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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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2. Kapitel

Eines Tages ging‘s wieder einmal im Laufschritt zur Schule, nachdem ich hastig meinen Tee getrunken und meine Bücher unter den Arm genommen hatte. Unterwegs traf ich Timka Schtukin, einen kleinen, linken Jungen aus meiner Klasse.
Dieser Timka Schtukin war ein schüchternes Kerlchen, der niemandem etwas zuleide tat. Ungestraft konnte man ihm eine runterhauen, er schlug nicht zurück. Er aß immer gern die Butterbrote auf, die seine Schulkameraden liegenließen, und holte ihnen dafür im Laden nebenan frische Brötchen. Kam aber unser Klassenlehrer, brachte Timka vor Schreck kein Wort heraus, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war.
Timka hatte eine ganz große Leidenschaft – die Vögel. Die Stube seines Vaters, des Küsters der Friedhofskirche, war ganz mit Käfigen vollgestellt, in denen lauter Vögel saßen. Timka kaufte und verkaufte Vögel, tauschte sie gegen andere ein oder fing sie mit Schlingen oder Fallen auf dem Friedhof.
Eines Tages aber bekam er es mit seinem Vater zu tun. Als der Kaufmann Sinjugin das Grab seiner Großmutter besuchte, sah er, dass dort jemand Hanfsamen ausgestreut hatte, um Vögel anzulocken. Auf der steinernen Grabplatte war eine Falle aufgestellt, ein Klappbügel mit einem Netz daran. Sinjugin beschwerte sich, und Timka bekam von seinem Vater eine gehörige Tracht Prügel. Vater Gennadi aber, unser Religionslehrer, erklärte in der Religionsstunde entrüstet: “Die Grabsteine sind zum Andenken an unsere lieben Entschlafenen da, nicht aber zu anderen Zwecken; und so gehört es sich nicht, auf diesen Steinen Fallen und andere unpassende Dinge aufzubauen. So etwas ist eine Sünde, ist eine Lästerung Gottes.”
Und dann erzählte er uns von einigen Fällen aus der Geschichte, da die himmlischen Mächte solche Übeltaten hart bestraft hatten.
Man musste es Vater Gennadi lassen: Von solchen Beispielen wusste er stets eine große Menge. Mir scheint, hätte er gewusst, dass ich eine Woche vorher ohne Erlaubnis im Kino war, ihm wäre gewiss eine Begebenheit eingefallen, da jemand für das gleiche Vergehen noch in diesem Leben die verdiente Strafe Gottes erhalten hatte…
Also, Timka kam die Straße entlang und pfiff dabei wie eine Drossel. Als er mich sah, blinzelte er mir freundlich zu, schaute mich dennoch etwas misstrauisch an, als wolle er feststellen, ob ich nicht irgend etwas im Schilde führte.
“Du, Timka, es ist höchste Zeit”, rief ich ihm zu, “wir kommen zu spät zur Andacht – vielleicht gerade noch zum Unterricht.”
“Ob die das merken?” fragte er erschrocken, und die Angst stand ihm im Gesicht.
“Klar merken die das! Na ja, Mittagessen kriegen wir keins, aber das ist auch alles…” Ich sagte das absichtlich, weil ich wusste, dass er große Angst vor jedem Tadel hatte.
Furchtsam zuckte er zusammen und rannte noch schneller.
“Was kann ich denn dafür? Mein Vater war weg und hat die Kirche aufgeschlossen. Ich sollte einen Augenblick zu Hause bleiben, hat er gesagt. Und dann ist er weggeblieben, ganz lange. Und alles wegen dem Gebet. Die Mutter von Walka Spagin war gekommen, die wollte für ihn beten.”
“Für Walka?” Ich riss vor Staunen den Mund auf. “Wieso? Ist der denn gestorben?”
“Nein, aber den suchen sie doch.”
“Wie? Suchen?” Meine Stimme zitterte. “Das ist doch Unsinn, Timka. Du, ich hau dir eine… ich weiß von gar nichts, war doch gestern nicht in der Schule, weil ich Fieber…”
Timka pfiff wie eine Meise. Er war richtig froh, dass ich die Geschichte noch nicht wusste, und hüpfte auf einem Bein herum – “Stimmt ja, du warst ja gestern nicht da. Junge, Junge, da war was los, gestern…”
“Was war denn los?”
“Ja, das war so. Wir hatten zuerst Französisch. Die alte Hexe hatte uns die Verben mit ‚être‘ aufgegeben… aller, arriver, entrer, rester, tomber usw. Der Rajewski musste an die Tafel kommen und fing gerade an zu schreiben: ‚rester, tomber‘…, da ging auf einmal die Tür auf, und der Inspektor kam rein.” Timka kniff die Augen zusammen, schaute mich vielsagend an und fuhr fort: “…und der Direktor und auch noch unser Klassenlehrer. Als wir uns wieder hingesetzt hatten, da sagte der Direktor: ‚Meine Herren, ein Unglück ist geschehen. Ein Schüler Ihrer Klasse, der Spagin, ist von zu Hause weggelaufen. Er hat einen Zettel hinterlassen. Darauf steht, er wäre zur deutschen Front unterwegs. Ich glaube nicht, meine Herren, dass er das getan hat, ohne seine Klassenkameraden einzuweihen. Bestimmt wussten viele von Ihnen schon vorher davon, aber Sie haben es nicht für notwendig gehalten, es mir zu melden. Meine Herren, ich werde…‘ Und so ging das immer weiter, eine halbe Stunde lang.”
Mir stockte der Atem. Das war ja ein tolle Neuigkeit, und ausgerechnet ich hatte zu Hause gesessen, als ob ich krank wäre, und von nichts gewusst.

*

In den nächsten Tagen gab es nur ein Thema: die kühne Flucht Walka Spagins.
Doch der Direktor irrte sich, wenn er annahm, viele von uns wären in die Fluchtpläne Spagins eingeweiht gewesen. Tatsächlich hatte niemand etwas gewusst. Es war auch keiner auf den Gedanken gekommen, Walka Spagin könne weglaufen. Er war so ein Stiller, prügelte sich nie mit den anderen, war nie dabei, wenn wir in fremden Gärten Äpfel gestohlen hatten. Ständig rutschte ihm die Hose, mit einem Wort, ein Waschlappen, wie er im Buche stand. Und nun auf einmal solche Geschichten!
Wir fragten uns, ob nicht jemand irgendwelche Vorbereitungen bemerkt hätte. Es konnte doch nicht einer von uns so mir nichts, dir nichts die Mütze aufsetzen und an die Front abhauen.
Fedka Baschmakow erinnerte sich, bei Walka eine Eisenbahnkarte gesehen zu haben; Dubilow, der schon das zweite Jahr in unserer Klasse saß, erzählte, Walka habe sich in einem Laden eine Batterie für seine Taschenlampe gekauft.
Doch soviel wir auch darüber nachdachten, keiner von uns hatte irgend etwas bemerkt, das auf Vorbereitungen zur Flucht hätte schließen lassen.
Wir alle waren sehr erregt und in gehobener Stimmung, gaben im Unterricht falsche Antworten, und die Zahl derer, die zur Strafe kein Mittagessen bekamen, war doppelt so groß wie sonst. Einige Tage verstrichen, und schon gab es wieder eine große Neuigkeit: Diesmal war Mitka Tupikow aus der ersten Klasse abgerückt.
Die Schulleitung war ernsthaft beunruhigt.
Fedka teilte mir im Vertrauen mit: “Heute soll in der Religionsstunde darüber geredet werden. Ich hab die Hefte ins Lehrerzimmer getragen, und da hab ich gehört, wie sie darüber sprachen.”
Unser Religionslehrer, Vater Gennadi, war an die siebzig Jahre alt. Er hatte einen so großen Bart und so dichte Augenbrauen, dass von seinem Gesicht kaum etwas zu sehen war. Wollte er den Kopf nach hinten wenden, musste er den ganzen Körper mitdrehen, so dick war er. Sein Hals war überhaupt nicht zu sehen.
Wir mochten ihn alle gern. In seinem Unterricht konnte man machen, was man wollte: Karten spielen, zeichnen, man konnte anstatt des Alten Testaments ein verbotenes Buch von Pinkerton oder eins über Sherlock Holmes vor sich liegen haben, weil Vater Gennadi so kurzsichtig war.
Vater Gennadi kam zur Klasse herein, segnete mit erhobener Hand alle Anwesenden, und sofort brüllte unser Klassenältester los: “Himmlischer Herrscher, du unser Trost, du bist die Wahrheit…”
Vater Gennadi holte sehr weit aus. Zuerst erzählte er uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Soviel ich verstanden hatte, ging dieser Sohn aus dem Hause seines Vaters und irrte in der Weit umher, als er aber dabei auf den Hund gekommen war, kehrte er nach Hause zurück.
Dann erzählte er uns das Gleichnis von den Talenten: wie ein reicher Mann seinen Sklaven Geld gab, das damals Talente hieß, und wie einige Sklaven mit diesem Geld Handel trieben und viel dabei verdienten. Die anderen aber versteckten ihr Geld und bekamen so gar nichts hinzu.
“Und was sagen uns diese Gleichnisse?” fuhr Vater Gennadi fort. “Das erste Gleichnis erzählt von einem ungehorsamen Sohne. Dieser Sohn verließ seinen Vater, trieb sich lange in der Fremde umher und kehrte dennoch unter seines Vaters Dach zurück. Wie viel schlimmer aber ist es mit euren Kameraden, die noch unerfahren sind in den Fährnissen des Lebens und heimlich ihr Vaterhaus verlassen haben; ihnen wird es schlecht ergehen auf dem Pfade des Unheils, den sie beschritten haben. Noch einmal ermahne ich euch: Wenn einer von euch weiß, wo sie sind, der soll ihnen schreiben, dass sie keine Angst zu haben brauchen, und heimkehren sollen unter ihr väterliches Dach, solange es noch Zeit ist. Denkt daran, wie der verlorene Sohn heimkehrte, wie ihn sein Vater aber nicht tadelte, sondern ihm die schönsten Kleider anzog und ein gemästetes Kalb schlachten ließ, wie an einem Festtage. So werden auch die Eltern dieser beiden verlorenen Söhne ihnen alles verzeihen und sie mit offenen Armen aufnehmen.”
Das wollte mir zwar nicht so ganz einleuchten. Wie Tupikows Eltern ihren Sohn empfangen würden, wusste ich nicht, eins aber stand für mich fest: Der Bäckermeister Spagin würde wegen der Rückkehr seines Sohnes bestimmt kein gemästetes Kalb schlachten, sondern den Riemen abschnallen und seinem Sohn den Hintern versohlen.
“Und das Gleichnis von den Talenten”, fuhr Vater Gennadi fort, “erzählt uns, dass man sein Wissen nicht in der Erde vergraben soll. Ihr studiert hier alle möglichen Wissenschaften. Und wenn ihr die Schule beendet habt, dann wählt sich ein jeder von euch einen Beruf nach seinen Fähigkeiten, nach seinen inneren Neigungen und nach seinem Stande. Der eine von euch wird, sagen wir mal … ein geachteter Kaufmann, ein anderer Arzt und ein dritter Beamter. Jedermann wird euch achten und bei sich denken: Ja, das ist ein tüchtiger Mensch, der hat seine Talente nicht im Boden vergraben, der hat sie genutzt und genießt jetzt mit Recht alles Schöne im Leben. Aber”, Vater Gennadi hob beide Hände bekümmert zum Himmel empor, “aber, so frage ich euch, was kommt nun bei solcher Flucht heraus, wo die Schüler alle ihnen gebotenen Möglichkeiten missachten, wo sie von zu Hause fortlaufen und Abenteuer suchen, Schaden nehmen an Leib und Seele? Ihr wachst hier heran wie die zarten Blüten im Treibhaus eines treusorgenden Gärtners, ihr kennt weder Wind noch Sturm, in Ruhe und Frieden könnt ihr euch entfalten zur Freude eurer Lehrer und Erzieher. Sie aber … und sollten sie auch allem Unheil widerstehen, sie wachsen wild heran wie Disteln und Dornen, vom Winde zerzaust und bedeckt vom Staub der Straße.”
Vater Gennadi schritt aus der Klasse hinaus, erhaben und voll inneren Feuers wie ein Prophet, und bewegte sich langsam auf das Lehrerzimmer zu. Ich aber seufzte tief auf und sagte nachdenklich: “Fedka!”
“Ja?”
“Was hältst du von der Geschichte mit den Talenten?”
“Gar nichts. Und du?”
“Ich?”
Ich stockte und fuhr dann leise fort: “Ich glaub, ich würde auch meine Talente vergraben. Was ist das schon? Kaufmann oder Beamter?”
“Ich glaub, ich auch”, gestand Fedka etwas unsicher. “Was soll das schon sein, wie eine Blume im Treibhaus heranwachsen? Wenn du draufspuckst, geht sie kaputt. Dornen und Disteln. ja, das ist schon was anderes, denen macht kein Regen was aus und keine Hitze.”

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