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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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6. Kapitel

Staunend und voller Neugierde betrachtete ich die vom vielen Ruß grau gewordenen Häuschen und die hohen steinernen Mauern der Fabriken; durch ihre schwarzen Fenster leuchteten blendend hell die Feuer, vernahm ich das dumpfe Dröhnen der dort eingesperrten Maschinen.
Es war gerade Mittagspause. Quer über die Straße fuhr eine Lokomotive an mir vorbei und scheuchte mit ihrem Dampf die umherstreifenden Hunde auseinander. Die Maschine zog einige offene, mit Rädern beladene Wagen hinter sich her. Sirenen heulten in allen Tönen, und Massen von Arbeitern strömten müde und schweißgebadet aus dem Tor ins Freie.
Schwärme von barfüßigen, frechen Kindern kamen ihnen entgegen. Am Arm trugen sie Bündel mit Schüsseln und Tellern – es roch nach Zwiebeln und Sauerkohl.
Durch winklige, schmale Straßen gelangte ich schließlich in die Gasse, wo Dohle wohnte.
An einem kleinen Holzhaus klopfte ich ans Fenster. Eine hagere, grauhaarige Alte richtete sich von ihrem Waschtrog auf und schaute mit vom Dampf gerötetem Gesicht heraus. Was ich wolle, fragte sie ärgerlich.
Ich sagte es ihr.
“Der wohnt nicht hier, hat mal hier gewohnt – ist schon lange her”, gab sie zur Antwort und schlug das Fenster zu.
Das war ein schwerer Schlag für mich. An der nächsten Ecke, neben einem Haufen Feldsteine, blieb ich stehen; ich merkte jetzt erst, wie müde und hungrig ich war und wie gern ich geschlafen hätte.
Außer Dohle wohnte in Sormowo noch mein Onkel Nikolai, ein Bruder meiner Mutter. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo er wohnte, wo er arbeitete und wie er mich aufnehmen würde.
Stundenlang strich ich durch die Straßen und blickte allen Arbeitern ins Gesicht. Doch meinen Onkel fand ich nicht.
Ich war verzweifelt und fühlte mich einsam und verlassen – so richtig überflüssig kam ich mir vor. Auf einem kleinen, kümmerlichen Wiesenstück setzte ich mich hin. Fischhäute und Mörtelbrocken, gelb vom Regen, lagen hier herum. Die Augen hatte ich geschlossen und dachte über mein bitteres Los nach: Alles war schiefgegangen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto schwerer wurde mir ums Herz, desto sinnloser kam mir meine Flucht von zu Hause vor.
Aber auch jetzt verscheuchte ich jeden Gedanken an eine Heimkehr nach Arsamas. Dort wäre ich noch verlassener als hier; man würde über mich lachen, mich verachten wie damals den Tupikow. Meine Mutter würde nichts sagen und sich quälen, ja sogar in die Schule gehen und beim Direktor ein Wort für mich einlegen.
Aber ich hatte immer schon meinen Kopf durchsetzen wollen. In Arsamas sah ich oft, wie mit den funkensprühenden, hellerleuchteten Eisenbahnzügen das richtige, große Leben an mir vorbeiflog. Mir war dann immer, als brauchte ich nur auf das Trittbrett eines dahinrasenden Wagens zu springen – gerade noch auf die äußerste Kante – und nicht mehr loszulassen; dann könnte mich nichts mehr zurückbringen.
Ein alter Mann ging am Zaun entlang. Er trug Eimer und Pinsel in der Hand und hatte eine Rolle Plakate unter dem Arm. Dick schmierte er den Kleister auf die Bretter und klebte ein Plakat an, schaute nach, ob es keine Falten geworfen hatte, und stellte dann seinen Eimer auf den Boden. Da erblickte er mich und rief: “Du, Junge, hol mir doch mal die Streichhölzer aus meiner Tasche, ich hab die Hände voll Kleister.” Er bedankte sich, als ich ein Streichholz angezündet und ihm an seine erloschene Pfeife gehalten hatte.
Ächzend nahm er den schmutzigen Eimer wieder auf und meinte gutmütig: “Ach ja, es macht keinen Spaß mehr, wenn man alt ist! Früher, da nahm ich einen pudschweren Hammer, das machte mir gar nichts aus, aber jetzt, da stirbt mir schon die Hand ab, wenn ich bloß einen Eimer trage.”
“Gib nur her, Großvater, den trag ich”, antwortete ich bereitwillig. “Mir schläft sie nicht ein, ich bin stark genug.”
Schon zog ich den Eimer zu mir herüber, aus Furcht, er wäre nicht einverstanden.
“Schön, kannst ihn tragen”, der Alte hatte nichts dagegen. “Zu zweit sind wir bald fertig.”
Wir gingen immer an den Zäunen entlang und kamen so durch manche Straße.
Wenn wir Halt machten, blieben hinter uns die Leute stehen. Sie wollten wissen, was wir anklebten. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich meinen Kummer ganz vergessen hatte. Auf den Plakaten standen allerlei Losungen: “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Erholung”. Diese Losung war mir – offen gesagt – zu langweilig, zu wenig verlockend. Viel besser gefiel mir ein großes blaues Plakat mit dicken roten Buchstaben: “Nur mit der Waffe in der Hand erobert das Proletariat die lichten Höhen des Sozialismus.”
Durch ihre rätselhafte, noch nie gesehene Schönheit lockten mich diese “lichten Höhen des Sozialismus” viel stärker, als einen begeisterten Schuljungen die fernen exotischen Länder in den Büchern von Reed anziehen könnten. Wie weit auch diese Länder entfernt sein mochten, sie waren alle schön erforscht, aufgeteilt und auf langweiligen Schulkarten eingetragen. Doch die “lichten Höhen”, von denen das Plakat sprach, sie waren noch von niemandem erobert. Keines Menschen Fuß hatte je dieses herrliche, unbekannte Land betreten.
“Wenn du müde bist, Junge?” fragte der Alte und blieb stehen, “dann geh nach Hause, ich werd jetzt allein fertig.”
“Ich bin nicht müde”, entgegnete ich und dachte traurig daran, dass ich bald wieder allein wäre.
“Na gut”, meinte der Alte, “bloß, dass sie nicht mit dir schimpfen zu Hause.”
“Ich hab hier kein Zuhause”, erwiderte ich mit einer plötzlichen Offenheit. “Mein Zuhause ist weit weg von hier.”
Ich war froh, einmal all meinen Kummer einem anderen Menschen anvertrauen zu können, und erzählte dem Alten meine ganze Geschichte.
Er hörte aufmerksam zu und schaute mir dabei unverwandt – und ein klein wenig spöttisch – in mein verwirrtes Gesicht.
“Die Geschichte muss man in Ordnung bringen”, meinte er bedächtig. “Sormowo ist groß, aber schließlich ist ein Mensch ja keine Stecknadel. Schlosser ist dein Onkel, sagst du?”
“Ja, er war Schlosser.” Ich hatte wieder Mut gefasst. “Nikolai heißt er, Nikolai Jegorowitsch Dubrjakow. Ich glaub, er ist auch in der Partei, wie mein Vater. Vielleicht kennen sie ihn im Komitee?”
“Ich kenn so einen nicht. Aber jetzt sind wir fertig mit unseren Plakaten, und du kommst mit zu mir. Ich will mal einen von uns fragen.”
Aus irgendeinem Grunde machte er ein nachdenkliches Gesicht und paffte schweigend seine Pfeife. Er ging weiter.
“Dann haben sie deinen Vater also erschossen?” fragte er plötzlich.
“Ja, sie haben ihn erschossen.”
Der Alte wischte sich die Hände an seiner schmierigen, geflickten Hose ab, klopfte mir auf die Schulter und sagte: “Jetzt gehst du mit zu mir. Es gibt Kartoffeln mit Zwiebeln, und dazu machen wir uns Wasser warm. Wirst wohl großen Hunger haben, wie?”
Der Eimer kam mir jetzt leicht vor. Und meine Flucht aus Arsamas erschien mir wieder notwendig und sinnvoll.

*

Mein Onkel wurde gefunden. Er war allerdings nicht Schlosser, sondern Meister in der Kesselschmiede.
Kurz und bündig erklärte er mir, ich solle vernünftig sein und wieder nach Hause fahren.
“Bei mir kannst du nicht bleiben… Aus einem Menschen wird erst dann was, wenn er weiß, wo er hingehört”, sagte er mit mürrischem Gesicht bereits am ersten Tage nach dem Mittagessen und wischte sich mit einem Handtuch seinen roten, fettigen Schnurrbart ab. “Ich weiß, wo ich hingehöre… Ich war zuerst Handlanger, dann Schlosser, und jetzt bin ich Meister. Warum bin ich wohl Meister geworden und nicht ein anderer? Weil der andere nichts taugt. Arbeiten, siehst du, das will er nicht, und neidisch ist er auf den Ingenieur.
Du hattest wohl kein Sitzfleisch in der Schule, wie? Hättest anständig lernen sollen, dann wärst du vielleicht ein Doktor oder ein Techniker geworden. Aber das hast du ja nicht gewollt. Kommt alles von der Faulheit… Wenn man sich aber schon mal für was entschlossen hat, dann muss man auch sehen, dass man weiterkommt, meine ich. Vorsichtig und immer mit der Ruhe, und auf einmal ist man was geworden.”
“Wie meinst du das, Onkel Nikolai?” fragte ich ruhig. Ich fühlte mich gekränkt. “Nehmen wir doch meinen Vater. Er war Soldat. Wenn es nach dir ginge, dann hätte er eine Schule für Leutnante besuchen sollen, dann wäre er Offizier geworden, vielleicht hätte er‘s bis zum Hauptmann gebracht. Aber was hat er getan? Er ist in die illegale Arbeit gegangen. War das denn nicht auch notwendig?”
Mein Onkel runzelte die Stirn.
“Ich will nichts Schlechtes über deinen Vater sagen; aber was er getan hat, darin kann ich wenig Vernünftiges finden. Ja, er war etwas wirr im Kopf, war ein unruhiger Mensch, hätte mir bald auch noch den Kopf verdreht. Auf dem Kontor wollten sie mich gerade zum Meister machen, da sagen sie mir auf einmal: ‚So einen Verwandten haben Sie? Und jetzt hat er Sie sogar besucht!‘ – Hab das noch so eben wieder geradebiegen können.”
Mit diesen Worten langte er sich einen fetten Brocken aus der Schüssel, bestrich ihn dick mit Senf und schüttete viel Salz darauf. Seine starken gelben Zähne bissen in das Fleisch. Als meine Tante, eine hochgewachsene, hübsche Frau, ihm nach dem Essen seinen buntbemalten Krug mit hausgemachtem Kwaß hinstellte, sagte er zu ihr: “Ich leg mich jetzt noch was hin, weck mich so in einer Stunde. Ich muss noch rasch einen Brief an meine Schwester Warwara schreiben. Den nimmt Boris mit, wenn er fährt.”
“Wann fährt er denn?”
“Na, wann schon? Morgen fährt er.”
Es klopfte ans Fenster. “Onkel Nikolai”, hörte ich eine Stimme von der Straße, “kommst du zum Meeting?”
“Wohin?”
“Zum Meeting, hab ich gesagt, ist schon ‘ne Masse Leute auf dem Platz versammelt.”
“Lass sie doch”, winkte mein Onkel ab, “hab keine Lust.”
Sobald mein Onkel eingeschlafen war, schlich ich mich leise auf die Straße.
Das ist ein ganz Schlauer, mein Onkel! dachte ich, denkt, er wäre ein großes Tier: Meister! Und ich hab geglaubt, er wäre in der Partei. Soll ich nun wirklich nach Arsamas zurückkehren?
An die zwei- bis dreitausend Menschen hatten sich um eine aus Brettern aufgeschlagene Tribüne versammelt und hörten zu. Aus dem Gewühl tauchte das bekannte pockennarbige, pfiffige Gesicht Waska Kortschagins auf. Ich rief, er hörte mich aber nicht.
Ich versuchte, an ihn heranzukommen … zweimal noch sah ich seinen Kopf mit den krausen Haaren in der Menge, dann war er endgültig verschwunden. Ich stand jetzt nicht weit von der Tribüne.
Noch näher heranzukommen war schwierig. So blieb ich stehen und hörte zu. Es kamen immer wieder andere Sprecher zu Wort. Ich entsinne mich heute noch an einen von ihnen. Unansehnlich und schlecht gekleidet, sah er aus wie jeder andere Arbeiter auch; so wie er liefen sie zu Hunderten auf den Straßen von Sormowo herum und fielen nicht weiter auf. Mit einer linkischen Handbewegung nahm er seine Mütze ab, die platt war wie ein Pfannkuchen, räusperte sich und begann mit heiserer und, wie mir schien, zornig erregter Stimme:
“Die Genossen von den Lokomotivwerken und vom Waggonbau, die kennen mich alle, auch die vom Öllager. Die wissen auch, dass ich acht Jahre Zwangsarbeit gehabt habe, als Politischer. Ja, aber ich war noch nicht ganz wieder zu Hause, hatte noch nicht richtig Luft geholt, da haben sie mich schon wieder zwei Monate eingesperrt! Und wer war das? Diesmal nicht die Polizei vom alten Regime, diesmal haben mich die Mitläufer vom neuen Regime eingesperrt. Beim Zaren war es keine Schande, wenn einer von uns sitzen musste, da waren unsere Genossen immer im Gefängnis. Aber wenn uns heute so‘n Mitläufer einsperrt, dann ist das eine Beleidigung. Die Generale und Offiziere haben sich rote Schleifen angesteckt, als ob sie Freunde der Revolution wären. Unsere Brüder aber, die sperren sie gleich ein. Sie hetzen und jagen uns, wo sie können. Ich spreche nicht, weil ich beleidigt bin, Genossen, nicht, weil sie mich noch mal zwei Monate eingesperrt haben. Ich spreche, weil sie uns Arbeiter beleidigen.”
Er musste husten, rang nach Luft. Aber kaum wollte er weitersprechen, hatte er wieder einen Hustenanfall. Ein Zittern überlief ihn, er musste sich am Geländer festhalten; er schüttelte den Kopf – er konnte nicht mehr und stieg hinunter.
“Den haben sie fertiggemacht!” hörte ich eine laute, zornige Stimme.
Der Himmel war grau und hatte sich zugezogen, es fiel der erste Schnee. Ein kalter, trockener Wind riss die letzten, schwarz gewordenen Blätter von den Zweigen. Die Füße wurden mir kalt, und ich versuchte, aus dem Gedränge herauszukommen, wollte beim Gehen wieder warm werden. Ich drängelte mich vorwärts und schaute nicht mehr nach den Sprechern, als mich plötzlich eine vertraute, helle Stimme aufhorchen ließ. Schneeflocken flogen mir in die Augen, von der Seite wurde ich gestoßen, ein anderer trat mir heftig auf den Fuß. Ich stellte mich auf die Zehen – da sah ich vor mir auf der Tribüne das bekannte bärtige Gesicht von Dohle.
Mit den Ellenbogen arbeitete ich mich durch das dichte Gewühl nach vorn. Ich fürchtete, Dohle würde aufhören zu sprechen, in der Menge untertauchen und mein Rufen nicht hören. Dann hätte ich ihn von neuem verloren. Ich schwenkte die Mütze, um ihn aufmerksam zu machen, ich winkte mit der Hand, aber er bemerkte mich nicht.
Schon streckte er den Arm aus, schon hob er die Stimme… jeden Augenblick konnte er aufhören, da rief ich laut über den Platz hin: “Semjon Iwanowitsch…! Semjon Iwaaanowitsch!”
Neben mir zischte man, jemand stieß mich in den Rücken, ich aber brüllte noch einmal verzweifelt: “Semjon Iwaaanowitsch!”
Dohle schien verwundert, machte eine ratlose Bewegung mit der Hand, seine letzten Worte waren nur noch halb zu verstehen; dann eilte er die Treppe hinunter.
Einer der empörten Zuhörer packte mich am Arm und zog mich auf die Seite.
Ich aber kümmerte mich nicht um Schimpfen und Püffe, ich lachte laut auf, als habe ich den Verstand verloren.
“Was bist du nur für‘n Flegel?” fragte der Arbeiter, der mich am Arm gepackt hatte und schüttelte.
“Ich bin kein Flegel!” Ich vertrat mir die kalten Füße und musste immer wieder lachen, so glücklich war ich. “Ich hab doch Dohle wieder gefunden … den Semjon Iwanowitsch hab ich…”
Wahrscheinlich machte ich dabei so ein komisches Gesicht, dass selbst der erzürnte Arbeiter lachen musste und, schon nicht mehr ganz so ärgerlich, fragte: “Was für ‘ne Dohle?”
“Keine richtige … Ich meine Semjon Iwanowitsch … Da kommt er ja selbst.”
Dann stand er vor mir, packte mich an der Schulter.
“Wo kommst du denn her?”
Die Menge wurde immer erregter. Unruhig summte es über den Platz. Ringsum nur zornige, aufgeregte, drohende Gesichter.
“Semjon Iwanowitsch”, fragte ich im Gehen, “was ist denn los? Warum sind alle so aufgeregt?” Seine Frage hatte ich überhört.
“Ein Telegramm ist angekommen… gerade eben”, erklärte er mir hastig. “Kerenski verrät die Revolution! Der General Kornilow… ruft die Kosaken auf.” – – –

*

Wie die Lichter unbekannter Bahnstationen an den Schnellzügen vorüberfliegen, so eilten die kurzen Herbsttage dahin. Mit einem Mal hatte ich eine richtige Aufgabe. Man brauchte mich wieder, ich war mit einbezogen in den Kreislauf sich überstürzender Ereignisse.
An einem jener unruhigen Tage rief Dohle mir aufgeregt zu: “Lauf sofort ins Komitee, Boris, und sag, aus Waricha hätte man dringend einen Agitator angefordert und ich wär gleich hingegangen. Du musst Jerschow finden, er soll für mich in die Druckerei gehen. Wenn du Jerschow aber nicht findest, dann … Gib mal rasch ‘nen Bleistift her… Hier, bring diesen Zettel selbst in die Druckerei. Aber nicht aufs Kontor, gib ihn am besten gleich dem Setzer! Weißt du, der war mal bei Kortschagin, so‘n Schwarzer, mit ‘ner Brille. Wenn du das alles gemacht hast, kommst du zu mir nach Waricha. Und wenn sie im Komitee neue Flugblätter haben, die bringst du gleich mit. Sagst Pawel, ich hätte drum gebeten … Halt! Warte mal!” rief er besorgt hinter mir her. “Es ist kalt. Ziehst am besten meinen alten Mantel an.”
Doch in meiner Begeisterung war ich schon draußen, wie ein Kavalleriepferd im Galopp sauste ich los und nahm im Sprung die Pfützen und Löcher auf der schmutzigen Straße.
Beim Parteikomitee herrschte ein Betrieb wie auf dem Bahnhof vor Abfahrt des Zuges. Gleich an der Tür rannte ich gegen Kortschagin. Wäre es ein anderer gewesen, kleiner und schwächer als Kortschagin, ich hätte ihn umgerannt. So aber flog ich wie gegen einen Telegrafenmast.
“Du hast aber ‘n Tempo!” sagte er. “Was ist denn los mit dir? Bist wohl vom Kirchturm gefallen?”
“Nein, nicht vom Kirchturm…”, antwortete ich außer Atem und rieb mir verwirrt den Kopf. “Semjon Iwanowitsch hat mich geschickt, und ich soll sagen, er wäre nach Waricha…”
“Ich weiß, sie haben schon angerufen.”
“Und dann braucht er noch Flugblätter.”
“Sind schon unterwegs. Sonst noch was?”
“Ja, und zu Jerschow muss ich noch. Er soll in die Druckerei gehen. Hier hab ich einen Zettel für ihn.”
“Was ist mit der Druckerei? Gib mal her den Zettel”, mischte sich ein Arbeiter ein, den ich nicht kannte. Er war bewaffnet, über seiner alten Jacke hatte er einen Mantel umhängen. “Spinnt ein bisschen, der Semjon”, wandte er sich an Kortschagin, nachdem er den Zettel gelesen hatte. “Warum hat er Angst um die Druckerei? Ich hab schon nach dem Essen einen Posten rausgeschickt.”
Immer mehr Menschen strömten zum Komitee. Trotz der Kälte standen die Türen sperrangelweit offen; Mäntel, Blusen, abgeschabte Lederjacken tauchten auf und verschwanden wieder. Auf dem Korridor schlugen zwei Männer mit Hämmern eine Kiste auf. Darin lagen, in Stroh verpackt, funkelnagelneue, dick eingefettete Drillingsgewehre. Einige andere Kisten waren schon leer und lagen neben dem Eingang im Schmutz herum.
Da tauchte Kortschagin wieder auf. Im Vorbeigehen rief er drei bewaffneten Arbeitern zu: “Macht rasch, dass ihr hinkommt, und bleibt dann selbst draußen. Ihr lasst keinen ohne Ausweis vom Komitee hinein! Und schickt jemanden hierher, der uns sagen soll, wie es dort aussieht.”
“Aber wen sollen wir schicken?”
“Na, einen von unseren Leuten, den ihr gerade seht.”
“Das kann ich machen!” rief ich, bemüht, hinter den anderen an Begeisterung und gutem Willen nicht zurückzustehen.
“Na, dann nehmt doch ihn! Schnell laufen kann er.”
Ich hatte gesehen, dass fast jeder, der das Haus verließ, aus der geöffneten Kiste ein Gewehr mitnahm.
“Genosse Kortschagin”, sagte ich, “alle nehmen hier ein Gewehr mit – ich nehme mir auch eins.”
“Was willst du?” fragte er unwirsch und unterbrach sein Gespräch mit einem über und über tätowierten Matrosen.
“Ein Gewehr will ich haben! Bin ich denn schlechter als die anderen?”
In diesem Augenblick rief man aus dem Zimmer nebenan laut nach Kortschagin, er winkte nur mit der Hand und ging rasch hinein. Vielleicht wollte er damit bloß sagen, ich solle ihn in Ruhe lassen, aber ich verstand daraus, dass ich mir auch ein Gewehr nehmen dürfte. Ich nahm also auch ein Gewehr aus der Kiste, umklammerte es fest und verließ hinter den Posten das Haus.
Ich lief über den Hof und hörte gerade noch die soeben eingetroffene Nachricht: In Petrograd Sowjetmacht ausgerufen. Kerenski geflohen. In Moskau Kämpfe zwischen Arbeitern und Junkern.

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