprechern, als  mich plötzlich eine vertraute, helle Stimme aufhorchen ließ.  Schneeflocken flogen mir in die Augen, von der Seite wurde ich  gestoßen, ein anderer trat mir heftig auf den Fuß. Ich stellte mich auf  die Zehen – da sah ich vor mir auf der Tribüne das bekannte bärtige  Gesicht von Dohle. 
    Mit den Ellenbogen arbeitete ich mich durch das dichte Gewühl nach  vorn. Ich fürchtete, Dohle würde aufhören zu sprechen, in der Menge  untertauchen und mein Rufen nicht hören. Dann hätte ich ihn von neuem  verloren. Ich schwenkte die Mütze, um ihn aufmerksam zu machen, ich  winkte mit der Hand, aber er bemerkte mich nicht. 
    Schon streckte er den Arm aus, schon hob er die Stimme… jeden  Augenblick konnte er aufhören, da rief ich laut über den Platz hin:  “Semjon Iwanowitsch…! Semjon Iwaaanowitsch!” 
    Neben mir zischte man, jemand  stieß mich in den Rücken, ich aber brüllte noch einmal verzweifelt: “Semjon  Iwaaanowitsch!” 
    Dohle schien verwundert, machte eine ratlose Bewegung mit der Hand,  seine letzten Worte waren nur noch halb zu verstehen; dann eilte er die  Treppe hinunter. 
    Einer der empörten Zuhörer  packte mich am Arm und zog mich auf die Seite. 
    Ich aber kümmerte mich nicht  um Schimpfen und Püffe, ich lachte laut auf, als habe ich den Verstand  verloren. 
    “Was bist du nur für‘n  Flegel?” fragte der Arbeiter, der mich am Arm gepackt hatte und schüttelte. 
    “Ich bin kein Flegel!” Ich vertrat mir die kalten Füße und musste immer  wieder lachen, so glücklich war ich. “Ich hab doch Dohle wieder  gefunden … den Semjon Iwanowitsch hab ich…” 
    Wahrscheinlich machte ich dabei so ein komisches Gesicht, dass selbst  der erzürnte Arbeiter lachen musste und, schon nicht mehr ganz so  ärgerlich, fragte: “Was für ‘ne Dohle?” 
    “Keine richtige … Ich meine  Semjon Iwanowitsch … Da kommt er ja selbst.” 
    Dann stand er vor mir, packte  mich an der Schulter. 
    “Wo kommst du denn her?” 
    Die Menge wurde immer  erregter. Unruhig summte es über den Platz. Ringsum nur zornige, aufgeregte,  drohende Gesichter. 
    “Semjon Iwanowitsch”, fragte  ich im Gehen, “was ist denn los? Warum sind alle so aufgeregt?” Seine Frage  hatte ich überhört. 
    “Ein Telegramm ist angekommen… gerade eben”, erklärte er mir hastig.  “Kerenski verrät die Revolution! Der General Kornilow… ruft die Kosaken  auf.” – – –  
   
    * 
   
    Wie die Lichter unbekannter Bahnstationen an den Schnellzügen  vorüberfliegen, so eilten die kurzen Herbsttage dahin. Mit einem Mal  hatte ich eine richtige Aufgabe. Man brauchte mich wieder, ich war mit  einbezogen in den Kreislauf sich überstürzender Ereignisse. 
    An einem jener unruhigen Tage rief Dohle mir aufgeregt zu: “Lauf sofort  ins Komitee, Boris, und sag, aus Waricha hätte man dringend einen  Agitator angefordert und ich wär gleich hingegangen. Du musst Jerschow  finden, er soll für mich in die Druckerei gehen. Wenn du Jerschow aber  nicht findest, dann … Gib mal rasch ‘nen Bleistift her… Hier, bring  diesen Zettel selbst in die Druckerei. Aber nicht aufs Kontor, gib ihn  am besten gleich dem Setzer! Weißt du, der war mal bei Kortschagin,  so‘n Schwarzer, mit ‘ner Brille. Wenn du das alles gemacht hast, kommst  du zu mir nach Waricha. Und wenn sie im Komitee neue Flugblätter haben,  die bringst du gleich mit. Sagst Pawel, ich hätte drum gebeten … Halt!  Warte mal!” rief er besorgt hinter mir her. “Es ist kalt. Ziehst am  besten meinen alten Mantel an.” 
    Doch in meiner Begeisterung war ich schon draußen, wie ein  Kavalleriepferd im Galopp sauste ich los und nahm im Sprung die Pfützen  und Löcher auf der schmutzigen Straße. 
    Beim Parteikomitee herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof vor  Abfahrt des Zuges. Gleich an der Tür rannte ich gegen Kortschagin. Wäre  es ein anderer gewesen, kleiner und schwächer als Kortschagin, ich  hätte ihn umgerannt. So aber flog ich wie gegen einen Telegrafenmast. 
    “Du hast aber ‘n Tempo!” sagte  er. “Was ist denn los mit dir? Bist wohl vom Kirchturm gefallen?” 
    “Nein, nicht vom Kirchturm…”, antwortete ich außer Atem und rieb mir  verwirrt den Kopf. “Semjon Iwanowitsch hat mich geschickt, und ich soll  sagen, er wäre nach Waricha…” 
    “Ich weiß, sie haben schon  angerufen.” 
    “Und dann braucht er noch  Flugblätter.” 
    “Sind schon unterwegs. Sonst  noch was?” 
    “Ja, und zu Jerschow muss ich  noch. Er soll in die Druckerei gehen. Hier hab ich einen Zettel für ihn.” 
    “Was ist mit der Druckerei? Gib mal her den Zettel”, mischte sich ein  Arbeiter ein, den ich nicht kannte. Er war bewaffnet, über seiner alten  Jacke hatte er einen Mantel umhängen. “Spinnt ein bisschen, der  Semjon”, wandte er sich an Kortschagin, nachdem er den Zettel gelesen  hatte. “Warum hat er Angst um die Druckerei? Ich hab schon nach dem  Essen einen Posten rausgeschickt.” 
    Immer mehr Menschen strömten zum Komitee. Trotz der Kälte standen die  Türen sperrangelweit offen; Mäntel, Blusen, abgeschabte Lederjacken  tauchten auf und verschwanden wieder. Auf dem Korridor schlugen zwei  Männer mit Hämmern eine Kiste auf. Darin lagen, in Stroh verpackt,  funkelnagelneue, dick eingefettete Drillingsgewehre. Einige andere  Kisten waren schon leer und lagen neben dem Eingang im Schmutz herum. 
    Da tauchte Kortschagin wieder auf. Im Vorbeigehen rief er drei  bewaffneten Arbeitern zu: “Macht rasch, dass ihr hinkommt, und bleibt  dann selbst draußen. Ihr lasst keinen ohne Ausweis vom Komitee hinein!  Und schickt jemanden hierher, der uns sagen soll, wie es dort aussieht.” 
    “Aber wen sollen wir  schicken?” 
    “Na, einen von unseren Leuten,  den ihr gerade seht.” 
    “Das kann ich machen!” rief  ich, bemüht, hinter den anderen an Begeisterung und gutem Willen nicht  zurückzustehen. 
    “Na, dann nehmt doch ihn!  Schnell laufen kann er.” 
    Ich hatte gesehen, dass fast  jeder, der das Haus verließ, aus der geöffneten Kiste ein Gewehr mitnahm. 
    “Genosse Kortschagin”, sagte  ich, “alle nehmen hier ein Gewehr mit – ich nehme mir auch eins.” 
    “Was willst du?” fragte er  unwirsch und unterbrach sein Gespräch mit einem über und über tätowierten  Matrosen. 
    “Ein Gewehr will ich haben!  Bin ich denn schlechter als die anderen?” 
    In diesem Augenblick rief man aus dem Zimmer nebenan laut nach  Kortschagin, er winkte nur mit der Hand und ging rasch hinein.  Vielleicht wollte er damit bloß sagen, ich solle ihn in Ruhe lassen,  aber ich verstand daraus, dass ich mir auch ein Gewehr nehmen dürfte.  Ich nahm also auch ein Gewehr aus der Kiste, umklammerte es fest und  verließ hinter den Posten das Haus. 
    Ich lief über den Hof und hörte gerade noch die soeben eingetroffene  Nachricht: In Petrograd Sowjetmacht ausgerufen. Kerenski geflohen. In  Moskau Kämpfe zwischen Arbeitern und Junkern.  | 
  
    
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