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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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7. Kapitel

Nach zwei Tagen wurde es besser mit Zigeunerchen. Als ich ihn am Abend besuchte, lag er auf einem Haufen trockenen Laubs, schaute zum schwarzen Sternenhimmel hinauf und sang leise vor sich hin.
“Zigeunerchen”, schlug ich ihm vor, “ich will ein Feuer anmachen, hier gleich neben dir, dann können wir uns Tee kochen; ich hab noch Milch in der Feldflasche. Willst du, ja?”
Ich lief und holte Wasser. Dann steckte ich zwei Bajonette über dem Feuer in die Erde, legte einen Reinigungsstock darüber und hängte das Kochgeschirr daran. Ich setzte mich zu dem Verwundeten und fragte: “Was war das für ein Lied, das du eben gesungen hast, Zigeunerchen?”
Nach einer Weile antwortete er: “Das ist so‘n ganz altes Lied, wie wir Zigeuner es singen: ‚Die Zigeuner haben kein Vaterland, ihr Vaterland ist überall dort, wo man gut zu ihnen ist.‘ Und dann heißt es in dem Lied: ‚Aber wo ist man gut zu dir, Zigeuner?‘ Und dann antwortet der Zigeuner, er ist durch viele Länder gezogen, bei den Ungarn war er, bei den Bulgaren und bei den Türken, durch viele Länder ist er mit seinem Stamm gewandert, aber ein Land, wo man gut zu ihm ist, das hat er noch nie gefunden.”
“Aber, Zigeunerchen”, fragte ich ihn, “und warum bist du nun zu uns gekommen? Ihr braucht doch gar nicht Soldat zu werden.”
Wie ein heller Schimmer ging es über sein Gesicht, er stützte sich auf den Ellenbogen und antwortete: “Ich bin von selbst gekommen, mich brauchen sie nicht zu holen. Ich wollte nicht mehr im Zigeunerlager sein. Mein Vater, der kann nur Pferde stehlen, und meine Mutter ist eine Wahrsagerin. Mein Großvater hat auch Pferde gestohlen, und meine Großmutter hat auch den Leuten gewahrsagt. Aber keiner von ihnen hat sich das Glück gestohlen, und keiner hat sich ein gutes Los wahrsagen können. Das muss man ganz anders anfangen…”
Er war lebhaft geworden, richtete sich auf, aber da spürte er seine Wunde und sank mit zusammengebissenen Zähnen ächzend wieder auf sein Blätterlager zurück.
In diesem Augenblick kochte die Milch über und lief in die Flamme, dass das Feuer erlosch.
Rasch wollte ich zugreifen und das Kesselchen vom Feuer ziehen, da war es schon zu spät. Zigeunerchen aber lachte plötzlich auf.
“Was hast du denn?”
“Ich hab gedacht, alle Menschen sind doch so, die Russen und die Juden, die Grusinier und die Tataren – sie alle haben ein trauriges Leben gehabt, lange Zeit haben sie es ausgehalten, aber dann sind sie wie die Milch hier im Kessel übergekocht und haben sich ins Feuer gestürzt. Auch ich hab dagesessen und lange gewartet, dann hab ich es auf einmal nicht mehr ausgehalten, hab ein Gewehr genommen und bin weggelaufen, hab das schöne Leben suchen wollen.”
“Und glaubst du, du wirst es finden?”
“Allein nicht… aber alle zusammen müssen es doch finden… weil, weil sie es doch alle so gern wollen.”
Da trat Tschubuk hinzu.
“Komm, setz dich und trink einen Schluck Tee mit uns”, schlug ich ihm vor.
“Keine Zeit”, sagte er. “Willst du mit mir kommen, Boris?”
“Klar, ich komm mit”, antwortete ich sofort, ohne zu fragen wohin.
‚Dann trink rasch deinen Becher aus, der Wagen wartet schon auf uns.”
“Was für‘n Wagen, Tschubuk?”
Er nahm mich beiseite und erklärte mir, wenn es hell würde, werde unsere Abteilung abrücken, wir würden uns nicht weit von hier den Kumpeln von Begitschew anschließen und mit ihnen gemeinsam zu den Unsrigen durchbrechen. Aber die drei Schwerverwundeten müssten zurückbleiben, da wir zwischen den Weißen und den Deutschen hindurch müssten.
Er fuhr fort: “Nicht weit von hier wohnt ein Imker. Eine ganz abgelegene Ecke ist das. Dieser Imker gehört zu uns, bei ihm können die Verwundeten bleiben, bis sie wieder gesund sind. Von dem Mann hab ich einen Wagen geholt, und jetzt wollen wir die Verwundeten hinbringen, solange es noch dunkel ist.”
“Wer geht sonst noch mit?”
“Sonst niemand. Nur wir zwei. Ich würd auch allein hinkommen, aber mein Pferd ist so störrisch. Einer muss es am Zügel führen, und der andere kann sich um die Verwundeten kümmern. Du gehst also mit, ja?”
“Ich geh mit, Tschubuk, ist doch klar. Mit dir geh ich immer mit, geh ich überall hin. Und wann kommen wir von da zurück?”
“Wir kommen nicht mehr zurück. Von da gehen wir an einer Furt durch den Fluss, da treffen wir unsere Leute wieder. Also, gehen wir los!”
Tschubuk trat an sein Pferd. Aus dem Dunkel hörte ich seine Stimme: “Pass auf, dass mein Gewehr nicht rausfällt.”
Mit einem leichten Ruck zog der Wagen an. Wenn die Räder einen Strauch berührten, sprühten mir die Tautropfen ins Gesicht. Der Weg machte eine Biegung; die niedergebrannten Feuer, die unsere Soldaten beim Aufbruch auseinandergezerrt hatten, waren im Dunkel verschwunden.
Der holprige Weg war voller Schlaglöcher, Wurzeln ragten aus dem Boden hervor. Weder Tschubuk noch das Pferd konnte ich sehen, so dunkel war es. Unsere Verwundeten hatten wir im Wagen auf frischem Heu gebettet. Sie rührten sich nicht und schwiegen.
Ich ging hinten. In der einen Hand hatte ich mein Gewehr, mit der anderen hielt ich mich am Wagen fest. Es war ganz still. Hätten nicht über uns am nächtlichen Himmel die Kiebitze geschrieen, hätte man glauben können, die dunkle Nacht wäre ohne alles Leben. Keiner von uns sprach ein Wort. Nur wenn die Räder durch ein Loch fuhren oder gegen eine Wurzel stießen, stöhnte Timoschkin leise auf.
Das lichte, halb abgeholzte Wäldchen schien in der Dunkelheit undurchdringlich, riesengroß und wild. Der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen und hing wie eine schwarze Decke über dem Weg. Es war schwül, und mir schien es, als tasteten wir uns durch einen langen, gewundenen Gang hindurch – ohne Ende und ohne Ziel.
Es war schon lange her, drei Jahre vielleicht, da kam ich einmal nachts mit meinem Vater vom Bahnhof zurück. Wir gingen den kürzesten Weg durch ein Wäldchen. Es war eine warme Nacht, so wie heute, und so wie heute schrieen die Kiebitze über uns am dunklen Himmel, und es roch ebenso stark nach Pilzen und reifen Himbeeren. Daran musste ich jetzt denken – ich wusste nicht, warum.
Mein Vater hatte auf dem Bahnhof von seinem Bruder Pjotr Abschied genommen und mit ihm ein paar Glas Wodka getrunken. Vielleicht war er deshalb so erregt und gesprächig, vielleicht aber lag es nur daran, dass die Himbeeren allzu süß dufteten. Er erzählte mir von seiner Jugend, von seinem Studium auf dem Seminar, und wie sie in der Schule noch mit Ruten geprügelt wurden. Darüber lachte ich und wollte nicht glauben, dass man einen so großen und starken Menschen wie meinen Vater einmal hatte verprügeln können.
“Das hast du irgendwo gelesen”, wandte ich ein. “Es gibt ein Buch, das heißt ‚Skizzen aus der Burse‘. Aber das war alles in früheren Zeiten, Gott weiß, wann das war!”
“Und du glaubst, es sei noch nicht lange her, dass ich zur Schule ging? Es ist wirklich schon lange her.”
“Vater, du hast doch mal in Sibirien gelebt… Aber das muss ja schrecklich gewesen sein, da leben doch diese – Zuchthäus1er. Petka hat mir erzählt, dort kann man einen totschlagen, und es kräht kein Hahn danach.”
Mein Vater lachte nur und versuchte mir das alles zu erklären. Aber ich verstand ihn damals noch nicht. Was er erzählte, war alles so seltsam: Die Zuchthäusler wären überhaupt keine Verbrecher, er hätte sogar gute Bekannte unter ihnen gehabt. In Sibirien lebten viele gute Menschen, viel mehr als in Arsamas.
Aber das alles ging damals an meinen Ohren vorbei, wie auch so manches andere, was mir mein Vater erzählte, dessen Sinn ich erst jetzt zu begreifen beginne.
Nein… niemals, niemals wäre ich früher daraufgekommen, dass mein Vater ein Revolutionär sei. Wenn ich aber jetzt bei den Roten war und ein Gewehr umhängen hatte, so lag das nicht daran, dass mein Vater ein Revolutionär und ich sein Sohn war. Das alles war ganz von selbst gekommen. Ich selbst war ganz allein daraufgekommen, dachte ich. Und dieser Gedanke machte mich stolz. Es stimmte doch, ich hatte mir aus all den vielen Parteien, die es gab, die richtige, die revolutionäre Partei ausgesucht.
Ich wollte mit Tschubuk darüber sprechen, da war mir mit einem Male, als schritte niemand mehr neben dem Pferdekopf her, als zöge das Pferd den Wagen schon lange einen unbekannten Weg entlang.
“Tschubuk!” rief ich erschrocken.
“Ja?” hörte ich seine rauhe Stimme. “Was brüllst du so?”
“Tschubuk”, sagte ich verwirrt, “haben wir noch weit?”
“Na, es geht”, antwortete er und blieb stehen. “Komm mal her und halt mir mal den Mantel hin, ich will meine Pfeife anstecken.”
Wie ein Glühwürmchen flimmerte die brennende Pfeife neben dem Kopf unseres Pferdes. Der Weg war besser geworden, der Wald trat zurück, und wir konnten nebeneinanderher gehen.
Ich erzählte Tschubuk, worüber ich die ganze Zeit nachgedacht hatte. Sicherlich würde er meine Klugheit loben, die mich zu den Bolschewiki geführt hatte. Tschubuk antwortete nicht sofort, er rauchte erst noch die halbe Pfeife aus; dann sprach er ernst: “Gewiss, so was gibt es. Es kommt vor, dass ein Mensch allein durch seinen Verstand daraufkommt… Lenin zum Beispiel. Aber du, mein Junge, du hast doch kaum…”
“Wieso, Tschubuk?” fragte ich beleidigt. “Ich bin doch wirklich von selbst daraufgekommen.”
“Von selbst…? Das scheint dir nur so. Das Leben hat dich zu uns gebracht; aber du sagst, du bist von selbst daraufgekommen. Zuerst haben sie deinen Vater erschossen; dann hast du alle deine Schulkameraden gegen dich gehabt, und schließlich hat man dich aus der Schule rausgeschmissen. Wenn das alles nicht gewesen wäre, dann hättest du vielleicht von selbst draufkommen können. Darfst drum nicht böse sein”, setzte er hinzu, als er bemerkte, wie sehr mich das kränkte, “mehr verlangt ja kein Mensch von dir.”
“Das heißt, Tschubuk, es war alles umsonst, und ich bin überhaupt kein Roter?” fragte ich mit zitternder Stimme. “Es ist also alles nicht wahr… dann bin ich auch nicht mit dir auf Aufklärung gewesen, bin nicht an die Front gegangen, zur Verteidigung unserer… das willst du doch damit sagen.”
“Bist du aber dumm! So ist es doch nicht gemeint. Ich hab nur gesagt, die Umstände waren es, die dich… aber du sagst immer, das hättest du alles von selbst schon gewusst und beschlossen. Wenn sie dich nämlich ins Kadettenkorps gesteckt hätten, dann wärst du jetzt ein Junker bei Kaledin.”
“Und wenn sie dich reingesteckt hätten?”
“Mich?” Tschubuk lachte laut auf. “Ich hab zwanzig Jahre in der Grube gearbeitet, mein Junge. Das kriegst du durch keine Junkerschule mehr raus!”
Das hatte mich schwer getroffen. Ich war tief gekränkt und wollte schon nichts mehr sagen. Aber ich konnte nicht schweigen.
Ich wusste, Tschubuk hatte mich gern; aber spürte auch er in diesem Augenblick, wie sehr ich ihn liebte, viel mehr als irgendeinen anderen? Ein guter Mensch ist er, dachte ich, ein Kommunist, hat zwanzig Jahre im Schacht gearbeitet, hat schon graue Haare, und doch ist er immer bei mir… nur bei mir. Ich muss es wohl wert sein; und ich werde es noch mehr verdienen! Beim nächsten Gefecht werde ich mich nicht bücken und ducken; und wenn sie mich totschießen, ist mir das auch egal. Dann schreiben sie meiner Mutter einen Brief: “Euer Sohn war ein Kommunist und starb für die große Sache der Revolution.” Meine Mutter wird weinen und mein Bild neben Vaters Bild an die Wand hängen; und das neue, strahlende Leben geht seinen Gang, geht auch an dieser Wand vorbei.
Schade, dass die Popen lügen, dachte ich bei mir, schade, dass der Mensch keine Seele hat. Denn wenn er eine Seele hätte. könnte sie ja hineinschauen in die Zukunft, könnte sehen, wie das Leben einmal werden wird. Ein schönes und interessantes Leben muss das sein.
Der Wagen hielt. Tschubuk griff hastig in die Tasche und sagte mit leiser Stimme: “Da vor uns, da trampelt doch was rum. Gib mal das Gewehr.”
Wir führten den Wagen in das Gebüsch. Ich blieb zurück, und Tschubuk verschwand. Er war bald wieder da.
“Keinen Laut mehr… da vorn kommen vier Kosaken angeritten. Gib mal den Sack her… will dem Pferd die Schnauze zubinden, damit es nicht ausgerechnet jetzt loswiehert.”
Die Hufschläge kamen näher. Nicht weit vor uns fielen die Kosaken vom Trab in Schritt. Aus einem Loch in den Wolken schaute ein Zipfel des Mondes hervor und beleuchtete den Weg. Von meinem Versteck im Gebüsch aus sah ich vier Papachas. Ein Offizier war auch dabei – seine goldenen Schulterstücke blitzten auf und verschwanden wieder im Dunkeln. Wir warteten, bis das Pferdegetrappel nicht mehr zu hören war, dann fuhren wir weiter.
Es dämmerte schon, als wir bei einem kleinen Bauernhof ankamen. Auf das Rollen unseres Wagens hin kam der Imker zum Tor heraus, schlaftrunken, ein lang aufgeschossener, rothaariger Mensch mit eingefallener Brust und mageren Schultern, die unter seinem offenen Baumwollhemd spitz hervortraten. Er führte das Pferd über den Hof und öffnete ein Tor, von dem ein kaum sichtbarer grasüberwachsener Pfad weiterführte.
“Hier müssen wir raus… Im Wald dahinten, am Sumpf, da steht ‘ne Scheune. Da haben sie‘s ruhiger.”
In der kleinen Scheune duftete es nach frischem Heu. Ganz still war es hier draußen. In einer Ecke waren einige grobe Decken ausgebreitet. Zwei sorgfältig zusammengelegte Schaffelle bildeten ein Kopfkissen. Neben dem Lager standen ein Eimer Wasser und ein Birkenholzkrug mit Kwaß.
Wir trugen die Verwundeten hinein.
“Vielleicht wollt ihr was essen?” fragte der Imker. “Am Kopfende liegt Brot und Salz. Meine Frau melkt die Kühe und bringt euch Milch.”
Wir mussten weiter, um die Unsrigen an der Furt nicht zu verfehlen. Für die Verwundeten hatten wir getan, was wir konnten; dennoch war uns nicht wohl zumute, als wir vor ihnen standen. Wir ließen sie allein, ohne Hilfe allein im fremden, feindlichen Land.
Timoschkin musste das wohl empfunden haben.
“Na, dann geht mit Gott!” sagte er mit blassen, aufgesprungenen Lippen. “Ich dank dir, Tschubuk, und dir auch, Junge. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns doch mal wieder.”
Samarin schlug die Augen auf und nickte uns noch einmal zu; er war stärker mitgenommen als die anderen. Zigeunerchen sagte gar nichts, stützte sich auf und blickte uns ernst an. Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen.
“Na denn, Jungens, macht‘s gut”, sprach Tschubuk, “und werdet wieder ganz gesund. Der Bauer hier ist ein zuverlässiger Mann, der lässt euch nicht im Stich. Also nochmals, macht‘s gut…”
An der Scheunentür drehte sich Tschubuk noch einmal um. Er hustete laut, dann trat er gesenkten Kopfes ins Freie und klopfte noch im Hinausgehen am Gewehrkolben seine Pfeife aus.
“Viel Glück, Genossen!” rief Zigeunerchen laut hinter uns her. Wir blieben noch einmal stehen und drehten uns um. “Und schlagt die Weißen, alle Weißen auf der Welt!” fügte er mit klarer Stimme hinzu. Langsam sank sein schwarzer Kopf auf das weiche Schaffell.

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