| EIN SCHULDSPRUCH„Groß-Kopenhagen — ja ja, grinsen Sie nur! Aber hier in der Stadt  können eine ganze Menge Flöhe auf einmal husten, ohne dass sie einander  ins Gehege kommen. Und trotzdem ging es schief mit Kristian Gren — er  platzte mit anderen Worten.Lange her? Es war damals, als der  Herrgott ein kleiner Junge war — vielleicht auch das Jahr danach; ich  bin mit dem Kalender nicht so genau. Und wenn Sie es nicht glauben  wollen, können Sie ja einfach Schwindel sagen. Bitte sehr — spucken Sie  dreist aus!
 Im übrigen möchte ich nichts weiter sagen, als dass es bloß traurig  ist. Denn wenn einer drauf und dran war, sich Millionen beizubiegen,  dann ist es kein Vergnügen, sagen zu müssen: ,Bitte, Kresjan, halt mich  solange an den Beinen fest, wenn ich mein Hemd im Hafen spüle!' — Er  wollte nur immer die Kleinen fressen, sehen Sie, und da wurde er  ausnahmsweise einmal selber gefressen. Aber dort kommt er, da können  Sie die Geschichte von ihm persönlich erfahren; ich werde mich der Süße  des Wiedererkennens nicht in den Weg stellen."
 Der schwammige kleine Stumpen dort, der mit den Beefsteakbacken, war  also Kristian Gren, der vor bloß zehn Jahren aus Amerika nach Hause  zurückkehrte, knisternd vor Energie, begabt und ungeheuer tüchtig, aber  für hiesige Verhältnisse ein bisschen allzu grobfäustig. Ich hatte  meine Gründe, ihn im Auge zu behalten, und erinnere mich deutlich, wie  er mit den nackten Fäusten zupackte, dass die anderen ihre eigenen  Angelegenheiten ganz vergaßen und Mund und Nase aufsperrten. Er kam mit  neuer Weisheit aus den großen Weltgärtnereien hier an, stellte Gewerbe  und Jahreszeiten auf den Kopf — und startete hierzulande das Wettrennen  um die Erstlinge der Saison und die hohen preise. Er verstand die  Kunst, die Manzen in Schlaf verfallen zu lassen und sie just dann zum  Blühen aufzuwecken, wenn sie gebraucht wurden — gleichgültig, was der  Kalender dazu sagte. Er war der unbestrittene Lieferant zu allen  repräsentativen Festlichkeiten und leistete das Unmögliche — zu  unmöglichen Preisen. Dank seiner konnte sich ein bekannter Diplomat den  Luxus erlauben, mitten im strengsten Winter einen Blumenkorso zu  veranstalten.
 Nun, die anderen sahen ihm allmählich seine Kunst ab; tat er in diesem  Jahr einen Schritt voran, machten sie ihn ihm im nächsten Jahre nach.  Aber er besaß die Fähigkeit, sich zu erneuern; niemand wusste, was der  nächste Schritt war. Alle mussten ein Auge auf ihn haben.
 Als mit den Blumen nichts mehr zu machen war, kaufte er am Stadtrand  Ländereien; mitten unter den Grundstücksspekulanten ließ er sich nieder  und fing an, Gemüse anzubauen. Und sogleich saß er wie festgenagelt im  Bewusstsein aller, die auf dem Gemüsemarkt Kopenhagens zu tun hatten.  Polizisten, Handlanger, die tausend Grünkramhändler der Stadt und alle  Gärtner der Umgebung dachten mehr an ihn als an sich selber; sie  nannten seinen Namen häufiger als sie spuckten. Die Polizei in  Frederiksberg kannte ihn auch; jeden zweiten Morgen wurde er wegen  verkehrswidrigen Fahrens aufgeschrieben. Die Nacht hatte er dazu  benutzt, das Gemüse zu „präparieren"; jetzt machte er zwischen den zwei  Schlachten ein Nickerchen auf dem Bock, während der große gelbe  Kastenwagen schlingernd die schlummernden Villenstraßen entlang jagte  und in kurzen Bogen um die Ecken schwenkte.
 Auf dem Markt wusste jeder selbst an den dunkelsten Morgen, ob Gren  eingetroffen war und wo er heute seinen Standplatz hatte. Es wäre eine  merkwürdige Trantute von Handelsmann gewesen, der nicht für einen  Augenblick seinen eigenen Kram im Stiche gelassen hätte, um sich zu  unterrichten, was Gren anzubieten hatte. Fünf Minuten nach Eröffnung  des Marktes waren
 Grens Überraschungen jedem bekannt, und jeder berechnete danach seine  eigenen Aussichten. Im Verlauf von einer Stunde passierten sämtliche  Gemüsehändler der Stadt an seinem Wagen vorbei und entführten ihm für  teures Geld jeder seine Kostprobe von der Rarität der Jahreszeit.
 „Du bist, ein Wucherer",  sagten sie fluchend.
 Aber Gren war nicht  sentimental.
 „Wenn ihr es woanders billiger  kriegt, bitte sehr!" sagte er lächelnd.
 Sie kauften murrend, aber kaufen mussten sie; jeder, selbst der  geringste Grünwarenhändler im Keller der Nebenstraße, hat seine  Geschäftsehre.
 Eines Jahres zur Weihnachtszeit war er der einzige mit Rotkohl auf dem  Markt — allen anderen war er missglückt. Mit seinem war auch nicht viel  los, aber Rotkohl war es jedenfalls. Bitte sehr, vier Kronen die Stiege  — für Köpfe nicht größer als die Faust! Die Gemüsehökerinnen aus den  Armeleutegassen, die ihren ganzen Tagesumsatz in einem Handkorb nach  Hause holen, taten sich zu drei oder vier die Stiege zusammen — damit  ihnen nur keiner nachsage, sie führten nicht die Ware des Tages. In  weniger als einer Stunde hatte Gren tausendmal zweiundzwanzig Stück  verkauft. Die kleinen Händler hatten keinen Verdienst an dieser Ware;  die meisten scheuten sich, zwanzig Öre für den Kopf zu fordern, und  verkauften mit Verlust. Aber sie merkten sich das; als Sommer war,  musste er alle anderen unterbieten, um überhaupt was loszuwerden.
 „Na, Gren", sagten die neben ihm spöttisch, „du wartest wohl, bis wir  alle ausverkauft haben, und gehst dann mit dem Preis in die Höhe?"
 Gren lachte nur.
 „Meine Zeit kommt früh  genug", antwortete er ruhig.
 Sie kam den Winter darauf. Das letzte Mal - als er der einzige mit  Rotkohl gewesen war — hatte der ganze Markt in Porree geschwommen; er  lag überall herum - auf dem Pflaster, in den Abfallkästen, in dem Raum  unter den Gemüseständen, wo er verfaulte. Niemand wollte Porree noch  sehen, er kostete fast nichts. Es brachte nichts ein, die Porrees aus  der Erde zu nehmen und zu bündeln; man ließ sie in der Erde verfaulen,  dann waren sie doch wenigstens als Dünger gut. Durch Schaden klug  geworden, hielt man sich im Frühjahr jedem Gedanken an Porree fern; nur  Kristian Gren zog keine Lehre daraus, sondern bepflanzte eine ganze  Tonne Land mit Porree. Den nächsten Winter war er der einzige mit  Porree auf dem Markt, hunderttausend Stangen Porree, und bestimmte  selber den Preis — zwei Kronen die Stiege, bitte sehr! Und obendrein  setzte er die Stiege von den gewohnten zweiundzwanzig auf zwanzig Stück  herab.
 Die Grünkramhändler gingen hoch und rannten weg, als sie den Preis  hörten — nun wurde er ihnen doch zu amerikanisch. Aber sie kamen  wieder, in großem Bogen, schielten nach den Porreestangen, befühlten  sie und gingen fluchend ihres Wegs, drehten dann aber mit einem Ruck um  und schalten ihm den Buckel voll — Gauner, Bluthund! Vor lauter Hohn  sagten sie Sie zu ihm. Gren lächelte und ließ sich nicht aus der Ruhe  bringen. „Wie viel Stiegen soll ich für dich auf die Seite legen?"  fragte er. Da wurden sie ganz und gar rabiat und drohten ihm mit  Prügel. Sie standen drüben auf dem Bürgersteig in Gruppen herum und  schimpften auf ihn. Aber Gren ließ sie toben, wie sie wollten; er  wusste ungefähr, was jeder von ihnen brauchte, und war gutmütig genug,  es ihnen zurückzulegen. Und als sie dann, damit es niemand sähe, um den  Wagen herum angeschlichen kamen, ihre Bestellung aufzugeben, zeigte er  bloß auf den Haufen. Er hielt diese Menschen in seiner nimmer satten  Hand und war nicht böse, wenn sie ein bisschen mäkelten.
 In vierzehn Tagen nahm Gren zehntausend Kronen für die Porrees ein. Es  war dasselbe wie mit dem Rotkohl: die kleinen Händler scheuten sich,  zehn Öre für die Stange zu nehmen, und setzten lieber Geld zu, als dass  sie einen Preis verlangten, der ihnen als Beutelschneiderei vorkam —  selbst wenn sie das beste Gewissen dabei hatten. Aber von da an  erklärten sie Kristian Gren offen den Krieg.
 Gren lachte darüber und kaufte außerhalb Valbys zehn Tonnen Land zu  zehntausend Kronen die Tonne. Das war ein gutes Geschäft; wenige Tage  später wurden ihm fünfzehntausend für die Tonne geboten, aber er  verkaufte nicht. „Es dürfte hier bald eine Straße gebaut werden", sagte  er, „ich behalte es." Und dann bepflanzte er das ganze Land mit  Erdbeeren.
 Gren berechnete alles auf amerikanisch und gab stets von seiner  Weisheit ab. Er war es, der den Gärtnern als erster begreiflich machte,  dass sie die Hälfte unterpflügen müssten, wenn an einer Ware Überfluss  war, damit sie für das übrige den Preis hochhielten. „Wir haben dann  gleich hohen Verdienst bei halber Arbeit", sagte er. Die größeren  Händler nahmen keinen Anstoß daran, höherer Preis gibt höheren  Aufschlag. Aber alle die tausend Kleinhändler, die in Geschäften nicht  ausgebildet sind und es sich nicht abgewöhnen können, für den kleinen  Mann zu denken und zu fühlen, die empörten sich über diese neue Methode.
 Ihr Hass war nun so stark, dass sie auf alles verzichteten und um  seinen Wagen einen großen Bogen machten; selbst wenn er weit billiger  verkaufte als andere, gingen sie nicht zu ihm hin. Eine Zeitlang lachte  er darüber. „Meine Zeit kommt wieder", sagte er und versuchte mehrere  Male einen Hauptschlag. Ein jeder erinnert sich zum Beispiel des  Jahres, als die Stadt zum ersten Mal bereits im Februar mit  einheimischen Radieschen beliefert wurde— das war eine von Grens  Leistungen. Es half aber nichts — er war von den vielen gezeichnet: mit  dem schweren Fluch, der darin besteht, dass gerade die Ärmsten des  Lebens ihre Sachen zusammenpacken und gehen!
 Die Flucht griff weiter um sich, ohne Lärm, aber unaufhaltsam wie eine  Panik. Die Marktmänner wollten ihm nicht zur Hand gehen; wenn er sie  rief, hörten sie nicht; sagte er sein herausforderndes Ihr könnt  runtergehen und auf meine Rechnung einen Kaffeepunsch trinken!", dann  schlichen sie davon wie nach einem Fußtritt. Leute, mit denen er in  guter Geschäftsverbindung stand, kamen plötzlich an und verlangten  Abrechnung -angesteckt von dem Unbestimmbaren, das wie eine Anklage  über ihm hing, als nichts oder alles Mögliche. Und eines Tages geschah  es dass eine Forderung an ihn über den ganzen Markt von Mann zu Mann  ausgeboten wurde - für einen lächerlich geringen Teil ihres Wertes.  Gren steckte nicht so tief in Schulden, als dass er ihnen nicht sehr  wohl den ganzen Betrag gleich hätte in die Fresse hauen können; aber er  wusste nichts von diesem Vorgang.
 Jetzt passierte es mehr als einmal, dass er zu seinem eigenen Trick  Zuflucht nehmen und eine Ware unterpflügen musste; und eines Tages  blieb er ganz weg vom Markt. „Niemand will mir noch was abkaufen",  sagte er missmutig. Er setzte seine schwer erworbenen Pfennige zu und  musste schließlich für das erstbeste Gebot seinen Landbesitz  fahrenlassen - und das gerade in dem Augenblick, als die Stadt ihre  großen Pläne mit der Gegend da draußen bekannt gab. Nur ein halbes Jahr  länger, und er hätte, wie gesagt, die Million in der Tasche gehabt.
 Als es ihm klar wurde, wie nahe er dem Glück gewesen war, war es mit  seiner Widerstandskraft vorbei. Er trat aus seiner Einsamkeit heraus,  wo er auf eine weitere Chance gelauert hatte, und tauchte von neuem auf  dem Gemüsemarkt auf — schon früh um sechs angedudelt, ohne des Nachts  aus den Kleidern gewesen zu sein, jedem ersten besten zu Diensten, der  einen Kaffeepunsch zu spendieren geneigt war. Damit die Pünsche  schneller kämen, wurde er dienstwillig, und nach und nach glitt er in  alle die kleinen Obliegenheiten eines regulären Märktemannes hinein:  trug die Waren aus, versorgte die Pferde, holte belegte Brote für  solche, die ihren Wagen nicht verlassen konnten.
 Gehen Sie selbst hin und sehen Sie sich ihn an, am besten aber an einem  Wintermorgen gegen sechs, wenn die Stadt noch schläft und Kälte und  Dunkelheit einem das Leben verekeln. Von allen Seiten rollen die Wagen  herein, und der Markt liegt da und arbeitet würgend wie eine gewaltige  Speisepumpe - es ist wohl wert, das anzusehen.
 Gren selbst trifft man in einer der Kellerkneipen, die auf der  Nordseite des Marktes liegen und vor neun Uhr vormittags am stärksten  besucht sind. Da hockt er, bis die Geschichte in Schwung
 kommt; dann ist er dabei. Der ganze Markt gehört immer noch ihm; er ist  überall und nimmt sich der Dinge an, als wären sie seine eigenen. Von  seiner alten smartness hat er noch einige Reste übrig behalten, die  anderen Marktläufer mögen ihn nicht. Wenn die Handelsleute unten sind,  um sich eine Herzstärkung zu genehmigen, achtet er unaufgefordert auf  die Wagen; er hat kein Vertrauen zu den Burschen, die solange den  Verkauf übernommen haben, und greift oftmals ein. Hinterher  verschwindet er in den Keller und erstattet Bericht.
 „Es ist gut, Gren", sagen  sie geistesabwesend und drücken ihm ein Fünfzigörestück in die Hand.
 Er kennt alle Konjunkturschwingungen des Markts, und mitunter schließt  er Geschäfte über Hunderte von Kronen ab, während der Mann selber unten  im Keller sitzt und sich um nichts kümmert. Gren kriegt fünfzig Öre für  seine Bemühung und ist himmelhoch begeistert — er hat es gründlich  gelernt, sich dem Gemeinnützigen einzuordnen.
 Höher als bis zu fünfzig Öre reichen seine Ansprüche nicht; dann steigt  er in den Keller hinunter und sitzt da und träumt über sehr großen  Schnäpsen und einem verschwindend kleinen Glas Bier. Dann ist mit ihm  überhaupt nichts anzustellen. Er träumt sich als den alten Gren, kein  Teufel bringt ihn dazu, Hand anzulegen, solange er einen Öre in der  Tasche hat. Und wie er so sitzt, schlägt er mit dem Arm aus und sagt  mit der Großschnauzigkeit vergangener Tage: „Bestell dir einen Punsch  auf meine Rechnung, alter Junge!" Dann fällt es ihm ein, dass er selber  Marktbändiger ist — und schlurft auf seinen flachgetretenen Pantinen an  die Theke.
 Gehen Sie hin und sehen Sie sich ihn an! So wie er ist, ist er ein  Produkt der Rechtschaffenheit in „Groß-Kopenhagen", wo trotzdem alle  einer den anderen kennen. Er gleicht allen aus der Tiefe: quabblig,  bläulich, hündisch. Sein Äußeres verrät keinerlei Spur früherer Größe,  aber jeder auf dem Markt kann Ihnen die Unterlagen zu dem Schuldspruch  liefern: Ehre und Gut verwirkt!
 1907
 
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