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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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5. Kapitel

Selten kam mal ein Brief von Vater. Er schrieb wenig und immer nur das gleiche: “Bin gesund und munter. Wir hocken im Schützengraben, und keiner weiß, wann das alles mal vorbei ist.”
Ich war enttäuscht von seinen Briefen. Was stand eigentlich darin? Ein Soldat an der Front könnte doch von interessanten Dingen berichten, von einem Gefecht, einem Angriff oder von irgendwelchen Heldentaten. Las man aber Vaters Briefe, dann glaubte man, an der Front wäre die Langweile noch schlimmer als an den trüben Herbsttagen bei uns in Arsamas.
Warum schrieben nur die anderen von Schlachten und Heldentaten?
Da war zum Beispiel der Fähnrich Tupikow, ein Bruder von Mitka. Er schrieb jede Woche einen Brief und schickte auch Fotos mit. Auf einem Bild stand er neben einem Geschütz, auf einem anderen neben einem Maschinengewehr, oder er saß zu Pferde mit dem blanken Säbel in der Hand. Auf einem Bild schaute er aus einem Flugzeug heraus. Mein Vater aber ließ sich nicht einmal im Graben, geschweige denn im Flugzeug fotografieren.

*

Eines Tages, gegen Abend, klopfte es an unsere Wohnungstür. Draußen stand ein Soldat und fragte nach meiner Mutter. Er hatte ein Holzbein und ging auf Krücken. Mutter war nicht zu Hause, musste aber bald zurückkommen. Der Soldat sagte, er sei ein Kamerad von Vater aus demselben Regiment. Er stamme aus einem Dorf bei uns im Kreise und gehe jetzt für immer nach Hause … Vater ließe uns grüßen und habe ihm auch einen Brief mitgegeben.
Er setzte sich auf einen Stuhl und lehnte die Krücken an den Ofen. Dann holte er aus seiner Brusttasche einen Brief hervor. Der war voller Fettflecken.
Ich wunderte mich, wie dick der Brief war. Noch nie hatte Vater so einen dicken Brief geschickt. Wahrscheinlich waren diesmal Fotografien darin.
“Sie sind mit ihm im selben Regiment gewesen?” fragte ich und schaute neugierig dem Soldaten in sein hageres und – wie mir schien – finsteres Gesicht, auf seinen grauen, zerdrückten Mantel mit dem Georgskreuz und auf den groben Stelzfuß an seinem linken Bein.
“Im selben Regiment, in derselben Kompanie und im selben Zug, auch im Graben waren wir immer zusammen, Seite an Seite… Du bist wohl sein Junge, was?”
“Ja.”
“Aha, der Boris also. Ich weiß. Hab ich von deinem Vater gehört. Hier ist auch ein Paket für dich. Aber dein Vater hat gesagt, du musst es verstecken, darfst nicht drangehen, bis er wiederkommt.”
Der Soldat griff in seine lederne Tasche – sie war aus einem Stiefelschaft gemacht. Bei jeder seiner Bewegungen verbreitete sich im Zimmer eine Wolke starken Jodoformgeruchs.
Er nahm ein Päckchen heraus und gab es mir. Es war in einen Lappen gewickelt und fest verschnürt, ein kleines Päckchen nur, aber schwer. Ich wollte es schon aufmachen, doch da meinte er: “Warte nur! Nicht so eilig, siehst es noch früh genug.”
“Na, wie geht‘s denn so bei euch an der Front? Was machen die Kämpfe, und wie ist die Stimmung bei unseren Soldaten?” fragte ich gelassen und wie selbstverständlich.
Der Soldat sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Unter seinem etwas spöttischen Blick verlor ich meine Ruhe, meine Frage erschien mir irgendwie geschwollen und unehrlich.
“Sieh mal an!” Der Soldat lächelte. “Wie die Stimmung ist? Das kannst du dir doch denken, mein Lieber, wie im Schützengraben die Stimmung ist… gedrückt ist sie, miserabel.”
Er zog seinen Tabaksbeutel heraus und drehte sich schweigend eine Zigarette. Dann blies er eine Wolke beißenden Machorkarauchs ins Zimmer und schaute an mir vorbei auf das Fenster, das rot war von der untergehenden Sonne.
“Es hängt uns alles längst zum Hals heraus, und kein Mensch weiß, wie lang das noch dauert”, fügte er hinzu.
Die Mutter kam. Als sie den Soldaten sah, blieb sie stehen und hielt sich am Türgriff fest.
“Ist was … passiert?” fragte sie leise. Ihre Lippen waren ganz bleich. “Was ist mit Alexej?”
“Vater hat einen Brief geschickt!” rief ich laut. “Einen ganz dicken … da sind bestimmt Fotos drin. Und für mich hat er auch ein Geschenk mitgegeben.”
“Lebt er, ist er gesund?” fragte Mutter und warf ihr Tuch ab. “Als ich reinkam und den grauen Mantel sah, kriegte ich Herzklopfen. Da ist bestimmt mit Vater was passiert – dachte ich.”
“Bis jetzt nicht”, antwortete der Soldat. “Er lässt vielmals grüßen … und ich soll das Päckchen abgeben. Er wollte es nicht mit der Post schicken … auf die Post kann man sich heute nicht verlassen.”
Meine Mutter riss den Umschlag auf. Bilder waren nicht drin, nur fettige, voll geschriebene Blätter.
An einem klebte ein wenig Erde mit einem vertrockneten Grashalm.
Ich öffnete das Päckchen – eine Mauserpistole war darin mit einem Reservemagazin.
“Was hat er sich nur dabei gedacht!” Mutter war ärgerlich. “Das ist doch kein Spielzeug!”
“Ist das denn schlimm?” antwortete der Soldat. “Dein Junge ist doch nicht dumm, wie? Er ist bald so groß wie ich. Jetzt soll er sie noch verstecken. Eine gute Pistole ist das. Alexej hat sie in einem deutschen Graben gefunden. So was kann man immer mal brauchen.”
Ich berührte den kalten Griff der Waffe, wickelte sie vorsichtig ein und legte sie in einen Kasten.
Der Soldat trank mit uns Tee; sieben Glas trank er aus und erzählte die ganze Zeit von Vater und vom Krieg. Ich trank nur ein halbes Glas, Mutter aber rührte ihre Tasse nicht einmal an. Zwischen ihren Arzneisachen fand sie ein Fläschchen mit Alkohol und schenkte dem Soldaten davon ein. Er blinzelte nur und goss etwas Wasser hinzu. Langsam trank er aus, seufzte und schüttelte sich.
“Hat ja alles keinen Sinn mehr”, sagte er und schob das Glas zur Seite. “Zu Hause die Wirtschaft ist ruiniert, schreiben sie. Aber wie hätte ich helfen sollen? Haben selbst schon monatelang nichts zu fressen. Und Heimweh haben wir, was glaubst du wohl…? Wenn doch nur Schluss wäre! Sind ja alle am Ende, die Leute! Manchmal, da kommt‘s einem hoch wie das rostige Wasser im Kessel. Ach, wenn man nur könnte, dann wäre einem alles egal, und man würde einfach nach Hause laufen. Soll doch Krieg führen, wer will! Ich hab dem Deutschen nichts genommen, und er mir auch nicht!
Das Gesicht des Soldaten war ganz rot geworden, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und stärker und immer stärker roch es im Zimmer nach Jodoform. Ich machte das Fenster auf, und mit einem Male war die Frische des Abends im Zimmer und der Duft von Heu und überreifen Kirschen.
Ich saß auf der Fensterbank, malte mit dem Finger auf der Scheibe herum und hörte dem Soldaten zu. Seine Worte drangen in mich ein wie beißender, trockener Staub. Und dieser Staub legte sich als dicke Schicht auf all meine so klaren Vorstellungen vom Krieg, von seinen Helden und seinen hehren Zielen. Beinahe Hasste ich den Soldaten.
Er schnallte sein Koppel ab und knöpfte den schweißnassen Kragen des Hemdes auf. Er schien betrunken und fuhr fort: “Sterben, das ist natürlich schlecht. Aber nicht das Sterben hat den Krieg schlecht gemacht. Der Krieg ist eine Schande. Aber der Tod ist keine Schande. Früher oder später muss der Mensch sterben, das ist ein Gesetz. Aber wer hat ein Gesetz erfunden, dass der Mensch Krieg führen muss? Ich hab es nicht erfunden, du hast es nicht erfunden, er auch nicht, aber wer war‘s denn?
Der Soldat schwieg, zog die Augenbrauen zusammen und sah meine Mutter finster an. Sie hatte unverwandt auf die Tischdecke geschaut und kein Wort gesagt. Er stand auf, langte nach dem Teller mit dem Hering und sagte begütigend und mit einem leisen Vorwurf: “Was hast du denn…? Ja, von so was haben wir draußen gesprochen. Lauter dummes Zeug. … Kommt Zeit, kommt Rat, auch der Krieg geht mal zu Ende. Aber … vielleicht ist noch was in der Flasche, wie?”
Mutter hob nicht einmal den Blick, als sie ihm die letzten Tropfen des warmen, duftenden Alkohols ins Glas goss.
Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie hinter der Wand weinen, hörte das Papier rascheln, als sie Vaters Briefe las. Dann leuchtete durch eine Ritze das trübe grüne Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbild. Ich wusste, jetzt betete meine Mutter.
Vaters Briefe hat sie mir nie gezeigt. Was er geschrieben hatte und warum sie weinte in jener Nacht, ich hätte es damals sowieso nicht verstanden.
Am anderen Morgen verließ uns der Soldat.
Als er ging, klopfte er mir auf die Schulter und sagte, so als hätte ich ihn nach etwas gefragt: “Nimm‘s nicht so schwer, Junge … Du bist noch jung. Ach, warte noch ein bisschen, und du siehst alles klarer als wir!”

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