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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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2. Kapitel

Die Sonne ging auf, es wurde warm, die Vögel zwitscherten, und vom hohen Himmel herab klang wie ein Gruß der fröhliche Ruf ziehender Kraniche. Ich lachte und war froh, dass die Nacht vorüber war mit ihren düsteren Gedanken, außer einem vielleicht: Wo sollte ich etwas zu essen bekommen?
Noch war ich keine zweihundert Schritte gegangen, da hörte ich Gänse schnattern und Schweine grunzen und sah durch die Bäume hindurch das grüne Dach eines Bauernhauses.
Ich schleich mich vorsichtig ran, beschloss ich. Wenn ich nichts Verdächtiges sehe, frage ich dort nach dem Weg und lasse mir auch etwas zu essen geben.
Ich stand hinter einem Holunderbusch. Alles war ruhig und niemand zu sehen; aus dem Schornstein stieg leichter Rauch. Ein paar Gänse kamen herangewatschelt. Da knackte es leise neben mir in den Zweigen. Schon wollte ich weglaufen – rasch blickte ich mich um; aber was ich da entdeckte, brauchte ich nicht zu fürchten, ich war nur erstaunt. In dem Gebüsch hatte sich jemand versteckt und starrte mich unverwandt an. Der Bauer von dem Hof konnte es nicht sein, da er sich ja selbst nicht sehen ließ und von seinem Versteck her den Hof aufmerksam beobachtete. Gespannt und argwöhnisch schaute einer den anderen an, wie zwei wilde Tiere, die auf ein und dieselbe Beute aus sind. Dann wichen wir wie auf Vereinbarung etwas weiter in das Gehölz zurück und gingen langsam aufeinander zu.
Er war so groß wie ich und mochte siebzehn Jahre alt sein. Eine schwarze Tuchjacke umspannte eng seine kräftige, muskulöse Gestalt; es war kein einziger Knopf mehr an der Jacke, doch sie schienen nicht zufällig abgerissen, sondern absichtlich abgeschnitten zu sein. An seiner derben Hose, die in lehmbeschmierten Stiefeln steckte, hingen noch ein paar vertrocknete Disteln.
Sein Gesicht war bleich und zerkratzt, dunkle Schatten lagen unter den Augen – er musste wohl auch im Wald geschlafen haben.
“Willst du dahin?” fragte er leise und deutete mit dem Kopf nach dem Gehöft hinüber.
“Das wollte ich”, erwiderte ich. “Und du?”
“Da kriegst du nichts”, fuhr er fort. “Ich hab schon gesehen, da sind drei starke Kerle auf dem Hof. Weiß der Teufel, was einem da passieren kann!”
“Ja, aber… wir müssen doch was zu essen haben!”
“Ja, das müssen wir”, meinte auch er. “Aus lauter Nächstenliebe gibt dir heute keiner was. Wer bist du überhaupt?” fragte er dann; aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: “Na, gut… dann besorgen wir uns selbst was. In den Büschen dahinten laufen Gänse rum – und was für Gänse!”
“Die gehören aber zu dem Hof!”
Er schaute mich an, als wundere er sich über meine dumme Bemerkung, und fügte halblaut hinzu: “Jetzt gehört alles allen gemeinsam. Geh du jetzt in den Wald und treib die Gänse vorsichtig auf mich zu, ich versteck mich hier hinter dem Busch.”
Ich sah, wie sich eine dicke graue Gans etwas von den anderen abgesondert hatte, und versperrte ihr den Weg. Die Gans machte kehrt und watschelte ruhig in der anderen Richtung weiter, ein paar Mal blieb sie stehen und wühlte mit dem Schnabel auf dem Boden herum. Ganz langsam ging ich hinterher und trieb sie in den Hinterhalt. Sie war schon beinahe an dem Busch angelangt, als sie sich plötzlich misstrauisch nach mir umblickte; es schien ihr wohl doch nicht ganz geheuer, dass ich ständig hinter ihr her war. Einen Augenblick blieb sie stehen, dann lief sie entschlossen zurück. Doch da sprang schon der Unbekannte hinter dem Busch hervor – flink, wie sich der Kater auf einen Sperling stürzt – und packte mit starker Hand die Gans am Halse. Das Tier tat kaum noch einen Schrei, dafür aber schnatterte mit einem Male die gesamte Herde los, während der Unbekannte mit der zitternden Gans im Gehölz verschwand – und ich hinterher.
Noch lange schlug die Gans mit den Flügeln und zuckte mit den Füßen. Es war erst aus mit ihr, als wir in einer abgelegenen Schlucht angekommen waren.
Der Unbekannte warf die Gans auf den Boden, holte Tabak hervor und sagte, schwer atmend: “Das genügt, hier können wir bleiben.”
Mein neuer Kamerad nahm sein Taschenmesser und begann schweigend, die Gans auszunehmen, wobei er ab und zu zu mir herüberblickte.
Ich hatte inzwischen einen ganzen Berg Reisig zusammengetragen und fragte: “Hast du Streichhölzer?”
“Hier, nimm”, vorsichtig hielt er mir mit seinen blutigen Fingern eine Schachtel hin. “Aber verbrauch nicht so viele.”
Jetzt erst konnte ich ihn mir richtig ansehen. Der Staub auf seiner Haut vermochte nicht die ebenmäßige weiße Farbe seines lebhaften Gesichts zu verbergen. Sein rechter Mundwinkel zuckte, wenn er sprach, das rechte Auge kniff er dabei zusammen. Er mochte ein bis zwei Jahre älter sein als ich und sah auch kräftiger aus. Wir lagen im Grase; unsere gestohlene Gans briet an einem Spieß aus Holz und verbreitete einen aufreizend appetitlichen Geruch.
“Willst du rauchen?” fragte der Fremde.
“Nein, ich rauche nicht.”
“Du hast im Wald geschlafen, ja…? Es war kalt heute Nacht”, fügte er hinzu, ohne meine Antwort abzuwarten. “Und wie kommst du hierher? Auch von dahinten?” Er deutete mit der Hand in die Richtung, wo ein Stück vom Bahndamm zu sehen war.
“Ja, ich bin von dem Zug weggelaufen, als sie ihn angehalten hatten.”
“Wurden da die Papiere kontrolliert?”
“Nein”, antwortete ich erstaunt. “Was für Papiere denn? Banditen haben doch den Zug überfallen.”
“Aha…” Schweigend zog er an seiner Zigarette.
“Und wo willst du hin?” fragte er nach längerem Schweigen.
“An den Don…”, begann ich und sagte nichts weiter.
“An den Don?!” Er stand auf. “An den Don… willst du?”
Ein kurzes, ungläubiges Lächeln lief über seine schmalen, aufgesprungenen Lippen, seine halbgeschlossenen Augen öffneten sich weit, verloren aber sofort wieder allen Glanz. Als interessiere es ihn gar nicht, fragte er wie nebenbei: “Hast wohl Verwandte da unten?”
“Ja, ich hab da Verwandte…”, antwortete ich zurückhaltend. Ich fühlte, wie er mich aushorchen wollte, sich selbst aber dabei im Schatten hielt.
Schweigend drehte er die Gans auf die andere Seite, zischend tropfte das Fett in die Flamme. Er erklärte ruhig: “Ich bin auch auf dem Wege dorthin, aber nicht zu Verwandten, ich will zu Siwers in die Armee.”
Er erzählte mir, dass er in Pensa zur Schule ginge und jetzt seinen Onkel besucht habe, der nicht weit von hier Lehrer wäre. Aber dann hätten dort die Kulaken einen Aufstand gemacht, und er wäre nur mit knapper Not noch fortgekommen.
Wie gute Freunde saßen wir nebeneinander und verschlangen gierig Stücke von unserer Gans. Sie war angebrannt und roch nach Rauch.
Ich war glücklich, dass ich einen Kameraden gefunden hatte, und schöpfte neuen Mut; zu zweien würde es uns nicht schwer fallen, aus der Falle herauszukommen, in die wir beide geraten waren.
“Wir wollen uns schlafen legen, solange noch die Sonne scheint”, riet mein neuer Gefährte. “Wir schlafen uns jetzt aus, in der Nacht kriegen wir vor Kälte wieder kein Auge zu.
Auf einer Wiese im Wald streckten wir uns aus, und ich fiel bald in einen leichten Schlummer. Wahrscheinlich wäre ich fest eingeschlafen, wäre mir nicht eine Ameise in die Nase gekrochen. Ich richtete mich auf und nieste. Mein Kamerad schlief schon. Er hatte den Kragen seiner Bluse aufgeknöpft; auf dem leinenen Innenfutter waren in schwarzer Farbe die Buchstaben “Gr. A.K.K.” aufgedruckt.
Was für eine Schule mag das sein? dachte ich. Bei mir zum Beispiel standen auf dem Koppelschloss die Buchstaben – das hieß: Real-Schule Arsamas. Ich riet hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Wenn er wach wird, frage ich ihn, beschloss ich.
Nach dem fetten Essen hatte ich Durst bekommen. In der Nähe war kein Wasser; deshalb wollte ich in die Schlucht hinuntersteigen, wo meiner Ansicht nach ein Bach fließen musste. Den Bach fand ich auch, doch sein Ufer war sehr sumpfig, und man konnte nur schwer ans Wasser herankommen. Ich ging ein Stückchen den Bach hinunter, um eine trockene Stelle zu finden. Auf dem Grund der Schlucht lief ein schmaler Pfad neben dem Bach her. In dem feuchten Lehm entdeckte ich frischen Pferdemist und Abdrücke von Pferdehufen. Es sah aus, als habe man am Morgen hier Pferde durchgetrieben.
Ich bückte mich, um ein Stöckchen aufzuheben, das mir aus der Hand gefallen war; da bemerkte ich auf dem Weg einen glänzenden Gegenstand, der in den Schmutz getreten war. Ich hob ihn auf und wischte ihn ab. Es war ein roter Stern aus Blech, der sich von seinem Haken losgerissen hatte, einer jener einfachen, roh gearbeiteten Sterne, wie sie im Jahre 1918 die Rotarmisten an ihrer Pelzmütze, die Arbeiter und Bolschewiki am Kittel trugen.
Wie kommt das denn hierher? dachte ich und schaute mir aufmerksam den Weg an. Ich bückte mich noch einmal und fand eine leere Patronenhülse.
Aller Durst war vergessen, ich eilte zu meinem Kameraden zurück. Er schlief auch nicht mehr, sondern stand neben einem Busch und schaute sich nach allen Seiten um, als suchte er mich.
“Die Roten sind hier!” rief ich laut und lief auf ihn zu.
Er sprang zur Seite und duckte sich, als sei hinter ihm ein Schuss gefallen, dann drehte er sich mit angstverzerrtem Gesicht zu mir um.
Doch als er sah, dass ich allein war, richtete er sich wieder auf und fuhr mich an.
“Mensch… brüllt der mir direkt ins Ohr…” – als ob nur das ihn so erschreckt hätte.
“Die Roten”, wiederholte ich stolz.
“Wo sind die Roten? Von wo kommen sie?”
“Heute morgen sind sie hier durchgekommen. Auf dem ganzen Weg sind lauter Hufspuren, und der Pferdemist ist noch ganz frisch… Auch eine leere Patronenhülse hab ich gefunden… und das hier auch.” Ich zeigte ihm den roten Stern.
Mein Kamerad atmete erleichtert auf und sagte noch einmal, wie um sich zu rechtfertigen: “Und da brüllt der so… Dachte schon wunder, was los wär.”
“Los, wir wollen jetzt gehen… wir nehmen denselben Weg. Vielleicht machen sie eine Rast im nächsten Dorf, und wir kriegen sie noch. Schnell, wir müssen weg”, drängte ich, “was überlegst du noch?”
“Ja, wir gehen jetzt”, war er einverstanden, allerdings schien er zuerst zu schwanken. “Natürlich, wir gehen sofort los.”
Er wischte sich mit der Hand über den Hals, und wieder las ich auf dem Leinenfutter die Buchstaben Gr. A.K.K.
“Du, hör mal”, fragte ich ihn, “was bedeuten eigentlich diese Buchstaben bei dir?”
“Was für Buchstaben?” fragte er unwillig und knöpfte seine Bluse fest zu.
“Na, die auf deinem Kragen.”
“Keine Ahnung, die Bluse ist nicht von mir. Die hab ich mal alt gekauft.”
“Ach… hätt ich nie geglaubt, dass du die zufällig…”, erwiderte ich und schritt frohgemut neben ihm her. “Die sitzt dir ja wie angegossen. Meine Mutter hatte mir mal eine Hose gekauft; die rutschte mir immer wieder runter.”
Je näher wir an das Dorf kamen, desto öfter blieb mein Gefährte stehen.
“Wir brauchen uns gar nicht so zu eilen”, redete er auf mich ein. “Heute Abend, wenn es dunkel wird, kommen wir viel besser hin. Wenn dann die Abteilung schon weg ist, hat uns keiner gesehen. In so ‘ner Gegend, die man nicht kennt, ist es jetzt für einen Fremden gefährlich.”
Ich gab ihm recht, im Halbdunkel das Dorf auszukundschaften war weniger gefährlich; aber ich war so ungeduldig, schnell zu den Unsrigen zu kommen, dass ich immer rascher ging.
Vor dem Dorf blieb mein Gefährte in einem mit Gebüsch überwacbsenen Hohlweg stehen und schlug vor, jetzt lieber vom Weg abzugehen und zu überlegen, was weiter zu tun sei.
Er sagte: “Ich glaube, alle beide auf einmal, das geht nicht gut. Einer von uns muss hier bleiben, und der andere schleicht sich durch die Gärten und siebt nach, was los ist. Ich weiß nicht recht… es ist so still, und die Hunde bellen auch nicht… Vielleicht sind die Roten überhaupt nicht da, dafür aber die Kulaken mit ihren Gewehren.”
“Dann geben wir doch lieber alle beide los.”
“Zu zweit… das ist doch nicht gut. Verstehst du das denn nicht?” Er schlug mir auf die Schulter. “Bleib du nur hier, ich komm schon irgendwie durch; warum willst du auch noch den Kopf riskieren? Du bleibst hier und wartest auf mich.”
Feiner Kerl! dachte ich, als er weg war. Ein bisschen seltsam, aber ein feiner Kerl! Ein anderer hätte mich vorgeschickt oder auslosen lassen; er aber ist freiwillig losgegangen.
Nach einer Stunde kam er zurück, früher, als ich erwartet hatte. In der Hand hielt er einen dicken Knüppel; es sah aus, als hätte er ihn gerade erst abgeschnitten und glatt gemacht.
“Das ging aber schnell”, rief ich, “und was ist los?” “Nichts los.”
Schon von weitem schüttelte er den Kopf. “Die Roten waren überhaupt nicht da! Sind wahrscheinlich einen anderen Weg gegangen, nach Suglinki, das ist nicht weit von hier.”
“Weißt du das auch ganz genau?” fragte ich enttäuscht. “Vielleicht stimmt das gar nicht?”
“Doch, es stimmt genau. Das hat mir eine alte Frau erzählt, die wohnt im ersten Haus, und dann war da noch so‘n kleiner Junge im Garten, der hat es auch gesagt. Bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu übernachten, morgen suchen wir weiter.”
Ich legte mich ins Gras und überlegte. Zweifel stiegen in mir hoch, zum ersten Mal. Hatte mein Gefährte wirklich die Wahrheit gesagt? Und was wollte er mit dem Knüppel? Er war aus schwerem Eichenholz und hatte ein dickes Ende – wie eine Keule sah er aus. Mein Gefährte hatte ihn gerade erst abgeschnitten, das konnte man sehen. Bis zum Dorf war es etwa eine Stunde zu gehen. Wenn sich einer heimlich heranschleichen wollte, in einem Haus nachfragte und zurückkehrte, dann kam er kaum vor zwei Stunden zurück. Er aber war noch nicht einmal eine Stunde unterwegs und hatte in dieser Zeit sogar noch den Eichenknüppel abgeschnitten und zurechtgeschnitzt. Das allein musste schon mindestens eine halbe Stunde gedauert haben, da er ja nur sein Taschenmesser dazu benutzen konnte. Sollte er Angst gehabt, überhaupt nichts ausgekundschaftet und die ganze Zeit im dichten Gebüsch gesessen haben? Nein, das konnte nicht sein, er war ja aus freien Stücken gegangen. Er sah auch nicht nach einem Feigling aus. Natürlich war es ein gefährlicher Gang gewesen, und er hatte sich irgendwie durchschlagen müssen.
Wir machten uns ein Lager aus trockenen Blättern und legten uns nebeneinander zum Schlafen hin. Mit meinem Mantel deckten wir uns zu. So lagen wir eine halbe Stunde lang. ohne ein Wort zu sagen. Vom Boden her kam es kalt herauf. – Wir haben zuwenig Laub, dachte ich und stand wieder auf.
“Was willst du?” fragte mein Gefährte verschlafen. “Kannst du nicht einschlafen?”
“Es ist so kalt… Bleib nur liegen, ich hol noch mehr Laub.”
Rings um unser Lager hatten wir das Laub schon aufgesammelt, ich entfernte mich etwas weiter und kam bis dicht an den Weg heran. Der Mond war gerade erst aufgegangen, und es war schwer, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Dünne Zweige und Äste schlugen mir gegen die Hände. Vom Wege her kam ein rumpelndes Geräusch, jemand ging oder fuhr dort vorbei. Ich warf meinen Armvoll Laub hin und bewegte mich auf den Weg zu, ängstlich bemüht, keine Äste zu berühren.
Langsam und beinahe geräuschlos fuhr ein Bauernwagen über den nassen, weichen Boden. Zwei Männer sprachen halblaut miteinander.
“Es ist schon so”, sagte der eine, “vielleicht hat er recht gehabt.”
“Der Kompaniechef?” fragte der andere. “Natürlich, er kann ja recht gehabt haben. Ja, wenn sie für immer hier blieben! Aber so kommen sie… halten Reden – und ziehen wieder weiter. Ja, und dann kommen wieder unsere Oberen und sagen: ‚Du bist auch einer von denen, du hast die Kulaken angezeigt, das sollst du büßen!‘ Die Roten aber, die sind nur kurz hier, und dann müssen wir wieder für sie fahren; unsere Oberen aber, die haben wir immer auf dem Hals. Ja, ja, duck dich, Bauer!”
“Wagen wollen sie haben?”
“Was denn sonst? Heute Abend hat der Fjodor angeklopft, das ist einer von ihren Soldaten – um zwölf Uhr braucht er einen Wagen.”
Die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Ich stand da und wusste nicht, was ich denken sollte. Die Roten waren also doch im Dorf, und mein Gefährte hatte mich belogen. Wenn die Roten einmal wieder weg sind, kann man sie von neuem suchen. Rasch musste jetzt alles gehen. Aber warum hatte er mich belogen?
Mein erster Gedanke war, mich allein aufzumachen und den Weg entlang ins Dorf zu laufen. Doch da fiel mir ein, dass mein Mantel noch auf der Wiese im Wald lag. – Ich muss zurückgehen, dachte ich, aber ich komme trotzdem noch rechtzeitig an. Und dem da muss ich Bescheid sagen; wenn er auch Angst hat, so gehört er doch zu uns.
Da hörte ich neben mir ein Geräusch und sah, wie mein Kamerad aus den Büschen heraustrat. Ohne Zweifel war er mir nachgegangen, hatte sich versteckt gehalten und dabei wohl auch das Gespräch der vorbeifahrenden Bauern mit angehört. “Ach, du bist das?” sprach ich ihn an, verächtlich und ärgerlich.
“Los! Wir gehen!” erwiderte er erregt statt einer Antwort.
Ich machte einen Schritt auf den Weg zu, er war hinter mir.
Ein wuchtiger Hieb mit dem Knüppel warf mich zu Boden, wurde aber durch meine Pelzmütze abgeschwächt. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie mein Gefährte auf der Erde hockte und beim Mondlicht hastig meinen Ausweis durchlas, den er mir aus der Hosentasche gezogen hatte.
Das also wollte er haben, begriff ich. Er war kein Feigling, er wusste, dass die Roten im Dorf lagen, und hatte es mir absichtlich nicht gesagt; ich sollte einschlafen, dann wollte er mir meinen Ausweis stehlen. Er war keiner von den aufständischen Kulaken; vor denen hatte er ja auch Angst – er war ein richtiger Weißer.
Ich versuchte mich etwas aufzurichten, um in das Gebüsch zu kriechen. Der Unbekannte hatte es bemerkt, steckte meinen Ausweis in seine Ledertasche und kam schon wieder auf mich zu.
“Du bist noch nicht kaputt?” fragte er kalt. “Du Hund hast in mir den richtigen Genossen gefunden! Ich gehe auch an den Don, aber nicht zu deinem Siwers, dem Lumpenhund, ich gehe zu General Krasnow.”
Er stand zwei Schritt von mir entfernt und hob den schweren Knüppel.
Mein Herz klopfte laut, klopfte gegen Hartes. Ich lag auf der Seite, die rechte Hand auf der Brust, und fühlte, wie meine Finger vorsichtig, gegen meinen Willen, in die geheime Tasche griffen, wo ich meine Pistole versteckt hatte.
Hätte der Unbekannte die Handbewegung bemerkt, wäre es ihm doch nicht weiter aufgefallen, da er ja nichts von der Waffe wusste. Fest umklammerte ich den warmen Griff der Pistole und entsicherte sie. In diesem Augenblick trat mein Feind drei Schritt zurück. Entweder um mich besser sehen zu können oder um mir mit einem Anlauf noch einmal über den Schädel zu hauen. Ich presste die zitternden Lippen zusammen, streckte meinen geschwollenen Arm, zog die Pistole heraus und richtete sie auf meinen Gegner, der gerade zum Sprung ansetzte.
Ich sah noch, wie sich plötzlich sein Gesicht verzog, hörte, wie er mit einem Schrei auf mich zustürzte; dann zog ich ab – eher mechanisch als meinem Willen gehorchend.
Er lag zwei Schritt von mir entfernt, die geballten Fäuste nach mir hin ausgestreckt. Der Knüppel lag daneben.
Erschossen! Soviel hatte ich begriffen und vergrub mein Gesicht im Gras. In meinem Schädel summte es wie in den Telegrafendrähten, wenn der Wind hindurchgeht.
So lag ich lange Zeit halb bewusstlos. Allmählich ließ die Glut in meinem Kopf nach. Blut floss mir über das Gesicht, mit einem Male fror ich, meine Zähne klapperten. Ich stand auf, sah die nach mir ausgestreckten Hände – ich hatte Angst. Nun war es Ernst! Alles, was vorher in meinem Leben gewesen, war im Grunde genommen nur Spiel. Die Flucht von zu Hause, die Übungen in der Kampfgruppe mit den prächtigen Genossen aus Sormowo, der Marsch durch den Wald am gestrigen Tage, alles war nur Spiel – aber diesmal war es Ernst. Mir war unheimlich zumute in dem finsteren Wald, mir, einem Jungen von fünfzehn Jahren, vor dessen Füßen ein Mensch lag, den er getötet hatte… Mein Kopf dröhnte nicht mehr, der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn.
Von Angst getrieben, stand ich auf, stahl mich auf Zehenspitzen zu dem Toten, nahm seine Tasche vom Boden auf, in der £nein Ausweis steckte; langsam ging ich rückwärts in das Gebüsch, den Blick starr auf den am Boden Liegenden gerichtet.
Dann drehte ich mich um und rannte immer geradeaus, durch den Wald hindurch auf den Weg zu, zum Dorf hin, zu Menschen. Nur nicht mehr allein sein.

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