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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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8. Kapitel

Rot war der Sand unten am Fluss; ganz allmählich ging das Ufer ins Wasser über. Funkelnd im Sonnenlicht kräuselten sich die Wellen. An der Furt war niemand von unseren Leuten zu sehen.
“Aber die müssen hier vorbeigekommen sein”, meinte Tschubuk. “Doch egal… nicht weit von hier soll eine verlassene Hütte stehen, daneben wollen sie Rast machen.”
“Hier können wir doch baden, Tschubuk”, schlug ich vor. “Das geht ganz rasch! Sieh mal, wie warm das Wasser ist.”
“Hier baden, nein, das geht nicht. Die Stelle ist viel zu offen.”
“Na, und wennschon?”
“Was heißt: und wennschon? Ein nackter Mensch ist kein Soldat. Wenn du nackt bist, kann dich jeder kriegen, auch wenn er nur nen Knüppel hat. Was willst du machen, wenn ein Kosak kommt und dir das Gewehr wegnimmt. Der macht mit dir, was er will. Bei Choper ist mal so‘n Ding passiert. Da sind nämlich nicht bloß zwei baden gegangen, sondern ein ganzer Zug, so an die vierzig Mann. Ja, und auf einmal waren fünf Kosaken da und haben den Fluss runter geschossen. Da war was los…! Ein paar Mann sind gefallen, die anderen haben noch das jenseitige Ufer erreicht. Splitternackt sind sie im Wald rumgelaufen. Und in der Gegend nur reiche Dörfer… lauter Kulaken. Wohin sollten sie gehen? Jeder wusste ja sofort, so‘n nackter Kerl konnte nur ‘n Bolschewik sein!”
Aber ich überredete ihn trotzdem. Wo die Büsche dichter standen, etwas weiter weg von der Furt, sprangen wir rasch ins Wasser und badeten. Dann ging‘s durch den Fluss hindurch zum anderen Ufer; unsere Hosen und Stiefel, mit einem Riemen zusammengebunden, trugen wir an der Spitze der Bajonette über das Wasser. Nach dem Baden war das Gewehr leichter, drückte die Patronentasche nicht mehr so sehr.
Am Rande des Gehölzes schritten wir munter aus und kamen bald an eine Hütte. Sie war von ihren Bewohnern verlassen, die Fensterscheiben waren herausgenommen, sogar den Kessel hatte man aus der Herdplatte herausgebrochen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Leute mitgenommen.
Vorsichtig, mit zusammengekniffenen Augen, ging Tschubuk um die Hütte herum; dann steckte er zwei Finger in den Mund und stieß einen langen Pfiff aus. Das Echo wanderte im Wald umher, verschwand und war wieder da, irrte hin und her und hörte schließlich ganz auf. Nur das eintönige Rauschen der Blätter blieb. Es kam keine Antwort.
“Wir können doch nicht schon vor ihnen dasein? Na gut, warten wir ab!”
Im Schatten unter einem Strauch am Wege suchten wir uns einen Platz zum Ausruhen. Es war heiß. Meinen Mantel rollte ich zusammen und legte ihn unter den Kopf. Die lederne Tasche nahm ich ab, da sie mich störte. Ihr Leder war zerkratzt und verblichen. Nachts und auf unseren Märschen hatte sie oft auf der feuchten Erde gelegen.
In der Tasche waren ein Messer, ein Stück Seife, eine Nadel mit einem Knäuel Bindfaden und der mittlere Teil des Konversationslexikons von Pawlenkow, den ich irgendwo gefunden hatte.
So ein Lexikon kann man immer wieder lesen. Man lernt es nie auswendig, und gerade deswegen hatte ich es mitgenommen. Wenn wir eine Rast machten oder irgendwo längere Zeit in einem Hohlweg oder im Walde liegen mussten, nahm ich die zerknitterten Seiten zur Hand und las hintereinander alles, was mir vor die Augen kam; Lebensgeschichten von Mönchen, Generalen und Königen, ein Verfahren zur Herstellung von Lack, philosophische Ausdrücke, die Geschichte von Kriegen längst vergangener Zeiten und eine Abhandlung über das Fürstentum Monaco, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Gleich daneben stand, wie aus Tierknochen Dünger gemacht wird. Auf diese Weise lernte ich allerlei Wichtiges und Unwichtiges, angefangen vom Buchstaben D bis zum Buchstaben R – dort hörte mein Lexikon auf.
Vor ein paar Tagen war ich auf Posten gezogen und hatte mir noch rasch ein Stück Schwarzbrot in meine Ledertasche gesteckt. Jetzt sah ich, dass das vergessene Stück Brot zerkrümelt war und die Blätter des Lexikons mit Brotteig verklebt hatte. Ich schüttete den Inhalt meiner Tasche ins Gras und wollte sie mit der Hand von innen auswischen. Dabei blieb ich mit dem Finger in einem Riss des ledernen Futters hängen.
Ich hielt die Tasche ins Licht, schaute hinein und sah, dass hinter dem abstehenden Lederfutter ein Stück weißen Papiers steckte.
Neugierig geworden, riss ich das Futter weiter auf und zog ein Bündel Papiere heraus. Einen Bogen faltete ich auseinander. In der Mitte war der goldene doppelköpfige Adler zu sehen, darunter stand in Goldbuchstaben “Zeugnis”.
Es war das Zeugnis des Kadetten Juri Waald aus der 2. Kompanie des “Graf-Araktschejewschen Kadettenkorps”. Ihm wurde bescheinigt, dass er das Lehrjahr mit Erfolg beendet, sich ausgezeichnet geführt und fleißig gelernt hatte und in die nächsthöhere Klasse versetzt worden war.
Das war es also! Nun wusste ich, wer der Unbekannte war, den ich im Wald erschossen hatte, jener Unbekannte in der schwarzen Bluse mit den abgeschnittenen Knöpfen, auf deren Kragenfutter die Buchstaben Gr. A. K. K. aufgedruckt standen.
Das zweite Papier war ein Brief jüngeren Datums in französischer Sprache. War auch seit meiner Schulzeit von dieser Sprache nur noch sehr wenig in meinem Gedächtnis übrig geblieben, so hatte ich doch nach einer halben Stunde aus einzelnen Worten, wobei ich das Fehlende erraten musste, so viel verstanden, dass es ein Empfehlungsschreiben an einen gewissen Oberst Korenkow war. Er wurde gebeten, sich um den Kadetten Juri Waald zu kümmern.
Gerade wollte ich Tschubuk diese interessanten Papiere zeigen, da sah ich, dass er eingeschlafen war. Wecken mochte ich ihn nicht, .hatte er doch seit gestern morgen keine Ruhe gefunden. So steckte ich die Papiere wieder in die Tasche und schlug mein Lexikon auf.
Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, da vernahm ich durch das Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel hindurch auf einmal ein seltsames Geräusch. Es kam von weit her. Ich stand auf und hielt lauschend die Hand ans Ohr. Immer deutlicher hörte ich jetzt schon Hufschlag und menschliche Stimmen.
“Tschubuk!” Ich packte ihn. “Steh auf, sie kommen!”
“Sie kommen!” wiederholte Tschubuk mechanisch, stand auf und rieb sich die Augen.
“Ja… sie sind schon bald hier. Los, komm schon!”
“Ja, bin ich denn eingeschlafen?” wunderte sich Tschubuk. “Ich hab mich bloß hingelegt – und da war ich auch schon weg.”
Verschlafen blinzelte er in die Sonne und griff nach dem Gewehr.
Schon hörte ich Stimmen, beinahe neben unserer Hütte. Rasch sprang ich hinaus, warf meine Mütze in die Luft und schrie laut, um unsere Genossen zu begrüßen.
Wo die Mütze hinfiel, sah ich nicht mehr. Ich war plötzlich wie gelähmt, einen schrecklichen Fehler hatte ich begangen.
“Zurück!” brüllte Tschubuk hinter mir mit heiserer Stimme.
Fast gleichzeitig fielen drei Schüsse aus den ersten Reihen einer heranmarschierenden Kolonne. Von unsichtbarer Gewalt wurde mir der Kolben so heftig aus der Hand gerissen, dass ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Aber dieser heftige Stoß brachte mich zur Besinnung. Die Weißen – durchzuckte es mich, als ich auf Tschubuk zustürzte. Tschubuk schoss zurück.
Die Weißen waren nach allen Seiten ausgeschwärmt und jagten eine geschlagene Stunde hinter uns her. Trotzdem konnten wir entkommen. Aber als wir die Stimmen unserer Verfolger schon nicht mehr hörten, irrten wir noch lange durch den Wald; wir waren nass bis auf die Haut, der Kopf glühte. Gierig sogen unsere ausgetrockneten Kehlen die frische Waldluft ein, unsere schmerzenden Füße stolperten über Wurzeln und Unebenheiten des Bodens.
“Jetzt langt‘s”, sagte Tschubuk und ließ sich schwer ins Gras fallen. “Wir wollen uns ausruhen. Da sind wir aber schön reingefallen, Boriska! Und ich bin schuld… bin eingeschlafen, und da hast du auf einmal gerufen: ‚Da sind sie, sie kommen!‘ Ich war noch gar nicht richtig wach und hab gedacht, du hättest sie schon gesehen…”
In diesem Augenblick schaute ich auf mein Gewehr. Der Schaft war zersplittert, das Magazingehäuse verbogen.
Ich reichte Tschubuk das Gewehr. Er besah es sich von allen Seiten, dann warf er es ins Gras.
“Ist nur noch‘n Knüppel, dein Gewehr”, sagte er verächtlich, “damit kannst du höchstens noch Schweine vor den Kopf schlagen. Na, schön! Hauptsache, du bist heil geblieben. Wo hast du denn deinen Mantel? Der ist weg? Ich hab meinen auch weggeschmissen. Junge, Junge, war das ‘n Ding!”
Am liebsten wäre ich liegen geblieben, einfach regungslos liegen geblieben, hätte die Stiefel ausgezogen und den Hemdkragen aufgeknöpft; aber schlimmer als alle Müdigkeit war der Durst – doch Wasser weit und breit nicht zu sehen.
Wir standen auf und gingen langsam weiter. Dabei kamen wir auf einen Acker; unten im Grund drängten sich die Häuschen eines kleinen Dorfes dicht zusammen, die weißen Lehmhütten mit den braunen Strohdächern sahen aus wie dicke Birkenpilze. Wir wollten aber nicht hinuntergehen, sondern schritten über das Feld hinweg und kamen wieder in dichten Wald.
“Ein Haus”, flüsterte ich, blieb stehen und deutete mit dem Finger geradeaus, ‚wo ein Stück eines roten Blechdaches zu sehen war.
Wir fürchteten in einen Hinterhalt zu geraten und schlichen uns vorsichtig bis an den hohen Lattenzaun heran. Das Tor zum Hof war fest verschlossen. Es bellten keine Hunde, es gackerten keine Hühner, und es stampften auch keine Kühe im Stall – es war so totenstill, als hätte sich alles Leben vor uns verborgen. Wir gingen um das ganze Gehöft herum – nirgends ein Eingang.
“Komm, steig mir auf den Rücken”, sagte Tschubuk, “dann schaust du über den Zaun und siehst, was da los ist.”
Über den Zaun hinweg sah ich in einen leeren, mit Gras bewachsenen Hof; auf seinen niedergetrampelten Beeten standen noch einige geknickte Georginen, wuchsen dunkelblaue Stiefmütterchen.
“Nun?” fragte Tschubuk ungeduldig. “Komm runter, bin doch nicht aus Stein.”
“Niemand zu sehen”, antwortete ich und sprang hinab. “Vorn haben sie die Fenster mit Brettern zugenagelt, und an der Seite sind überhaupt keine Rahmen mehr drin. Hab gleich gesehen, das Haus steht leer. Aber auf dem Hof ist ein Brunnen.”
Wir schoben ein loses Brett im Zaun zur Seite und krochen durch das Loch in den Hof. Schimmelpilze wuchsen im Brunnenschacht, unten in der Tiefe glänzte tintenschwarzes Wasser, aber wir hatten nichts, womit wir Wasser hätten schöpfen können. Unter einem Schuppendach fand Tschubuk zwischen allerlei Gerümpel einen alten, verrosteten Eimer. Als wir ihn heraufgezogen hatten, war alles Wasser schon wieder ausgelaufen. Wir stopften eine Handvoll Gras in das Loch und holten den Eimer ein zweites Mal herauf. Das Wasser war klar und eiskalt, ließ sich nur in kleinen Schlucken trinken. Nachdem wir unsere verschwitzten, staubigen Gesichter gewaschen hatten, gingen wir auf das Haus zu. An der Seite zur Veranda hin stand eine Tür weit offen. Schief hing sie auf ihrer unteren Angel.
Wir traten vorsichtig auf die knarrenden Dielen und kamen in ein Zimmer.
Stroh, Papierfetzen und Lappen lagen auf dem Boden herum, in der Ecke standen ein paar leere Kisten, ein zerbrochener Stuhl und ein Geschirrschrank; seine Türen waren mit einem stumpfen, schweren Gegenstand eingeschlagen worden.
“Das waren die Bauern, die haben hier geplündert”, flüsterte Tschubuk, “haben alles mitgenommen, was sie gebrauchen konnten, und den Rest weggeschmissen.”
Im Zimmer nebenan fanden wir einen Haufen staubbedeckter Bücher; eine Bastmatte, mit Kalk bespritzt, war darüber ausgebreitet. Darauf lag das zerrissene Bild eines dicken Herren; mit holprigen Buchstaben hatte ein tintenbeschmierter Finger auf seine hochmütige, weiße Stirn ein unanständiges Wort geschrieben.
Uns war ganz eigenartig zumute, wie wir so durch die einzelnen Zimmer dieses verlassenen Hauses hindurchgingen. Ein zerschlagener Blumentopf, eine vergessene Fotografie, ein blinkender Knopf in einem Müllhaufen, zertretene Schachfiguren, eine Spielkarte Pique König, die aus einem Kartenspiel herausgefallen sein mochte und nun verlassen zwischen den Scherben einer japanischen Vase lag – lauter kleine Dinge erinnerten an jene Menschen, die einst Herren auf diesem Gutshof waren, sorgenfreie Menschen in einer Zeit, die so ganz anders war als unsere.
Hinter der Wand war auf einmal ein leises, tappendes Geräusch. Es kam so unerwartet in der Grabesstille dieser verwüsteten Zimmer, dass es einem kalt über den Rücken lief.
“Wer ist da?” Jäh zerriss Tschubuks Stimme das Schweigen; er hob sein Gewehr.
Lauernd kam ein großer roter Kater angeschlichen. Zwei Schritt vor uns machte er halt, miaute boshaft und hungrig. Kalt starrte er uns aus seinen grünen Augen an. Ich wollte ihn streicheln, aber da wich er zurück, sprang, ohne das Fensterbrett zu berühren, mit einem großen Satz auf das von Unkraut überwucherte Beet und verschwand im Grase.
“Dass der noch nicht krepiert ist?”
“Wie soll der krepieren? Der frisst doch Mäuse, und die hat er hier mehr als genug, das riecht man doch.”
In diesem Augenblick quietschte irgendwo im Haus eine Tür; es klang so unheimlich, dass uns das Blut in den Adern erstarrte. Dann folgte ein langsames Schlurfen, als wische jemand mit einem trockenen Lappen über den Fußboden. Wir blickten uns an – das waren Schritte eines Menschen.
“Verflucht noch mal, wer kommt denn da?” sprach Tschubuk leise. Lautlos entsicherte er sein Gewehr und zog mich zur Wand zwischen die Fenster.
Jemand hustete leicht. Ein Knäuel Papier rollte raschelnd zur Seite, als die Tür aufging und ein kleiner, schlecht rasierter alter Mann ins Zimmer trat. Er trug einen verschlissenen Schlafrock von blauer Farbe und hatte Pantoffeln an den nackten Füßen.
Erstaunt, aber ohne Furcht blickte uns der Alte an, verneigte sich höflich und sprach seelenruhig: “Ich habe gehört… da unten ist doch jemand. Vielleicht sind die Bauern gekommen, hab ich gedacht, aber diesmal waren sie‘s nicht. Ich hab zum Fenster rausgeschaut, aber einen Wagen hab ich nicht gesehen.”
“Wer bist du denn überhaupt?” fragte Tschubuk neugierig und nahm das Gewehr wieder über die Schulter.
“Gestatten Sie, dass ich zunächst frage, wer Sie sind?” verbesserte ihn, ebenso leise und gelassen, der alte Mann. “Wenn Sie es für richtig halten, mir einen Besuch zu machen, dann seien Sie auch so nett und stellen sich dem Hausherrn vor. Übrigens…”, er neigte ein wenig den Kopf und blickte Tschubuk mit seinen trüben grauen Augen schräg an, “aber da brauche ich ja wohl nicht zu fragen. Sie sind doch – Rote?”
Seine Unterlippe zuckte, als habe ihn jemand daran gezogen. Für einen Augenblick blitzte ein Goldzahn auf, hoben sich die müden Lider über seinen trüben Augen, und mit der großen Geste des gastfreundlichen Gutsherrn lud uns der Alte ein: “Darf ich bitten?”
Verwundert blickten wir uns an; an ausgeplünderten und verwüsteten Zimmern vorbei kamen wir zu einer schmalen Holztreppe, die nach oben führte.
“Ja, sehen Sie, ich muss meine Gäste oben empfangen”, sprach der Hausherr, und es klang wie eine Entschuldigung. “Wissen Sie, unten ist alles so unordentlich, nicht aufgeräumt… ich habe auch keinen, der das tun könnte, alle sind sie verschwunden, irgendwohin verschwunden; es kommt niemand mehr, wenn ich rufe. Bitte, hier hinein.”
Wir traten in ein kleines, helles Zimmer. An der Wand stand ein altes, wackliges Sofa, bei dem schon die Füllung herauskam. Eine Matte aus Lindenbast war das Laken, ein schöner, an mehreren Stellen verbrannter Teppich diente als Bettdecke. Der Schreibtisch daneben hatte nur noch drei Beine, über dem Tisch hing ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der wohl schon lange gestorben war und mit den Füßen nach oben in seinem Futternapf lag. Einige verstaubte Fotografien blickten von der Wand herab. Irgend jemand musste wohl dem Herrn dieses Hauses geholfen haben, die traurigen Überreste der zerschlagenen Möbel zusammenzutragen und damit dieses Zimmer auszustatten.
“Nehmen Sie doch bitte Platz”, sagte der Alte und deutete mit der Hand auf das Sofa. “Wissen Sie, ich hause hier ganz allein und habe schon sehr lange keine Gäste mehr gesehen. Manchmal kommen die Bauern angefahren und bringen mir was zu essen, aber so richtige ehrenwerte Leute habe ich schon lange nicht gesehen. Rittmeister Schwarz hat mich einmal besucht, Sie kennen ihn vielleicht…? Ach, entschuldigen Sie, Sie sind ja Rote.”
Ohne weiter zu fragen, griff er in den Schrank und nahm zwei angeschlagene Teller und zwei Gabeln heraus, eine einfache Küchengabel mit hölzernem Griff und eine kunstvoll gebogene Kuchengabel, die aber nur noch eine Zinke hatte. Dann tischte er uns einen Laib Schwarzbrot und einen halben Ring ukrainischer Wurst auf.
Nachdem er einen dick mit Ruß verschmierten Teekessel auf einem verbogenen Petroleumkocher aufgesetzt hatte, wischte er sich an einem Handtuch die Hände ab, das schon Gott weiß wie lange nicht mehr gewaschen worden war, und nahm eine wunderlich aussehende Pfeife von der Wand herunter. Der Pfeifenkopf war wie ein Ziegenbock geschnitzt, der uns mit seinem zahnlosen Maul angrinste. Dann stopfte der Alte seine Pfeife mit Machorka und ließ sich in einem verschlissenen Sessel nieder, dessen hervorstehende Sprungfedern einen summenden Ton von sich gaben. Wir saßen währenddessen auf dem Sofa und sprachen kein Wort.
Tschubuk schmunzelte, stieß mich vorsichtig an und tippte heimlich mit dem Finger an die Stirn.
Ich wusste, was er sagen wollte, und lächelte auch.
“Rote habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen”, sagte der Herr des Hauses und fragte im gleichen Atemzug interessiert: “Wie geht‘s denn Lenin?”
“Danke, dem geht‘s gut”, antwortete Tschubuk ernst.
“Hm, ihm geht‘s also gut…”
Der Alte stocherte mit einem Draht in seiner verstopften Pfeife herum und tat einen tiefen Seufzer.
“Warum sollte es ihm auch nicht gut gehen?” Er schwieg. Nach einer Weile begann er wieder, als hätten wir ihn danach gefragt: “Aber ich, ich bin nicht so ganz auf dem Posten, kann nicht schlafen in der Nacht, wissen Sie. Ich habe meine innere Ruhe verloren. Manchmal stehe ich auf und gehe durch alle Zimmer – es ist so still, nur die Mäuse hört man nagen.”
“Haben Sie das alles geschrieben?” fragte ich. Ich hatte auf dem Tisch einen dicken Stoß Blätter gesehen, die mit einer zierlichen Handschrift beschrieben waren.
“Ja, das hab ich geschrieben”, entgegnete er. “Das sind meine Gedanken über all das, was jetzt so passiert. Ich will nämlich einen Plan machen, wie man die Welt umgestalten soll. Ich bin Philosoph, wissen Sie, und schaue den Dingen, wie sie entstehen und vergehen, mit größter Ruhe zu. Ich klage auch nicht… nein, über gar nichts beklage ich mich.”
Mit diesen Worten stand der alte Mann auf, tat einen kurzen Blick aus dem Fenster und setzte sich wieder.
“Das laute Leben geht vorüber, aber die Wahrheit, die bleibt. Ja, sie bleibt”, wiederholte er, irgendwie erregt. “Auch früher hat es Rebellionen gegeben, den Aufstand Pugatschows und den vom Jahre fünf; da hat man auch die Gutshöfe zerstört und niedergebrannt. Aber die Zeiten gingen vorüber, und wie der Phönix aus der Asche entstand das Zerstörte aufs neue; es fand sich wieder zusammen, was getrennt worden war.”
“Ja, und was wollen Sie damit sagen? Dass alles wieder so wird wie früher, meinen Sie das?” fragte Tschubuk barsch. Er hatte aufmerksam zugehört.
Auf diese direkte Frage hin zuckte der Alte zusammen, lächelte unterwürfig und erwiderte: “Nein… aber was glauben Sie denn! Das habe ich nicht gemeint. Rittmeister Schwarz, der will so was, ich aber nicht. Er hat mir vorgeschlagen, die Bauern sollten mir alles zurückgeben, was sie von mir… geborgt haben, aber ich habe es nicht gewollt. Ich sage mir, was soll ich damit? Die Zeiten sind nicht danach, dass die Bauern etwas zurückgeben. Sie sollen mir lieber mein Leben lang etwas zu essen bringen und können dann meinetwegen mit meinem Besitz machen, was sie wollen!”
Hier erhob sich der Alte wieder und trat einen Augenblick ans Fenster. Plötzlich wandte er sich um und blickte auf den Tisch.
“Ich bin aber auch ein… und der Teekessel kocht schon über. Ich bitte Sie zu Tisch.”
Wir ließen uns nicht lange bitten, und schon krachten die Brotkrusten unter unseren Zähnen, und der Duft der guten Knoblauchwurst stieg uns angenehm in die Nase.
Der Hausherr ging ins Zimmer nebenan; wir hörten, wie er dort herumhantierte und irgendwelche Kisten schob.
“Ein komischer Kerl, dieser Alte”, bemerkte ich leise.
“Ja, ein komischer Kerl”, wiederholte Tschubuk, “nur was will er bloß dauernd am Fenster?”
Tschubuk schaute sich aufmerksam im ganzen Zimmer um. Dabei fiel sein Blick auf eine alte Bastmatte, die in der Ecke ausgebreitet war. Nachdenklich trat er ans Fenster.
Der Hausherr kam zurück. In der Hand hielt er eine Flasche; mit den Schößen seines Schlafrocks wischte er den dicken Staub davon ab.
“So”, sagte er und trat an den Tisch. “Darf ich bitten. Rittmeister Schwarz hat noch was in der Flasche dringelassen. Sie nehmen doch etwas Kognak zum Tee, denke ich. Ich mag das auch sehr gern, aber für meine Gäste … meine Gäste…” Damit zog er den Papierpfropfen aus der Flasche und goss uns das Getränk in die Gläser. Schon wollte ich zugreifen, da trat Tschubuk hastig vom Fenster zurück und fuhr mich an: “Was machst du denn? Siehst du nicht, dass hier zuwenig Gläser sind? Und mach dich nicht so breit, du nimmst ja dem alten Herrn den Platz weg. Du kommst hinterher dran. Setzen Sie sich, Väterchen, wir beide wollen miteinander anstoßen.”
Ich warf einen erstaunten Blick auf Tschubuk, wunderte mich über seinen groben Ton.
“Aber nicht doch, nein!” Der Alte schob das Glas von sich weg. “Ich trinke hinterher… Sie sind meine Gäste…”
“Trinken Sie schon, Väterchen”, wiederholte Tschubuk und schob dem Hausherrn das Glas energisch wieder zu.
“Nein, nein, bemühen Sie sich‘ nicht”, lehnte der Alte hartnäckig ab und schob das Glas so zur Seite, dass es umfiel.
Ich saß wieder auf meinem alten Platz; der Alte trat noch einmal ans Fenster und zog den schmutzigen Kattunvorhang vor.
“Warum ziehen Sie den Vorhang zu?” fragte Tschubuk.
“Die Mücken”, antwortete der Hausherr. “Die Mücken fressen mich noch auf. Wir liegen hier so tief… und die verdammten Biester vermehren sich ja so rasch.”
“Du wohnst doch allein hier, wie?” fragte Tschubuk unerwartet. “Aber wem gehört denn das zweite Bett da in der Ecke?”, und er zeigte auf die Matte am Boden.
Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Tschubuk, zog den Vorhang beiseite und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Darauf stand ich auch auf.
Vom Fenster aus ging der Blick weit über Hügel und kleine Wälder. Der Weg verschwand, tauchte wieder auf und verlor sich schließlich in der Ferne; ganz hinten am Horizont bewegten sich vier Pünktchen, hüpften auf und nieder; deutlich hoben sie sich vor dem roten Abendhimmel ab.
“Da kommen die Mücken!” brüllte Tschubuk den Alten an und blickte verächtlich auf die gekrümmte Gestalt: “Du bist selbst so‘ne Mücke, wie ich sehe. Wir wollen gehen, Boris!”
Unten an der Treppe blieb Tschubuk stehen, nahm eine Streichholzschachtel heraus, zündete ein Streichholz an und warf es zwischen das Gerümpel. Ein großes Knäuel trockenen Papiers flammte auf, und schon hatte die Flamme das Stroh am Boden ergriffen. Noch einen Augenblick, und das ganze Zimmer mit all seinem Plunder hätte in hellen Flammen gestanden. Aber rasch entschlossen trat Tschubuk das Feuer wieder aus und riss mich zum Ausgang mit.
“Ist ja Unsinn”, sagte er, als wolle er sich entschuldigen, “gehört uns ja sowieso.”
Ein paar Minuten darauf jagten vier Berittene an dem Gebüsch vorüber, wo wir uns versteckt hatten.
“Die reiten zu dem Hof”, sagte Tschubuk. “Als ich die Matte in der Ecke liegen sah, wusste ich, dass der Alte nicht allein dort wohnt, es muss noch einer bei ihm sein. Hast du gesehen, wie er immer ans Fenster trat? Als wir unten durch die Zimmer gegangen sind, da hat er jemand nach den Weißen geschickt. Auch mit dem Tee, das war faul. Ich hab seinem Kognak nicht getraut, vielleicht hat er Rattengift reingetan. Mir gefällt das nicht, wenn so‘n ausgeplünderter Gutsbesitzer so gastfreundlich ist, ich trau ihm nicht! Wenn er auch noch so schöntut, für mich ist er zuerst mal ein Feind.”
Die Nacht über blieben wir in einer Hütte, wie sie die Schnitter sich bauen. Ein Sturm tobte, und es goss in Strömen. Uns machte das nichts aus. Die Hütte ließ kein Wasser durch, und bei so einem Unwetter konnte man sich wieder einmal richtig ausschlafen. Als es kaum dämmerte, weckte mich Tschubuk.
“Jetzt muss der eine beim anderen wachen”, sagte er. “Ich hab schon lang neben dir gesessen, will mich jetzt ein bisschen hinlegen, und du musst aufpassen. Es kann ja mal einer vorbeikommen. Und schlaf mir nur nicht ein!”
“Nein, Tschubuk, ich schlaf nicht ein.”
Ich kroch aus der Hütte heraus. Vom Flüsschen unten stieg der Nebel hoch. Gestern waren wir bis an den Gürtel in einem schmutzigen Sumpfloch eingesunken, in der Nacht war der Schlamm an unseren Kleidern getrocknet und bedeckte nun als dicke Kruste unseren ganzen Körper.
Jetzt baden, das wäre schön! dachte ich. Das Wasser ist nicht weit, ich brauche bloß den Hang hinunterzulaufen.
Eine halbe Stunde lang saß ich neben Tschubuk und hielt Wache. Schließlich konnte ich dem Wunsch nicht länger widerstehen, hinunterzulaufen und zu baden. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, dachte ich, wer soll auch schon so früh am Morgen hier vorbeikommen? Und einen Weg seh ich hier überhaupt nicht. Tschubuk hat sich noch nicht auf die andere Seite gedreht, dann bin ich schon wieder hier.
Die Versuchung war zu groß, der trocken gewordene Schlamm juckte mich am ganzen Körper. Rasch schnallte ich die Patronentasche ab, mit der ich sowieso nichts anfangen konnte, und rannte den Hang hinunter zum Wasser.
Doch bis zum Fluss war es weiter, als ich geglaubt hatte; es dauerte bestimmt zehn Minuten, bis ich am Ufer stand. Rasch zog ich meine schwarze Schülerbluse aus, dieselbe, in der ich von zu Hause fortgelaufen war, legte Stiefel, Hose und Ledertasche ab und warf mich ins Wasser. Zuerst war mir, als wolle das Herz stehen bleiben. Aber ich strampelte heftig und wurde gleich wieder warm. War das wunderbar! Langsam schwamm ich bis auf die Mitte des Wassers hinaus, wo ein Busch auf einer Sandbank stand. An seinen Wurzeln musste irgend etwas hängen geblieben sein, ein Lappen oder ein Hemd, das die Frauen beim Waschen hatten liegenlassen. Ich hob die Zweige zur Seite und schrak zurück. Ein Mensch lag dort im Wasser, mit dem Gesicht nach unten, seine Hose war an einem hervorstehenden Ast hängen geblieben. Das Hemd war zerrissen, auf dem Rücken klaffte eine breite dunkle Wunde. Mit raschen Stößen schwamm ich zurück, mir war, als sei ein Verfolger hart hinter mir her.
Während ich mich wieder anzog, wandte ich mich schaudernd ab, um nicht hinschauen zu müssen, wo in leuchtendem Grün die Büsche auf der Sandbank standen. Doch sei es, dass eine Welle den Toten emporgehoben oder dass ich ihn selbst abgerissen hatte, als ich die Zweige auseinanderbog – auf einmal lag er frei im Wasser, wurde von der Strömung herumgerissen und trieb gerade auf mich zu.
Hastig zog ich die Hose an – nur fort von dieser Stelle! Aber als ich meine Bluse überstreifte und den Kopf zum Kragen hinausstreckte, trieb die Leiche schon neben mir, schwamm fast vor meinen Füßen.
Wie wahnsinnig schrie ich auf, tat unwillkürlich einen Schritt zum Wasser hin, glitt aus und wäre beinahe in den Fluss gefallen. Ich hatte den Toten erkannt. Es war einer unserer drei Verwundeten, die wir bei dem Imker zurückgelassen hatten – unser Zigeunerchen.
“Hallo, Bursche!” hörte ich es hinter mir rufen. “Komm mal her!”
Drei Unbekannte kamen auf mich zu. Zwei von ihnen trugen Gewehre. Weglaufen konnte ich nicht – vor mir waren diese Leute und hinter mir der Fluss.
“Na, wer bist du denn?” fragte mich ein hochgewachsener Bauer mit schwarzem Bart.
Ich schwieg, wusste ich doch nicht, wer diese Männer waren, Rote oder Weiße.
“Na? Ich hab dich was gefragt!” Er wurde schon energischer und packte mich am Arm.
“Was sollen wir hier lange mit ihm reden!” meinte ein anderer. “Wir bringen ihn ins Dorf, da werden sie schon mit ihm fertig werden!”
Zwei Wagen kamen angefahren.
“Gib mal die Peitsche her!” schrie der Mann mit dem schwarzen Bart einem der Fuhrleute zu.
“Wozu denn das?” fragte der andere unwillig. “Was soll die Peitsche? Bring ihn zum Dorf, da werden sie‘s schon rauskriegen.”
“Ich will ihn doch nicht schlagen, ich bind ihm nur die Hände fest, sonst haut er uns noch ab.”
Mit geschicktem Griff banden sie mir die Ellbogen auf dem Rücken zusammen und schoben mich an den Wagen heran: “Los, setz dich drauf!”
Die wohlgenährten Pferde zogen an und brachten uns in schnellem Trab in ein großes Dorf; hell leuchteten seine weißen Schornsteine aus dem Grün heraus.
Wie ich so auf dem Wagen saß, hoffte ich immer noch, meine Begleiter seien Partisanen aus einer der roten Abteilungen, an Ort und Stelle werde sich alles aufklären, und sie würden mich sofort wieder freilassen.
In einem Gehölz nicht weit vor dem Dorf rief uns ein Posten an: “Halt, wer da?”
“Wir sind‘s… der Starost”‘ antwortete der Mann mit dem schwarzen Bart.
“Aha…! Und wo kommst du her?”
“Ich hab die Wagen vom Hof draußen geholt.”
Die Pferde trabten an, rasch ging es an dem Posten vorbei. Seine Kleidung konnte ich nicht sehen, auch nicht sein Gesicht, da ich gespannt nur auf seine Schultern geschaut hatte – er trug Schulterstücke.

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