4. Kapitel
Die Sommerferien hatten begonnen. Fedka und ich schmiedeten alle möglichen Pläne. Es gab viel zu tun.
Zuallererst musste ein Floss gebaut werden. Das wollten wir auf dem Teich hinter unserem Garten schwimmen lassen, wollten uns dann zum Herrn der Meere erklären und schließlich gegen die vereinigte Flotte von Pantjuschkin und Simakow, die die Zugänge zu ihren Gärten auf dem anderen Ufer beschützte, eine Seeschlacht führen.
Unsere Flotte war bis jetzt noch klein und bestand nur aus einem Gartentor, das wir ins Wasser gelassen hatten. Auch an Kampfstärke kam sie längst nicht an den Gegner heran. Der hatte aus dem Flügel eines alten Hoftores einen schweren Kreuzer gemacht und einen hölzernen Viehtrog zum Torpedoboot umgebaut. So ungleich waren die Kräfte verteilt. Wir beschlossen daher, ein Riesenschlachtschiff nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen.
Als Baumaterial wollten wir die Balken unseres verfallenen Badehauses benutzen. Damit meine Mutter nicht schimpfte, versprach ich ihr, unser Schlachtschiff so zu bauen, dass sie jederzeit ihre Wäsche darin spülen könnte.
Der Feind auf dem anderen Ufer hatte bemerkt, dass wir unsere Flotte vergrößern wollten. Das beunruhigte ihn, und so machte er sich auch an die Arbeit. Aber unsere Kundschafter meldeten, dass er uns nichts Ernsthaftes entgegenstellen könnte, da es ihm an Baumaterial fehlte. Er hatte zwar versucht, vom Hof einige Bretter zu stehlen, mit denen die Scheunenwand verschalt werden sollte; doch der Familienrat hatte die Verwendung der Bretter für diesen Zweck nicht gutgeheißen, und so bekamen die feindlichen Admirale Senka Pantjuschkin und Grischka Simakow von ihren Vätern eine mächtige Tracht Prügel.
Einige Tage lang plagten wir uns mit den dicken Balken herum. Ein Kriegsschiff zu bauen ist gar nicht so einfach. Dazu gehört viel Zeit und auch Geld, aber gerade damals befanden wir uns in größeren finanziellen Schwierigkeiten. Allein für die Nägel ging über ein halber Rubel drauf, und dann brauchten wir noch Leine für den Anker und Stoff für die Flagge.
Am Ende waren wir gezwungen, insgeheim eine Anleihe von 70 Kopeken aufzunehmen. Dafür verpfändeten wir zwei Lehrbücher für den Religionsunterricht, die “Deutsche Grammatik von Gläser und Petzold” und ein Buch mit Auszügen aus der russischen Literatur.
Unser Schiff war ein Prachtstück geworden. Schon gegen Abend ließen wir es zu Wasser. Timka Schtukin und Jaschka Zuckerstein halfen uns dabei. Die Kinder des Schusters kamen und sahen zu, auch meine kleine Schwester und Wolfi, unser Hündchen. Es hatte viele Namen: Purzel, Struppi… jeder nannte es, wie er wollte.
Das Floss krachte und knarrte und plumpste schwer ins Wasser. Im selben Augenblick erklang ein lautes “Hurra”, ein Salut aus unseren Spielzeugpistolen, und über dem Schlachtschiff stieg die Flagge empor.
Fedka und ich waren an Bord unseres Schiffes. In respektvollem Abstand zog unser kleines Gartentor hinter uns her. Es sollte als Verbindungsschiff dienen.
Im Vollgefühl seiner Stärke schwamm unser Geschwader langsam auf die Mitte des Teiches hinaus und zog an den fremden Ufern entlang. Vergebens forderten wir den Gegner durch Sprachrohr und Signale heraus – er wollte den Kampf nicht aufnehmen und hielt sich in seiner Bucht unter einer morschen Weide verborgen. Seine Küstenartillerie eröffnete in ohnmächtigem Zorn das Feuer auf unsere Schiffe, wir aber gingen sofort aus dem Bereich seiner Geschütze heraus und konnten ohne jeden Schaden wieder zu unserem Hafen zurückkehren. Nur Jaschka Zuckerstein hatte am Rücken einen leichten Streifschuss abbekommen. Eine Kartoffel hatte ihn getroffen.
“Hallooo!” hatten wir noch hinübergerufen, als wir zurückdampften, “ihr traut euch wohl nicht?”
“Nur die Ruhe! Wir werden schon kommen, freut euch nur nicht zu früh! Vor euch haben wir keine Angst!”
“Das sehen wir ja, ihr feigen Hunde!”
Wohlbehalten gelangten wir wieder in unseren Hafen. Wir warfen Anker, machten unsere Flöße mit einer Kette fest und sprangen an Land.
Am selben Abend hätte ich mich beinahe noch mit Fedka gezankt. Ich schlug vor, Fedka solle das Kommando über das Begleitschiff übernehmen, er aber spuckte nur verächtlich aus. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, außerdem könne er Hafenkommandant werden, Chef der Küstenartillerie und… der Luftwaffe, sobald wir eine hätten. Jedoch auch die Luftstreitkräfte lockten Fedka nicht. Hartnäckig bestand er darauf, er wolle Admiral sein, sonst gehe er zum Feind über.
Meinen tüchtigen Gehilfen mochte ich allerdings nicht verlieren, und so bot ich ihm an, wir sollten umschichtig Admiral sein, an einem Tag er und am anderen ich.
So wurde es beschlossen.
Am nächsten Tag bastelten wir uns zwei Bogen, nahmen ein Dutzend Pfeile und zogen damit in unser Wäldchen.
Das Wäldchen stieß an den verwilderten, dichtbewachsenen Friedhof. In seinen vielen Löchern und Gräben stand das Wasser. Gelbe Teichrosen blühten darin, und an den lichteren Stellen im Gehölz wuchsen Farn und Hahnenfuß.
Schließlich hatten wir genug gespielt. Wir kletterten über eine Mauer und standen nun in dem abgelegensten und verlassensten Teil des Friedhofs.
“Sieh mal”, sagte ich zu Fedka, “… Soldatengräber. In der vorigen Woche haben sie hier den Semjon Koshewnikow aus dem Lazarett beerdigt. Er ist oft zu meinem Vater gekommen, schon lange vor dem Krieg. Ich war damals noch ganz klein. Einmal hat er mir ein Stück Gummiband für eine Schleuder geschenkt; die war gut! Bloß meine Mutter hat sie in den Ofen geschmissen, weil ich damit beim Basjugin ein Fenster eingeworfen haben sollte.”
“Hast du es denn nicht getan?”
“Doch, das schon… aber das konnte mir keiner nachweisen. Es hat nämlich niemand gesehen … nur so auf den Verdacht hin… das ist ungerecht, weißt du. – Und wenn ich es nun wirklich nicht gewesen wäre, was dann? Dann hätten sie trotzdem gesagt, ich wäre es gewesen, bestimmt!”
Fedka gab mir recht: “Ja, die hätten sowieso gesagt, du wärst es gewesen. Aber weißt du, die Mütter sind alle so. Bei den Mädchen sagen sie gar nichts, wenn sie aber bei uns Jungen ein Spielzeug sehen, gleich fliegt‘s zum Fenster hinaus. Meine Mutter hat mir mal zwei Pfeile kaputtgebrochen, die hatten vorn an der Spitze einen Nagel, und eine Ratte hat sie mir aus dem Käfig rausgelassen. Und einmal – das war noch schlimmer – da hatte ich eine hohle Kugel abgemacht, weißt du, wie sie auf den Bettpfosten drauf sind. Meine Mutter war gerade in die Kirche gegangen. Da hab ich mir Salpeter und Kohle besorgt und gedacht: Jetzt füllst du die Kugel mit Pulver, und dann machst du im Wäldchen eine Explosion. Ich war so beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie meine Mutter zurückkam. ‚Warum hast du die Kugel vom Bett abgeschraubt? Du Taugenichts! Und ich hab mich schon gewundert, wo die Kugeln geblieben sind?‘ Und schon hat sie mir eine geknallt. Ein Glück nur, dass mein Vater dabei war. ‚Was willst du denn mit der Kugel?‘ fragte er. ‚Du siehst doch, ich wollte mir eine Bombe machen.‘ Da hat er mich nur so angeblinzelt und hat gesagt: ‚Lass das lieber sein! Mit solchen Dingen spielt man nicht. Du bist ja ein richtiger Terrorist, sieh mal einer an!‘ Doch dabei lachte er und strich mir mit der Hand über den Kopf.”
“Fedka”, entgegnete ich ruhig, “ich weiß, was ein Terrorist ist. Die Terroristen werfen Bomben auf die Polizei und sind auch gegen die reichen Leute. Aber wir, wozu gehören wir eigentlich, zu den Armen oder zu den Reichen, was meinst du, Fedka?”
Er überlegte und sagte dann: “Wir stehen wohl in der Mitte. Ganz arm sind wir nicht, das kann man nicht sagen. Jetzt, wo der Vater Arbeit hat, gibt es jeden Tag Mittagessen, und sonntags macht meine Mutter Piroggen, manchmal kriegen wir auch Kompott. Das ess ich gern, du auch?”
“Ich auch, aber Apfelmus hab ich noch lieber”, erwiderte ich und fuhr dann fort: “Ja, ich glaub auch, wir stehen in der Mitte. Aber die Bebeschins, die haben eine Fabrik. Ich hab vor ein paar Monaten mal den Wasja besucht, da war ich in ihrem Haus. Mensch, haben die viele Diener und Lakaien! Und dem Wasja hat sein Vater ein richtiges Pferd geschenkt, ein Pony!”
“Ich weiß, die haben alles”, stimmte mir Fedka bei, “und viel Geld haben sie auch. Der Kaufmann Sinjugin, der hat sich einen Turm auf sein Haus gebaut mit einem Fernrohr drauf. Ein Riesenrohr! Wenn es dem Sinjugin unten zu langweilig wird, steigt er auf seinen Turm; dann bringen sie ihm zu essen rauf, lauter leckere Sachen, und eine Flasche noch dazu… Und dann sitzt er die ganze Nacht da oben und besieht sich die Sterne. Neulich hat er mal mit seinen Freunden auf dem Turm gesessen. Da haben sie viel getrunken und auch durchs Fernrohr geschaut. Dabei soll irgend so‘n Glas darin zerbrochen sein, jetzt können sie nicht mehr durchsehen.”
“Aber wie kommt es eigentlich, dass sich so ein Sinjugin die Sterne ansehen kann und auch sonst alles hat, was er will… und andere, die haben gar nichts? Der Sigow zum Beispiel, der arbeitet bei Sinjugin in der Fabrik. Der macht das aber nicht, um sich die Sterne anzusehen, der will nur was zu essen haben. Gestern war er beim Schuster und borgte sich einen halben Rubel.”
“Warum? Woher soll ich das wissen? Frag doch mal den Lehrer oder den Popen!”
Fedka schwieg.
Als wir weitergingen, brach er einen duftenden Zweig vom wilden Jasmin und fuhr dann ganz leise fort: “Mein Vater hat gesagt, bald wird alles anders.”
“Wieso alles anders?”
“Alles wird anders, alles, Borka. Ich hab das auch noch nicht ganz verstanden. Neulich sprach mein Vater mit dem Wächter von der Fabrik. Ich tat so, als ob ich schliefe. Es soll wieder gestreikt werden, sagten sie – wie 1905. Weißt du, was damals los war?”
“Ich weiß, aber so ganz genau weiß ich es nicht”, antwortete ich und wurde rot dabei.
“Damals war Revolution. Sie ist nur nicht gelungen. Man hätte die Gutsbesitzer totschlagen und alles Land den Bauern geben sollen, und den Reichen hätte man alles nehmen und es den Armen geben müssen. Weißt du, das haben sie sich an dem Abend neulich bei uns erzählt; ich habe alles gehört.”
Fedka schwieg. Es ärgerte mich, dass er wieder mehr wusste als ich. Aber woher hätte ich es auch wissen sollen? In meinen Büchern stand nichts darüber, und niemand sprach mit mir über solche Dinge.
Zu Hause, als sich Mutter nach dem Essen hinlegte, setzte ich mich zu ihr aufs Bett und begann: “Mammi, was war eigentlich 1905 los? Erzähl doch mal! Warum wissen das nur die anderen? Fedka weiß immer die interessantesten Dinge, nur ich weiß nie was.”
Mit einem Ruck drehte sich Mutter zu mir um; sie runzelte die Stirn, wollte wohl schimpfen. Aber dann überlegte sie es sich anders und sah mich so erstaunt an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
“Von 1905? Was denn?”
“Das weißt du doch selbst. Du warst damals schon erwachsen, ich war aber erst ein Jahr alt und kann mich an gar nichts mehr erinnern.”
“Ja, was soll ich dir schon erzählen? Vater müsstest du fragen, der weiß Bescheid. Aber ich habe vom Jahr 1905 nicht viel gesehen. Das lag an dir, so ein wilder Kerl warst du… ein schrecklicher Schreihals, weiß Gott! Hast mir keinen Augenblick Ruhe gelassen. Die ganze Nacht hindurch hast du gebrüllt … ich kam nicht einmal dazu, an mich selbst zu denken.”
“Aber warum habe ich denn so geschrieen, Mammi?” fragte ich etwas beleidigt. “Vielleicht weil ich Angst hatte? Damals soll doch viel geschossen worden sein, und die Kosaken waren auch da. Vielleicht hab ich da Angst gekriegt, wie?”
“Das hatte damit nichts zu tun. Du warst eben ein Dickkopf und brülltest, wenn du Lust hattest. Eines Nachts kam die Polizei und hielt Haussuchung bei uns; was sie suchten, weiß ich nicht. Bei vielen Leuten war damals Haussuchung, eine nach der anderen. Die ganze Wohnung haben sie durchwühlt, aber nichts gefunden. Der Offizier, das war so ein ganz Höflicher. Gekitzelt hat er dich, und du hast gelacht. ‚Einen prächtigen Jungen haben Sie da‘, sagte er. Und wie im Scherz nahm er dich auf den Arm und blinzelte dabei einem seiner Gendarmen zu. Darauf fing der an und suchte in deiner Wiege herum. Auf einmal tropfte es von dir herab und dem Offizier direkt auf die Uniform. ‚Um Gottes willen, was machst du denn da?‘ rief ich, nahm dich dem Offizier ab und gab ihm einen Lappen. Stell dir mal vor: eine ganz neue Uniform, durch und durch nass, auch seine Hose und die Mütze, von oben bis unten war er nass, dieser Kerl!”
Mutter musste lachen, als sie so sprach.
“Du erzählst mir ja etwas ganz anderes, Mammi”, unterbrach ich sie enttäuscht. “Ich wollte doch von der Revolution hören, und du erzählst mir sowas.”
“Ach, was willst du denn? Lass mich jetzt in Ruh…” Mutter winkte ab.
Aber als sie mein betrübtes Gesicht sah, überlegte sie einen Augenblick, holte ein Schlüsselbund und sagte: “Was soll ich dir viel erzählen? Komm, schließ mal die Kammer auf… In der großen Kiste liegt oben so allerhand Plunder, darunter müssen noch Bücher von Vater sein, eine ganze Menge. Da musst du mal nachsehen… wenn er nicht alle verschenkt hat, findest du da auch was über 1905.”
Rasch nahm ich die Schlüssel und stand schon vor der Tür.
“Machst du aber ein Glas Marmelade auf anstatt der Bücherkiste oder gehst wieder an die Sahne wie beim letzten Mal, dann kriegst du eine Revolution, dass dir Hören und Sehen vergeht”, rief sie hinter mir her.
Die nächsten Tage hindurch hatte ich genug zu lesen. Ich weiß noch, von einem der ersten beiden Bücher las ich nur drei Seiten. Es war mir zufällig in die Hand gekommen und hieß “Die Philosophie des Elends”. Ich begriff kein Wort davon, es war viel zu schwer für mich. Dafür verstand ich aber ein anderes Buch sehr gut. Das las ich in einem Zuge aus und dann gleich noch mal. Es waren die Erzählungen von Stepnjak-Krawtschinski. Darin stand genau das Gegenteil. Die Menschen, die von der Polizei verhaftet wurden, sie waren diesmal die Helden. Die Polizisten aber waren unsympathisch, man konnte sie nur verachten. Von Revolutionären war die Rede. Sie hatten ihre geheimen Organisationen, ihre Druckereien, und sie bereiteten den Aufstand vor gegen die Gutsbesitzer, gegen die reichen Kaufleute und gegen die Generale. Die Polizei bekämpfte diese Revolutionäre und verhaftete sie. Die Revolutionäre gingen in den Kerker oder wurden hingerichtet. Wer aber am Leben blieb, setzte ihr Werk fort.
Dieses Buch packte mich, weil ich damals noch nichts von Revolutionären wusste. Und ich ärgerte mich, dass unser Arsamas eine so elende Stadt war, in der man nichts von Revolutionären hörte. Dafür aber hatten wir Einbrecher; bei Tuschkows zum Beispiel war die gesamte Wäsche vom Boden gestohlen worden. Dann gab es noch Zigeuner bei uns, sie waren Pferdediebe. Einen richtigen Räuber hatten wir sogar, er hieß Wanka Seljodkin und hatte den Steuerkontrolleur totgeschlagen. Doch Revolutionäre, die gab es bei uns nicht. |
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