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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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14. Kapitel

An der ganzen Front gingen die Roten zum Angriff über.
Unsere Abteilung war dem Brigadekommandeur unterstellt und hatte einen schmalen Abschnitt an der linken Flanke des dritten Regiments zugewiesen bekommen.
Zwei Wochen vergingen unter anstrengenden Märschen. Die Kosaken wichen zurück, klammerten sich aber zäh an jedes Dorf, an jeden Hof.
In diesen Tagen bewegte mich nur ein Wunsch: Ich wollte meine Schuld sühnen, wollte mich vor meinen Genossen würdig zeigen, in die Partei aufgenommen zu werden.
Doch vergebens meldete ich mich zu gefährlichen Spähtrupps. Umsonst blieb ich, bleich und mit zusammengebissenen Zähnen, im Feuer aufrecht stehen, während sogar die besten Soldaten im Knien oder im Liegen schossen. Niemand wollte sich durch mich vertreten lassen, wenn ein Spähtrupp hinausging, niemand bewunderte mein zur Schau gestelltes Heldentum.
Sucharew bemerkte einmal nebenbei: “Gorikow, lass diese Kunststückchen, das sieht ganz nach Fedka aus…! Gib nicht so an vor den Leuten … mancher hat mehr Schneid als du, auch wenn er nicht den Kopf im Feuer hochnimmt.”
Schon wieder dieser Fedka mit seinen Kunststückchen, dachte ich bekümmert. Wenn ich doch nur einmal einen gefährlichen Auftrag kriegte und sie mir sagten: Wenn du das machst, ist dir alles verziehen, dann bist du wieder unser Freund und Genosse wie früher.
Tschubuk lebt nicht mehr, Fedka ist bei Machno, aber den brauch ich nicht. Hab nicht besonders an ihm gehangen. Schlimm ist nur, dass sie mir alle aus dem Wege gehen. Früher sprach Malygin immer mit mir, ich musste mit ihm Tee trinken, und er erzählte mir irgendwas – aber auch der will nun nichts mehr von mir wissen.
Eines Tages stand ich hinter der Tür und hörte, wie er mit Schebalow über mich redete: “Der muss irgend so‘nen Kummer haben. Vielleicht trauert er dem Fedka nach? Den Tschubuk damals hatte er bald vergessen, und der war doch durch seine Schuld ums Leben gekommen.”
Glühende Röte stieg mir ins Gesicht.
So war es wirklich: Ich hatte mich irgendwie rasch mit dem Tod Tschubuks abgefunden; aber dass ich dem Fjodor nachtrauerte, das stimmte nicht, im Gegenteil, ich Hasste ihn.
Ich hörte, wie Schebalow auf dem Lehmfußboden auf und ab ging, wie seine Sporen klirrten; erst nach einer Weile antwortete er: “Das stimmt nicht, was du da sagst, Malygin! So ist das nicht… Der Junge ist nicht verdorben. Von ihm kann man noch alle Schuld abwaschen … Du änderst dich nicht mehr, Malygin, du bist vierzig Jahre alt, aber der Junge ist erst sechzehn… Wir beide sind ein paar abgelaufene Schuhe, mit dicken Nägeln in der Sohle, der Junge aber, der ist noch frisches Leder. Der wird einmal so wie der Leisten, über den du ihn schlägst. Sucharew hat mir erzählt, dass er Kunststückchen macht … wie der Fedka, dass er in der Schützenkette aufspringt, dass er Schneid zeigt, wenn‘s nicht nötig ist. Aber ich hab ihm gesagt: ‚Sucharew, du hast schon einen Bart, bist ein erwachsener Mann… aber richtig sehen kannst du immer noch nicht. Der macht dem Fedka nichts nach, der Junge will etwas wiedergutmachen, nur weiß er nicht, wie.
In diesem Augenblick klopfte ein Meldereiter ans Fenster und rief nach Schebalow. Das Gespräch wurde unterbrochen.
Nun wurde mir leichter ums Herz.
Ich war in den Krieg gezogen für die “lichten Höhen des Sozialismus”. Das Ziel lag irgendwo in weiter Ferne, und der Weg war schwer. Viele große Hindernisse mussten überwunden werden.
Das größte Hindernis waren die Weißen. Als ich in die Armee eintrat, konnte ich die Weißen noch nicht so hassen wie der Bergmann Malygin, wie Schebalow und viele andere. Meine Genossen kämpften nicht nur für die Zukunft, sie rechneten auch mit einer schweren Vergangenheit ab.
Doch inzwischen hatte auch ich mich geändert. Rings um mich her erlebte ich nur wilden Hass, ich hörte meine Genossen von jener Zeit erzählen, die mir bis dahin unbekannt war, ich erfuhr von all dem Unrecht, das das Volk seit alters gelitten – und alles das hatte auch mich hassen gelehrt, so wie ein Nagel zu glühen beginnt, der ins Feuer fällt.
Und noch lockender, noch strahlender leuchteten durch diesen Hass hindurch die “lichten Höhen des Sozialismus”.
Am Abend jenes Tages holte ich mir von unserem Furier ein Stück weißes Papier und schrieb ein langes Gesuch um Aufnahme in die Partei.
Mit meinem Blatt ging ich zu Schebalow. Er war gerade beschäftigt. Der Wirtschaftsleiter saß bei ihm und Piskarew, der anstelle des gefallenen Halda zum Kompanieführer ernannt worden war.
Ich setzte mich auf eine Bank und wartete lange, dass sie ihr Dienstgespräch beendeten. Schebalow hob ein paar Mal den Kopf und schaute mich neugierig an, als wolle er erraten, warum ich gekommen sei.
Als der Wirtschaftsleiter und der Kompanieführer gegangen waren, machte Schebalow eine Eintragung in sein Notizbuch und befahl einem Melder, er solle Sucharew holen. Erst dann wandte er sich an mich und fragte: “Nun… was hast du?”
“Genosse Schebalow, ich… ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Schebalow…”, antwortete ich und trat an den Tisch. Ein Frösteln überlief meinen ganzen Körper.
“Das sehe ich, dass du zu mir gekommen bist!” fuhr er fort, schon etwas weniger streng. Wahrscheinlich empfand er, wie aufgeregt ich war. “Nun, berichte! Was hast du auf dem Herzen?”
Aber alles, was ich ihm sagen wollte, war aus meinem Kopf weggeblasen. Ich hatte ihn bitten wollen, für mich Bürge zu sein bei der Aufnahme in die Partei, hatte ihn mit einer langen Erklärung überzeugen wollen, dass ich zwar schuld sei am Tode Tschubuks und ihn mit Fedka belogen habe, dass ich aber doch nicht immer so ein schlechter Mensch gewesen wäre und auch in Zukunft nicht mehr sein würde.
Schweigend überreichte ich ihm das Papier.
Er las mein Gesuch nur bis zur Hälfte, dann schob er das Blatt von sich weg. Das sah nach Ablehnung aus – ich zitterte am ganzen Leibe. Aber auf Schebalows Gesicht las ich nichts von Ablehnung. Dieses Gesicht war ruhig; müde und abgespannt sah es aus. In seinen rauchgrauen Augen spiegelte sich der Rahmen des Fensters.
“Setz dich”, sagte Schebalow.
Ich setzte mich.
“In die Partei willst du also?”
“Jawohl, das will ich”, sagte ich mit leiser, aber fester Stimme.
Mir schien, als frage er nur so, um zu beweisen, dass mein Wunsch unerfüllbar sei.
“Ist das dein fester Wille?”
“Mein fester Wille”, antwortete ich im gleichen Ton und wandte mich ab, schaute hinüber in den Winkel, wo die verstaubten Heiligenbilder hingen. Nun gab es keinen Zweifel mehr – Schebalow machte sich nur lustig über mich.
“Das ist gut so”, fing er wieder an, aber erst jetzt merkte ich am Ton seiner Stimme, dass er nicht über mich lachte, sondern mir wie ein Freund zulächelte.
Er nahm einen Bleistift, der zwischen den Brotkrumen auf dem Tisch lag, nahm mein Gesuch und schrieb seinen Namen und die Nummer seines Parteibuches darauf.
Dann drehte er sich zu mir um, drehte sich um samt Schemel, Sporen und Säbel und sagte mit bewegter Stimme: “So, mein Junge, nun sieh dich in Zukunft besser vor. Ich bin jetzt nicht mehr nur dein Kommandeur, ich bin nun … so eine Art Patenonkel von dir.
Du darfst mich nicht noch mal betrügen…!”
“Nein, Genosse Schebalow, das tu ich auch nicht”, erwiderte ich aufrichtig und nahm schnell das Papier vom Tisch. “Um nichts in der Welt werde ich Sie oder einen anderen Genossen betrügen!”
“Halt mal”, unterbrach er mich. “Du brauchst ja noch eine Unterschrift … Hm, wer könnte denn sonst noch für dich bürgen…? Aha!” rief er froh, als er Sucharew hereinkommen sah. “Du kommst gerade recht.”
Sucharew nahm die Mütze vom Kopf, schüttelte den Schnee von seinem Mantel und wischte unbeholfen seine schweren Stiefel an einem Sack ab. Dann stellte er sein Gewehr an die Wand, hielt die erstarrten Hände an den warmen Ofen und fragte: “Warum hast du mich gerufen?”
“Dienstlich hab ich dich gerufen, wegen der Wache, weißt du … Auf dem Friedhof, da müssen unsere Leute jetzt in die Kirche rein … sie sollen mir nicht frieren … gleich kommt der Pope zu mir, dann werden wir das regeln. Ja, und was ich noch sagen wollte…” Bei diesen Worten lächelte er verschmitzt und deutete mit dem Kopf auf mich: “Wie macht sich jetzt der Junge bei dir?”
“Was heißt, wie macht er sich?” fragte Sucharew vorsichtig und schmunzelte über sein ganzes Gesicht, das rot war von Wetter und Wind.
“Nun … was für‘n Soldat er ist, will ich wissen. Ich frage dich dienstlich.”
“Er ist kein schlechter Soldat”, antwortete Sucharew nach einigem Überlegen. “Im Dienst ist er gut. Hat sich auch nichts zuschulden kommen lassen. Ist nur manchmal ein bisschen verrückt, weißt du. Jetzt, wo der Fedka weg ist, will er mit den anderen nichts zu tun haben. Die Leute haben eine Stinkwut auf Fedka, hätten am liebsten, dass ihn eine Granate zerreißt.”
Sucharew schneuzte sich und wischte die Nase am Mantel ab; das Rot auf seinem Gesicht wurde noch tiefer, und er war ganz zornig, als er fortfuhr: “Die Haidamaken sollen ihm die Rübe abhauen! So einen Kommandeur wie den Halda hat er ums Leben gebracht! Das war ein Kompanieführer! So einen findest du nicht mehr. Der Piskarew … ist das ein Kompanieführer…? Ein Holzklotz ist er, aber kein Kompanieführer … Heute hab ich ihm gesagt: ‚Du bist mit der Streife dran … Ich hab gestern zehn Mann mehr für die Wache abgestellt‘, aber er…”
“Nun mal langsam!” unterbrach ihn Schebalow. “Erzähl mir nur keine Geschichten. Jetzt bist du für den Halda, aber früher, da hast du immer Krach mit ihm gehabt. Was sind denn das für zehn Mann zusätzlich? Brauchst mir keine Brille aufzusetzen, ich seh auch so ganz gut. Na schön, davon später… Aber hör mal… der Junge hier will in die Partei aufgenommen werden. Wollen wir für ihn bürgen? Was schaust du mich so erstaunt an? Hast doch selbst eben gesagt, er ist ein guter Soldat und hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Was aber früher war, na, davon wollen wir nun auch nicht bis in alle Ewigkeit reden!”
“Ach sooo!” sprach Sucharew gedehnt und kratzte sich am Kopf. “Aber den Jungen da, den kennt doch nur der Teufel selbst!”
“Der Teufel kennt überhaupt nichts! Du bist Kompanieführer, und in der Partei bist du auch. Du müsstest besser wissen als der Teufel, ob der Junge in die Partei passt oder nicht.”
“Der Junge ist nicht schlecht”, bestätigte Sucharew noch einmal, “er gibt nur immer so an. Der springt in der Schützenkette auf, wenn es nicht befohlen ist. Aber sonst ist er nicht übel.”
“Ist doch nicht schlimm… Wenn er sich drücken wollte, das wär schlimm! Willst du nun unterschreiben oder nicht?”
“Ich würd ja schon unterschreiben, der Junge ist nicht schlecht”, betonte Sucharew vorsichtig noch einmal. “Aber… wer unterschreibt denn sonst noch?”
“Ich hab schon unterschrieben. Komm, setz dich an den Tisch, hier ist sein Gesuch.”
“Ach so, du hast schon unterschrieben…!” meinte Sucharew, und seine Bärentatze griff nach dem Bleistift. “Dann ist ja alles in Ordnung … Ich sag ja, der Junge ist Gold wert. Hat bloß früher zuwenig Prügel bekommen!”

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