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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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6. Kapitel

Der Sommer ging zu Ende. Fedka musste seine Prüfung noch einmal wiederholen und arbeitete fleißig, Jaschka Zuckerstein hatte Fieber bekommen, und so war ich auf einmal ganz allein.
Ich lag auf dem Bett und las in Vaters Büchern und Zeitungen.
Vom Ende des Krieges war nichts zu hören. Die Deutschen rückten immer weiter vor und hatten schon über die Hälfte Polens besetzt. Sehr viele Flüchtlinge trafen jetzt in unserer Stadt ein. Die reicheren von ihnen mieteten sich Wohnungen, aber davon gab es nicht viele. Unsere wohlhabenden Kaufleute, die Mönche und die Geistlichkeit waren sehr fromme Leute und nahmen nicht gern Flüchtlinge auf, da das meist arme, kinderreiche Juden waren. So wohnten diese Flüchtlinge vor allem in Baracken am Wäldchen vor der Stadt.
Um diese Zeit wurden aus den Dörfern die gesamte Jugend und alle gesunden Männer an die Front getrieben. Viele Bauernwirtschaften brachen zusammen – es war niemand mehr da, der auf den Feldern arbeiten konnte: die Älteren, die Frauen und die Kinder zogen in die Stadt und bettelten.
Ging man früher durch die Straßen unserer Stadt, traf man den ganzen Tag keinen einzigen Fremden. Kannte man auch nicht jeden mit Namen, so war man ihm doch schon irgendwo begegnet. Jetzt aber sah man auf Schritt und Tritt unbekannte Gesichter: Juden, Rumänen, Polen, kriegsgefangene Österreicher und verwundete Soldaten aus dem Lazarett des Roten Kreuzes.
Die Lebensmittel waren knapp. Butter, Eier und Milch wurden schon frühmorgens zu teuren Preisen auf dem Markt weggekauft. Vor den Bäckereien standen die Menschen Schlange, Weißbrot gab es nicht mehr, selbst Schwarzbrot reichte nicht für alle. Rücksichtslos erhöhten die Kaufleute die Preise für alle Waren, nicht nur für Lebensmittel.
Die Leute erzählten sich, Bebeschin habe allein im vergangenen Jahr soviel verdient wie in den fünf vorhergehenden Jahren zusammen. Sinjugin gar wurde so reich, dass er sechstausend Rubel für die Kirche stiftete. Sein Aussichtsturm mit dem Teleskop war ihm langweilig geworden. Er hatte sich aus Moskau ein richtiges, lebendes Krokodil kommen lassen, das in einem großen Becken herumschwamm.

*

Zwei Tage später begann wieder die Schule. Die Klassenzimmer hallten wider vom Lärm und Stimmengewirr. Jeder berichtete, was er im Sommer gemacht, Wie viel Fische, Krebse, Eidechsen und Igel er gefangen hatte. Der eine prahlte mit seinem erlegten Habicht, der andere erzählte von Pilzen und Erdbeeren, der dritte schwor, er habe eine lebendige Schlange gefangen. Einige von uns waren im Sommer zur Erholung auf die Krim und in den Kaukasus gefahren. Aber das waren nicht viele. Sie blieben unter sich, sie sprachen nicht von Igeln und Erdbeeren, sondern redeten wie selbstverständlich von Palmen, vom Baden und von Reitpferden.
Zum ersten Mal erklärte man uns in diesem Jahr, wegen der Teuerung habe der Kurator erlaubt, anstatt der Tuchuniform eine Schülerkleidung aus billigerem Material zu tragen.
Meine Mutter nähte mir eine Bluse und Hosen aus irgendeinem Material, das Teufelshaut genannt wurde.
Es gab aber noch etwas Neues bei uns. Ein Offizier wurde an die Schule abkommandiert, wir erhielten hölzerne Gewehre, die wie richtige aussahen, und man begann mit uns zu exerzieren.

*

Nach dem Brief, den uns der Soldat mit dem Holzbein gebracht hatte, bekamen wir keine Post mehr von Vater. Jedes Mal, wenn Fedkas Vater mit seiner Tasche über die Straße ging, streckte meine kleine Schwester, die lange schon auf ihn gewartet hatte, den Kopf zum Fenster hinaus und rief mit ihrem dünnen Stimmchen: ‚Onkel Sergej, hast du was von Pappi für uns?”
Seine Antwort war immer die gleiche: ‚Nein, Kindchen, heute nicht! Aber morgen bestimmt!”
Doch am nächsten Tag hatte er wieder nichts für uns.

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