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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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4. Kapitel

Im Laufe des Sommers war Fedka größer und männlicher geworden. Er ließ sich die Haare lang wachsen, trug meist ein schwarzes Hemd nach russischer Art und hatte stets eine Mappe mit Zeitungen unter dem Arm. In dieser Aufmachung lief er von Meeting zu Meeting, von Versammlung zu Versammlung.
Fedka war inzwischen Vorsitzender des Klassenkomitees und Verbindungsmann vom Realgymnasium zum Mädchengymnasium geworden. Auch zu den Elternversammlungen wurde er delegiert. Er hörte sich gern reden – ein zweiter Kruglikow. Bei Diskussionen stand er auf der Bank: “Dürfen die Schüler sitzen bleiben, wenn sie vom Lehrer gefragt werden, oder müssen sie aufstehen?”, “Ist es zulässig, dass in einem freien Lande während des Religionsunterrichts Karten gespielt wird?” Einen Fuß vorgestellt, die Hand im Gürtel, begann er: “Bürger, wir rufen dazu auf… Die Umstände zwingen uns… Wir tragen die Verantwortung für die Revolution…” Und so ging es weiter und immer weiter.
Zwischen Fedka und mir stimmte etwas nicht. Zu offenem Streit war es noch nicht gekommen, aber unsere Beziehungen verschlechterten sich mit jedem Tage.
Und wieder wurde ich von allen gemieden.
Kaum begann Gras über die Geschichte mit meinem Vater zu wachsen, kaum fing das Eis zwischen mir und einigen meiner alten Kameraden an aufzutauen, als auf einmal aus Moskau ein anderer Wind wehte. Die Menschen in unserer Stadt machten Front gegen die Bolschewiki – unser Klub wurde geschlossen. Die Miliz verhaftete Baskakow, und von neuem stand meine ganze Klasse gegen mich auf: warum ich mich mit den Bolschewiki eingelassen, warum ich am 1. Mai auf dem Dach des Klubs die rote Fahne gehisst und warum ich Fedka auf dem Meeting nicht geholfen hätte, Flugblätter für den “Krieg bis zum siegreichen Ende” zu verteilen.
Alle verteilten jetzt Flugblätter. Manch einer nahm solche Zettel von den Kadetten, den Anarchisten, den Christlichen Sozialisten, den Bolschewiki – was ihm gerade in die Hände fiel – und steckte sie den Leuten auf der Straße in die Tasche. Niemand dachte sich etwas dabei; es war, als ob es so sein müsste.
Wie hätte ich aber Fedka die Flugblätter der Sozialrevolutionäre abnehmen können, wo mir doch gerade erst Baskakow einen ganzen Stapel seiner eigenen Blätter gegeben hatte? Ich konnte doch nicht beide verteilen. Sie waren zwar gleich groß, aber auf den einen stand “Es lebe der Sieg über die Deutschen!”, auf den anderen “Nieder mit dem räuberischen Krieg!”, auf den einen “Unterstützt die Provisorische Regierung!”, auf den anderen “Fort mit den zehn Kapitalisten-Ministern!” Was sollte ich mit beiden Packen anfangen, wo doch ein Flugblatt das andere auffraß?
Der Schulunterricht war schlecht in jener Zeit. Die Lehrer hatten ständig Sitzungen in den Klubs; wer von ihnen sich zur Monarchie bekannte, nahm seinen Abschied. Die halbe Schule war vom Roten Kreuz belegt.
“Ich geh nicht mehr in die Schule, Mutter”, sagte ich manchmal. “Richtigen Unterricht gibt‘s sowieso nicht mehr, und mit allen hab ich Krach. Gestern zum Beispiel, da lief der Korenjew mit einer Büchse rum und sammelte für die Verwundeten; ich hatte zwanzig Kopeken, die warf ich ihm rein; aber da sah er mich nur von der Seite an und sagte: ‚Von solchen Abenteurern braucht unser Vaterland nichts!‘ Ich musste mich auf die Lippen beißen. Und alle anderen standen dabei! Ich hab ihm gesagt: ‚Jawohl, ich bin der Sohn eines Deserteurs, aber du bist der Sohn eines Diebes. Dein Vater liefert für die Armee und bestiehlt sie dabei; und du willst jetzt wahrscheinlich an den Sammlungen für die Verwundeten verdienen.‘ Beinahe hätten wir uns geschlagen. In den nächsten Tagen ist das Kameradengericht, aber ich pfeif darauf. Was sind das schon für Richter!”

*

Von Vaters Pistole konnte ich mich nicht trennen. Sie war klein und handlich und steckte in einer Ledertasche. Ich trug sie nicht, um mich zu verteidigen, es wollte mich ja niemand überfallen. Aber ich hing an der Waffe; sie war ein Andenken an Vater, ein Geschenk von ihm, das einzig Wertvolle, was ich besaß. Wenn ich die Waffe in meiner Tasche spürte, empfand ich stets so etwas wie Freude und Stolz. Schließlich war ich damals fünfzehn Jahre alt, und welcher Junge von fünfzehn Jahren hätte nicht gern eine richtige Pistole? Nur Fedka wusste davon. Ich hatte sie ihm einmal gezeigt, als wir noch gute Freunde waren. Voller Neid hatte er damals das Geschenk meines Vaters betrachtet.
Am Tage nach der Geschichte mit Korenjew betrat ich wie gewöhnlich unsere Klasse, ohne jemanden zu begrüßen oder mich um jemanden zu kümmern – so war es immer in der letzten Zeit.
In der ersten Stunde hatten wir Geographie. Unser Lehrer erzählte uns zunächst einiges über das westliche China und kam dann auf die letzten Zeitungsnachrichten zu sprechen. Auf einmal sah ich, wie Fedka Zettelchen schrieb und herumreichen ließ. Ich schaute meinem Nachbarn über die Schulter und konnte oben auf so einem Zettel meinen Namen lesen. Das machte mich stutzig.
Als es klingelte, stand ich auf. Meine Umgebung scharf im Auge behaltend, ging ich auf die Tür zu, bemerkte aber sofort, wie einige der Stärksten aus der Klasse mir den Weg zur Tür versperrten. Sie stellten sich im Halbkreis um mich herum, aus ihrer Mitte trat Fedka auf mich zu.
“Was willst du?” fragte ich.
“Gib deine Pistole heraus”, erklärte er frech. “Das Klassenkomitee hat angeordnet, du sollst die Pistole bei der Miliz abgeben. Du gibst sie jetzt sofort an das Komitee heraus und kriegst morgen von der Miliz eine Quittung darüber.”
“Was für eine Pistole?” Bei diesen Worten wich ich ans Fenster zurück, gab mir alle Mühe, ruhig zu bleiben.
“Na, nun tu bloß nicht so! Du hast immer eine Mauser bei dir, das weiß ich. In der rechten Tasche steckt sie. Gib sie lieber freiwillig heraus, sonst rufen wir die Miliz. Los, her damit!” Und er streckte die Hand aus.
“Die Mauser willst du?”
“Jawohl!”
“Das willst du wohl?!” schrie ich ihn an und hielt ihm die Faust vor die Nase. “Hast du sie mir denn gegeben? Nein? Dann hau ab, oder du kriegst die Schnauze voll!”
Blitzschnell schaute ich mich um und sah, wie hinter mir vier Mann standen, bereit, mich von hinten zu packen. Ich machte einen Satz nach vorn, um an die Tür zu kommen, aber Fedka riss mich an der Schulter zurück. Ich schlug mit der Faust zu, aber im gleichen Augenblick wurde ich von hinten gepackt und festgehalten. Jemand versuchte, mir die Hand aus der Tasche zu ziehen. Es gelang nicht… Um so fester spannte sich meine Hand um den Griff der Pistole.
Die wollen mir meine Pistole abnehmen… meine Pistole…! durchzuckte es mich.
Wie ein wildes Tier im Fangeisen heulte ich auf, riss die Waffe heraus, entsicherte mit dem Zeigefinger und zog ab.
Vier Paar Fäuste ließen blitzschnell los. Mit einem Satz war ich auf der Fensterbank… Unter mir sah ich ihre Gesichter, wie Watte so weiß, sah auf dem Boden die gelbe Fliese, die das Geschoß durchschlagen hatte. Wie zur Salzsäule erstarrt, stand Vater Gennadi in der Tür. Ohne zu überlegen, sprang ich vom ersten Stockwerk hinunter in ein Beet mit leuchtendroten Georginen.

*

Spät am Abend kletterte ich vom Garten her am Abflussrohr bis ans Fenster unserer Wohnung hoch. Ich bewegte mich ganz leise, um die Leute im Hause nicht zu erschrecken. Meine Mutter aber hatte das Geräusch gehört. Sie trat ans Fenster und fragte leise: “Wer ist dort? Bist du‘s, Boris?”
“Ja, Mutter.”
“Klettere nicht am Rohr hoch, du kannst runterfallen. Komm, ich mach dir die Türe auf.”
“Lass nur, Mutter… Ich komm auch so rein.”
Ich sprang vom Fensterbrett und blieb stehen; jetzt würde sie schimpfen und jammern.
“Willst du was essen?” fragte Mutter, immer noch leise. “Setz dich hin, ich hab Suppe für dich, sie ist noch warm.
Mutter schien also nichts zu wissen. Ich gab ihr einen Kuss und setzte mich hin… Wie sollte ich ihr das alles erklären?
Während ich zerstreut meine Suppe löffelte, die zu lange gekocht hatte, spürte ich, wie mich meine Mutter unverwandt von der Seite anblickte. Mir wurde unbehaglich, und ich legte den Löffel auf den Rand des Tellers.
“Der Inspektor war hier”, begann Mutter, “er hat gesagt, du würdest aus der Schule ausgeschlossen, und wenn du nicht bis morgen Mittag um zwölf deine Pistole bei der Miliz abgegeben hättest, dann würden sie es melden und die Miliz würde sie dir mit Gewalt abnehmen. Gib sie ab, Boris!”
“Ich geb sie nicht ab”, entgegnete ich eigensinnig, ohne sie anzuschauen. “Die hab ich von Vater.”
“Und wenn auch von Vater! Was willst du denn damit? Später besorgst du dir eine neue. Du bist überhaupt in der letzten Zeit so außer Rand und Band, ganz abgesehen von der Pistole. Du wirst noch einen totschießen! Bring sie weg morgen und gib sie ab!”
“Nein!” antwortete ich und schob den Teller zur Seite. “Eine andere will ich nicht, ich will nur die! Sie ist von Vater. Ich bin nicht außer Rand und Band, ich tue niemandem was. Sie gehen aber alle auf mich los. Dass sie mich ausschließen, ist mir ganz egal, ich wär sonst von selbst gegangen. Ich versteck die Pistole und geb sie nicht her.”
“Um Gottes willen!” Meine Mutter wurde böse. “Gut, dann werden sie dich so lange einsperren, bis du sie abgibst!”
“Sollen sie mich doch einsperren!” entgegnete ich wütend. “Den Baskakow haben sie auch eingesperrt… Dann sitz ich eben und geb sie trotzdem nicht raus… Ich geb sie nicht raus!” wiederholte ich so laut, dass Mutter zurückwich.
“Na, na, dann gibst du sie eben nicht raus!” sagte Mutter schon sanfter. “Was geht es mich schließlich an?” Sie schwieg und schien über etwas nachzusinnen. Dann stand sie auf, ging zur Tür hinaus und fügte voller Bitterkeit hinzu: “Ihr bringt mich noch auf den Friedhof!”
Ich wunderte mich, wie nachgiebig Mutter auf einmal war. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie mischte sich selten in meine Angelegenheiten; aber wenn sie es tat, dann gab sie sich nicht eher zufrieden, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte.
In jener Nacht schlief ich sehr fest und hatte einen Traum: Timka kam zu mir und brachte mir einen Kuckuck als Geschenk. “Was soll ich denn mit dem Kuckuck, Timka?” Timka schwieg. “Kuckuck, Kuckuck, Wie viel Jahre bin ich alt?” Der Kuckuck antwortete siebzehnmal. “Stimmt nicht”, sagte ich, “ich bin erst fünfzehn.” “Nein”, Timka schüttelte den Kopf. “Deine Mutter hat dich belogen.” “Warum soll mich meine Mutter belogen haben?”
Da sah ich, dass es gar nicht Timka, sondern Fedka war. Er stand da und lachte mich aus.
Ich wachte auf, sprang aus dem Bett und schaute ins Zimmer nebenan – fünf Minuten vor sieben. Meine Mutter war nicht da. Es war höchste Zeit, meine Pistole im Garten zu verstecken.
Ich zog mein Hemd über, riss die Hose vom Stuhl – da überlief es mich plötzlich eiskalt: sie war verdächtig leicht. Vorsichtig, als fürchtete ich, mich zu verbrennen, fuhr ich mit der Hand in die Tasche. Es war so – die Pistole war nicht mehr drin; während ich schlief, hatte Mutter sie herausgenommen. – So sieht das also aus! Auch sie ist gegen mich. Und gestern habe ich ihr noch geglaubt. Deswegen hat sie sich auch keine Mühe gegeben, mich zu überreden… Bestimmt hat sie sie zur Miliz gebracht.
Schon wollte ich ihr nachrennen… da schlug die Uhr.
“Halt… ! Halt…! Halt…!” rief sie mir zu. Ich blickte aufs Zifferblatt… es war erst sieben Uhr. Wo konnte Mutter nur sein? Der große geflochtene Korb, der sonst immer in der Ecke stand, war nicht da; dann musste sie wohl zum Markt gegangen sein.
Aber wenn Mutter zum Markt gegangen war, konnte sie doch die Pistole nicht mitgenommen haben, dann war sie bestimmt irgendwo im Hause versteckt, aber wo? Mir kam ein Gedanke: Im Schrank, in der oberen Schublade, der einzigen, die sich abschließen ließ – da musste sie sein.
Vor langer Zeit hatte Mutter einmal in der Apotheke rosa Sublimatkugeln gekauft und vorsichtshalber in dieser Schublade eingeschlossen. Fedka und ich wollten damals den roten Kater von Simakows vergiften, weil die Simakows einmal unserem Hund die Pfote aufgeschlagen hatten. Zwischen allerlei Eisenzeug hatten wir schließlich den Schlüssel gefunden, ein Kügelchen aus der Schublade herausgenommen und den Schlüssel wieder an seinen alten Ort gebracht.
Ich ging in unsere Rumpelkammer und zog die schwere Kiste vor. Allerlei überflüssigen Plunder, eiserne Muttern und Schrauben warf ich hinaus und suchte nach dem Schlüssel.
Dabei schnitt ich mir noch die Hand an einem Stück Blech auf, fand dafür aber gleich drei rostige Schlüssel… Einer von ihnen würde wohl passen…
Ich trat an den Schrank; der Schlüssel passte gerade so hinein… Krach! sprang das Schloss auf. Ich zog die Schublade heraus… da lag meine Pistole, die Tasche daneben. Ich nahm beides heraus, schloss die Schublade zu, warf den Schlüssel durch das Fenster in den Garten und lief auf die Straße. Als ich mich nach allen Seiten umblickte, sah ich meine Mutter vom Markt zurückkommen. Rasch verschwand ich um die Ecke und lief in Richtung auf den Friedhof davon.
Am Rand des Wäldchens blieb ich stehen, um zu verschnaufen. Schweratmend ließ ich mich auf einen Haufen trockenen Laubs fallen; ständig schaute ich mich um, weil ich fürchtete, man werde mich verfolgen. Neben mir floss still ein kleiner Bach. Sein Wasser war klar, aber lauwarm und roch nach Wasserpflanzen. Ohne mich aufzurichten, schöpfte ich eine Handvoll Wasser und trank; dann legte ich die Hände unter den Kopf und überlegte.
Was sollte ich jetzt anfangen? Nach Hause konnte ich nicht zurück, in die Schule auch nicht. Das heißt, nach Hause hätte ich schon gekonnt… Vielleicht versteckte ich die Mauser und ginge zurück. Mutter würde sich ärgern, aber das hörte ja auch mal wieder auf. Sie war selbst schuld – warum hatte sie die Pistole auch heimlich herausgenommen? Aber dann käme die Miliz. Sie würden mir nicht glauben, dass ich die Pistole verloren hätte: Und wenn ich sagte, sie gehöre einem anderen, würde man fragen, wem? Auf jeden Fall aber würden sie mich einsperren! Du Schuft, Fedka… du Schuft!
Durch die lichten Stämme des Wäldchens war der Bahnhof zu sehen.
Von dorther klang das ferne Tuten einer Lokomotive. Über dem Bahndamm stand eine Wolke aus weißem Dampf, und wie ein schwarzer Käfer kam eine Lokomotive langsam um die Biegung gekrochen.
Wieder heulte sie auf, und ihr Signal war wie ein Gruß an den freundschaftlich ausgestreckten Arm der Signalstange.
Und wenn ich nun…
Ich richtete mich vorsichtig auf und überlegte.
Ich fahre nach Nishni, sagte ich mir. Dort treffe ich Dohle. Er ist jetzt in Sormowo. Der freut sich und bringt mich bei sich unter; wie es dann weitergeht, wird man ja sehen. Wenn sich alles wieder beruhigt hat, kehre ich zurück. Vielleicht aber – so sagte mir eine innere Stimme – komme ich nie mehr wieder.
So wird‘s gemacht, entschied ich mit einer mir selbst unerwarteten Entschlossenheit. Ich war mir im klaren, dass ich eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, und stand vom Boden auf. Ich fühlte mich groß und stark.

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