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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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EIN SCHULDSPRUCH

„Groß-Kopenhagen — ja ja, grinsen Sie nur! Aber hier in der Stadt können eine ganze Menge Flöhe auf einmal husten, ohne dass sie einander ins Gehege kommen. Und trotzdem ging es schief mit Kristian Gren — er platzte mit anderen Worten.
Lange her? Es war damals, als der Herrgott ein kleiner Junge war — vielleicht auch das Jahr danach; ich bin mit dem Kalender nicht so genau. Und wenn Sie es nicht glauben wollen, können Sie ja einfach Schwindel sagen. Bitte sehr — spucken Sie dreist aus!
Im übrigen möchte ich nichts weiter sagen, als dass es bloß traurig ist. Denn wenn einer drauf und dran war, sich Millionen beizubiegen, dann ist es kein Vergnügen, sagen zu müssen: ,Bitte, Kresjan, halt mich solange an den Beinen fest, wenn ich mein Hemd im Hafen spüle!' — Er wollte nur immer die Kleinen fressen, sehen Sie, und da wurde er ausnahmsweise einmal selber gefressen. Aber dort kommt er, da können Sie die Geschichte von ihm persönlich erfahren; ich werde mich der Süße des Wiedererkennens nicht in den Weg stellen."
Der schwammige kleine Stumpen dort, der mit den Beefsteakbacken, war also Kristian Gren, der vor bloß zehn Jahren aus Amerika nach Hause zurückkehrte, knisternd vor Energie, begabt und ungeheuer tüchtig, aber für hiesige Verhältnisse ein bisschen allzu grobfäustig. Ich hatte meine Gründe, ihn im Auge zu behalten, und erinnere mich deutlich, wie er mit den nackten Fäusten zupackte, dass die anderen ihre eigenen Angelegenheiten ganz vergaßen und Mund und Nase aufsperrten. Er kam mit neuer Weisheit aus den großen Weltgärtnereien hier an, stellte Gewerbe und Jahreszeiten auf den Kopf — und startete hierzulande das Wettrennen um die Erstlinge der Saison und die hohen preise. Er verstand die Kunst, die Manzen in Schlaf verfallen zu lassen und sie just dann zum Blühen aufzuwecken, wenn sie gebraucht wurden — gleichgültig, was der Kalender dazu sagte. Er war der unbestrittene Lieferant zu allen repräsentativen Festlichkeiten und leistete das Unmögliche — zu unmöglichen Preisen. Dank seiner konnte sich ein bekannter Diplomat den Luxus erlauben, mitten im strengsten Winter einen Blumenkorso zu veranstalten.
Nun, die anderen sahen ihm allmählich seine Kunst ab; tat er in diesem Jahr einen Schritt voran, machten sie ihn ihm im nächsten Jahre nach. Aber er besaß die Fähigkeit, sich zu erneuern; niemand wusste, was der nächste Schritt war. Alle mussten ein Auge auf ihn haben.
Als mit den Blumen nichts mehr zu machen war, kaufte er am Stadtrand Ländereien; mitten unter den Grundstücksspekulanten ließ er sich nieder und fing an, Gemüse anzubauen. Und sogleich saß er wie festgenagelt im Bewusstsein aller, die auf dem Gemüsemarkt Kopenhagens zu tun hatten. Polizisten, Handlanger, die tausend Grünkramhändler der Stadt und alle Gärtner der Umgebung dachten mehr an ihn als an sich selber; sie nannten seinen Namen häufiger als sie spuckten. Die Polizei in Frederiksberg kannte ihn auch; jeden zweiten Morgen wurde er wegen verkehrswidrigen Fahrens aufgeschrieben. Die Nacht hatte er dazu benutzt, das Gemüse zu „präparieren"; jetzt machte er zwischen den zwei Schlachten ein Nickerchen auf dem Bock, während der große gelbe Kastenwagen schlingernd die schlummernden Villenstraßen entlang jagte und in kurzen Bogen um die Ecken schwenkte.
Auf dem Markt wusste jeder selbst an den dunkelsten Morgen, ob Gren eingetroffen war und wo er heute seinen Standplatz hatte. Es wäre eine merkwürdige Trantute von Handelsmann gewesen, der nicht für einen Augenblick seinen eigenen Kram im Stiche gelassen hätte, um sich zu unterrichten, was Gren anzubieten hatte. Fünf Minuten nach Eröffnung des Marktes waren
Grens Überraschungen jedem bekannt, und jeder berechnete danach seine eigenen Aussichten. Im Verlauf von einer Stunde passierten sämtliche Gemüsehändler der Stadt an seinem Wagen vorbei und entführten ihm für teures Geld jeder seine Kostprobe von der Rarität der Jahreszeit.
„Du bist, ein Wucherer", sagten sie fluchend.
Aber Gren war nicht sentimental.
„Wenn ihr es woanders billiger kriegt, bitte sehr!" sagte er lächelnd.
Sie kauften murrend, aber kaufen mussten sie; jeder, selbst der geringste Grünwarenhändler im Keller der Nebenstraße, hat seine Geschäftsehre.
Eines Jahres zur Weihnachtszeit war er der einzige mit Rotkohl auf dem Markt — allen anderen war er missglückt. Mit seinem war auch nicht viel los, aber Rotkohl war es jedenfalls. Bitte sehr, vier Kronen die Stiege — für Köpfe nicht größer als die Faust! Die Gemüsehökerinnen aus den Armeleutegassen, die ihren ganzen Tagesumsatz in einem Handkorb nach Hause holen, taten sich zu drei oder vier die Stiege zusammen — damit ihnen nur keiner nachsage, sie führten nicht die Ware des Tages. In weniger als einer Stunde hatte Gren tausendmal zweiundzwanzig Stück verkauft. Die kleinen Händler hatten keinen Verdienst an dieser Ware; die meisten scheuten sich, zwanzig Öre für den Kopf zu fordern, und verkauften mit Verlust. Aber sie merkten sich das; als Sommer war, musste er alle anderen unterbieten, um überhaupt was loszuwerden.
„Na, Gren", sagten die neben ihm spöttisch, „du wartest wohl, bis wir alle ausverkauft haben, und gehst dann mit dem Preis in die Höhe?"
Gren lachte nur.
„Meine Zeit kommt früh genug", antwortete er ruhig.
Sie kam den Winter darauf. Das letzte Mal - als er der einzige mit Rotkohl gewesen war — hatte der ganze Markt in Porree geschwommen; er lag überall herum - auf dem Pflaster, in den Abfallkästen, in dem Raum unter den Gemüseständen, wo er verfaulte. Niemand wollte Porree noch sehen, er kostete fast nichts. Es brachte nichts ein, die Porrees aus der Erde zu nehmen und zu bündeln; man ließ sie in der Erde verfaulen, dann waren sie doch wenigstens als Dünger gut. Durch Schaden klug geworden, hielt man sich im Frühjahr jedem Gedanken an Porree fern; nur Kristian Gren zog keine Lehre daraus, sondern bepflanzte eine ganze Tonne Land mit Porree. Den nächsten Winter war er der einzige mit Porree auf dem Markt, hunderttausend Stangen Porree, und bestimmte selber den Preis — zwei Kronen die Stiege, bitte sehr! Und obendrein setzte er die Stiege von den gewohnten zweiundzwanzig auf zwanzig Stück herab.
Die Grünkramhändler gingen hoch und rannten weg, als sie den Preis hörten — nun wurde er ihnen doch zu amerikanisch. Aber sie kamen wieder, in großem Bogen, schielten nach den Porreestangen, befühlten sie und gingen fluchend ihres Wegs, drehten dann aber mit einem Ruck um und schalten ihm den Buckel voll — Gauner, Bluthund! Vor lauter Hohn sagten sie Sie zu ihm. Gren lächelte und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wie viel Stiegen soll ich für dich auf die Seite legen?" fragte er. Da wurden sie ganz und gar rabiat und drohten ihm mit Prügel. Sie standen drüben auf dem Bürgersteig in Gruppen herum und schimpften auf ihn. Aber Gren ließ sie toben, wie sie wollten; er wusste ungefähr, was jeder von ihnen brauchte, und war gutmütig genug, es ihnen zurückzulegen. Und als sie dann, damit es niemand sähe, um den Wagen herum angeschlichen kamen, ihre Bestellung aufzugeben, zeigte er bloß auf den Haufen. Er hielt diese Menschen in seiner nimmer satten Hand und war nicht böse, wenn sie ein bisschen mäkelten.
In vierzehn Tagen nahm Gren zehntausend Kronen für die Porrees ein. Es war dasselbe wie mit dem Rotkohl: die kleinen Händler scheuten sich, zehn Öre für die Stange zu nehmen, und setzten lieber Geld zu, als dass sie einen Preis verlangten, der ihnen als Beutelschneiderei vorkam — selbst wenn sie das beste Gewissen dabei hatten. Aber von da an erklärten sie Kristian Gren offen den Krieg.
Gren lachte darüber und kaufte außerhalb Valbys zehn Tonnen Land zu zehntausend Kronen die Tonne. Das war ein gutes Geschäft; wenige Tage später wurden ihm fünfzehntausend für die Tonne geboten, aber er verkaufte nicht. „Es dürfte hier bald eine Straße gebaut werden", sagte er, „ich behalte es." Und dann bepflanzte er das ganze Land mit Erdbeeren.
Gren berechnete alles auf amerikanisch und gab stets von seiner Weisheit ab. Er war es, der den Gärtnern als erster begreiflich machte, dass sie die Hälfte unterpflügen müssten, wenn an einer Ware Überfluss war, damit sie für das übrige den Preis hochhielten. „Wir haben dann gleich hohen Verdienst bei halber Arbeit", sagte er. Die größeren Händler nahmen keinen Anstoß daran, höherer Preis gibt höheren Aufschlag. Aber alle die tausend Kleinhändler, die in Geschäften nicht ausgebildet sind und es sich nicht abgewöhnen können, für den kleinen Mann zu denken und zu fühlen, die empörten sich über diese neue Methode.
Ihr Hass war nun so stark, dass sie auf alles verzichteten und um seinen Wagen einen großen Bogen machten; selbst wenn er weit billiger verkaufte als andere, gingen sie nicht zu ihm hin. Eine Zeitlang lachte er darüber. „Meine Zeit kommt wieder", sagte er und versuchte mehrere Male einen Hauptschlag. Ein jeder erinnert sich zum Beispiel des Jahres, als die Stadt zum ersten Mal bereits im Februar mit einheimischen Radieschen beliefert wurde— das war eine von Grens Leistungen. Es half aber nichts — er war von den vielen gezeichnet: mit dem schweren Fluch, der darin besteht, dass gerade die Ärmsten des Lebens ihre Sachen zusammenpacken und gehen!
Die Flucht griff weiter um sich, ohne Lärm, aber unaufhaltsam wie eine Panik. Die Marktmänner wollten ihm nicht zur Hand gehen; wenn er sie rief, hörten sie nicht; sagte er sein herausforderndes Ihr könnt runtergehen und auf meine Rechnung einen Kaffeepunsch trinken!", dann schlichen sie davon wie nach einem Fußtritt. Leute, mit denen er in guter Geschäftsverbindung stand, kamen plötzlich an und verlangten Abrechnung -angesteckt von dem Unbestimmbaren, das wie eine Anklage über ihm hing, als nichts oder alles Mögliche. Und eines Tages geschah es dass eine Forderung an ihn über den ganzen Markt von Mann zu Mann ausgeboten wurde - für einen lächerlich geringen Teil ihres Wertes. Gren steckte nicht so tief in Schulden, als dass er ihnen nicht sehr wohl den ganzen Betrag gleich hätte in die Fresse hauen können; aber er wusste nichts von diesem Vorgang.
Jetzt passierte es mehr als einmal, dass er zu seinem eigenen Trick Zuflucht nehmen und eine Ware unterpflügen musste; und eines Tages blieb er ganz weg vom Markt. „Niemand will mir noch was abkaufen", sagte er missmutig. Er setzte seine schwer erworbenen Pfennige zu und musste schließlich für das erstbeste Gebot seinen Landbesitz fahrenlassen - und das gerade in dem Augenblick, als die Stadt ihre großen Pläne mit der Gegend da draußen bekannt gab. Nur ein halbes Jahr länger, und er hätte, wie gesagt, die Million in der Tasche gehabt.
Als es ihm klar wurde, wie nahe er dem Glück gewesen war, war es mit seiner Widerstandskraft vorbei. Er trat aus seiner Einsamkeit heraus, wo er auf eine weitere Chance gelauert hatte, und tauchte von neuem auf dem Gemüsemarkt auf — schon früh um sechs angedudelt, ohne des Nachts aus den Kleidern gewesen zu sein, jedem ersten besten zu Diensten, der einen Kaffeepunsch zu spendieren geneigt war. Damit die Pünsche schneller kämen, wurde er dienstwillig, und nach und nach glitt er in alle die kleinen Obliegenheiten eines regulären Märktemannes hinein: trug die Waren aus, versorgte die Pferde, holte belegte Brote für solche, die ihren Wagen nicht verlassen konnten.
Gehen Sie selbst hin und sehen Sie sich ihn an, am besten aber an einem Wintermorgen gegen sechs, wenn die Stadt noch schläft und Kälte und Dunkelheit einem das Leben verekeln. Von allen Seiten rollen die Wagen herein, und der Markt liegt da und arbeitet würgend wie eine gewaltige Speisepumpe - es ist wohl wert, das anzusehen.
Gren selbst trifft man in einer der Kellerkneipen, die auf der Nordseite des Marktes liegen und vor neun Uhr vormittags am stärksten besucht sind. Da hockt er, bis die Geschichte in Schwung
kommt; dann ist er dabei. Der ganze Markt gehört immer noch ihm; er ist überall und nimmt sich der Dinge an, als wären sie seine eigenen. Von seiner alten smartness hat er noch einige Reste übrig behalten, die anderen Marktläufer mögen ihn nicht. Wenn die Handelsleute unten sind, um sich eine Herzstärkung zu genehmigen, achtet er unaufgefordert auf die Wagen; er hat kein Vertrauen zu den Burschen, die solange den Verkauf übernommen haben, und greift oftmals ein. Hinterher verschwindet er in den Keller und erstattet Bericht.
„Es ist gut, Gren", sagen sie geistesabwesend und drücken ihm ein Fünfzigörestück in die Hand.
Er kennt alle Konjunkturschwingungen des Markts, und mitunter schließt er Geschäfte über Hunderte von Kronen ab, während der Mann selber unten im Keller sitzt und sich um nichts kümmert. Gren kriegt fünfzig Öre für seine Bemühung und ist himmelhoch begeistert — er hat es gründlich gelernt, sich dem Gemeinnützigen einzuordnen.
Höher als bis zu fünfzig Öre reichen seine Ansprüche nicht; dann steigt er in den Keller hinunter und sitzt da und träumt über sehr großen Schnäpsen und einem verschwindend kleinen Glas Bier. Dann ist mit ihm überhaupt nichts anzustellen. Er träumt sich als den alten Gren, kein Teufel bringt ihn dazu, Hand anzulegen, solange er einen Öre in der Tasche hat. Und wie er so sitzt, schlägt er mit dem Arm aus und sagt mit der Großschnauzigkeit vergangener Tage: „Bestell dir einen Punsch auf meine Rechnung, alter Junge!" Dann fällt es ihm ein, dass er selber Marktbändiger ist — und schlurft auf seinen flachgetretenen Pantinen an die Theke.
Gehen Sie hin und sehen Sie sich ihn an! So wie er ist, ist er ein Produkt der Rechtschaffenheit in „Groß-Kopenhagen", wo trotzdem alle einer den anderen kennen. Er gleicht allen aus der Tiefe: quabblig, bläulich, hündisch. Sein Äußeres verrät keinerlei Spur früherer Größe, aber jeder auf dem Markt kann Ihnen die Unterlagen zu dem Schuldspruch liefern: Ehre und Gut verwirkt!
1907


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