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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DIE ZUGVÖGEL

Peter Nikolaj Balthasar Rasmussen Kjöng — dessen Name nach unumstößlichen Lautgesetzen, die hier nicht erklärt werden sollen, im Laufe der Zeit die Form König Nebukaneser angenommen hatte — war ein Mann, der die Welt und die Menschen kannte.
Von Beruf war er Schuhmacher, von Geblüt fahrender Gesell. Er gehörte zu jenen, in denen die Umdrehung der Erde lebendig geworden ist, so dass sie partout auf eigene Rechnung rund um sie herum müssen; zu wandern und ins Unbestimmte zu wandern saß ihm als Drang in den Fußsohlen. Er kannte nichts Herrlicheres als aufzubrechen — einerlei, wovon. Auf diese Weise ließ er mehrere Male das Glück hinter sich und fühlte sich glücklicher dabei.
Auf seinen eigenen Füßen hatte er den größten Teil der zivilisierten Welt durchwandert — insofern er klar und deutlich als Zivilisation die Sitte bezeichnete, auf ledernem Schuhwerk zu gehen. Er kannte die deutschen Herbergen und die französischen Landstraßen ein und aus, hatte Alpen und Pyrenäen mehrmals überschritten und mit dem einen Bein in der Schweiz und dem andern in Frankreich gestanden und weit über die italienischen Hänge hinuntergespuckt. Auf Sizilien war er gewesen, auf Gibraltar und drüben in Kleinasien.
Auf seinen Fahrten hatte er alle Geheimnisse des modernen Transportwesens kennen gelernt; er wusste, wo es angängig war, zwischen den Rädern eines Güterwagens zu hängen, und wo es zweckmäßiger war, angeblich seine Fahrkarte verloren zu haben oder an die Gutmütigkeit der Bahnbeamten zu appellieren. Von Gibraltar schlüpfte er nach Sizilien hinüber, indem er sich im Kabelraum eines großen Dampfers verbarg; der Hunger trieb ihn schließlich aufs Deck, und die Reise kostete ihn eine tüchtige Tracht Prügel und ständige Bedrohungen, über Bord und den Haien vorgeworfen zu werden; aber hinüber kam er.
Von Sizilien wollte er mit einem anderen Dampfer gratis nach Griechenland und dafür als Heizer arbeiten. Aber es zeigte sich bald, dass er von dem Handwerk nichts verstand, und so wurde er in Brindisi an Land gesetzt. Da schmierte er sich die Füße mit Talg ein und wanderte das Adriatische Meer hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Es dauerte Monate, aber hin kam er diesmal auch — und auf Zeit kam es ja nicht an. König Nebukaneser hatte etwas von der Geduld der wandernden Himmelskörper an sich, er wanderte, um zu wandern, suchte an und für sich nichts Bestimmtes — das Wandern selbst war ihm genug. Auf der Balkanhalbinsel erlebte er das Gaudium, von Räubern gefangen und mit größter Verachtung wieder weggeschickt zu werden, nachdem sie die Beschaffenheit seiner Kleidung untersucht hatten. „Eine Maus rettete den König der Tiere, eine Laus rettete König Nebukaneser", pflegte er mit einer großartigen Handbewegung zu sagen.
Er machte eine Spritztour nach Amerika — um ans Gold zu riechen. Aber unten in Kalifornien gelangte er rasch zu dem Ergebnis, dass Gold für einen reisenden Gesellen eine viel zu schwere Ware sei, und zwischen den Achsen eines Kohlenwagens ließ er sich schleunigst nach New York zurücktransportieren. Hierbei machte er zugleich die Erfahrung, dass die Amerikaner wirklich praktische Leute sind. In Deutschland pflegte das Bahnpersonal mit einer Laterne unter den Zug nach Vagabunden zu leuchten, und dann wurde man hervorgezogen und vor die Obrigkeit geschleppt, wo man Verhör und Urteil und feierliche Ausweisung wegen Missbrauchs von Staatseigentum über sich ergehen ließ. Aber hier lief nur ein einziger Mann mit einem Schlauch den Zug auf und ab und spritzte kaltes Wasser unter den Zug. Sobald dann der Zug mit seiner Höllengeschwindigkeit einsetzte, froren einem die Kleider auf dem Leibe zu Eis, und sein Lebtag lief man mit Gicht in der linken Schulter herum.
Von New York aus versuchte er, sich als Meisterkoch oder Leichtmatrose nach Kopenhagen anheuern zu lassen, und als keines von beiden gelang, fiel er eines Tages, vom Schlaganfall betroffen, auf der Straße um. Alles, was er sonst zu tun hatte, war nur, im rechten Augenblick ein wenig die Augen zu öffnen und das Wort „Däne" zu flüstern. Daraufhin wurde er auf das dänische Konsulat gebracht, das ihn dann nach Hause beförderte.
Ja, er hatte das Leben und die Menschen kennen gelernt! Sein Handwerk hatte ihn über die halbe Erde geführt, in allen Großstädten hatte er gearbeitet — in jeder so wenig wie möglich, um auch alles sonstige mitzunehmen — und sozusagen im Vorbeigehen seinem Fach ein neues Geheimnis abgelauscht. Er brachte nicht viel fertig, aber was er fertig brachte, war schlechthin Kunst; seine Arbeit war unter tausend anderen herauszuerkennen, solange ein Faden davon übrig war; er konnte kein Stück Leder anrühren, ohne dass eine Ausstellungsarbeit daraus wurde.
Mit einem Lächeln gedachte er der heimatlichen Pfuscherbuden; jetzt aber sollte Schwung in die Stiefel kommen, denn jetzt war es seine Absicht, sich zu Hause niederzulassen und seine Welterfahrung fruchtbringend zu verwerten, in Übereinstimmung mit dem Wort, dass man seinem Vaterland sein Bestes schuldig sei. Und das erste, was er tat, nachdem er einen Monat lang gebummelt hatte, um den Magen an die heimischen Nahrungsmittel zu gewöhnen, war, dass er in einer Werkstatt Arbeit annahm.
Aber König Nebukaneser war gewöhnt, sich in großen Räumen nach großen, einfachen Gesetzen zu bewegen. Auf seinen Wanderungen hatte er gelernt, alles Überflüssige aus seinem Gepäck auszuscheiden; das Leben hatte ihn gelehrt, dass das meiste von dem, womit sich die Heimat herumschlug, überflüssiger Ballast war - und nun stand er da mit seiner einzigartigen Begabung, alles zu vereinfachen. Der Apparat, den ein dänischer Schuhmacher in Bewegung setzt, wenn er eine Arbeit beginnen soll, musste einem Manne komisch erscheinen, der mehr als einmal im Straßengraben gesessen und erstklassige Arbeit geleistet hatte - nur mit einem Pfriem, einem Messer, ein wenig Pechdraht und einem abgebrochenen Stuhlbein zum Nachputzen ausgestattet.
Deshalb verkaufte er frischweg von dem Überfluss der Werkstätten überall, wo er arbeitete; aber obwohl ihm die Arbeit ebenso gut von der Hand ging, passte es den Meistern nicht, sondern sie zogen es ihm von seinem Tagelohn ab. Und er wurde vor die Tür gejagt und obendrein mit der Polizei bedroht.
Da fing er an, zu Hause zu arbeiten, und hier dehnte er seine Vereinfachung des Werkzeugs auch auf das Material aus. König Nebukaneser wusste aus dem Ausland, was Pappe wert ist, und von dem genau zugemessenen Leder, das ihm die Meister für eine Arbeit lieferten, verstand er eine unfassbare Menge übrigzubehalten. Das verkaufte er, und dadurch verlängerte er seinen blauen Montag bis Mittwochabend.
Unter seinen Kameraden galt er für ein Genie, und das hieß soviel wie einer, der ein hervorragend schönes Stück Arbeit in Blitzesschnelle fertig hat — und das sozusagen aus nichts, im übrigen aber Müßiggang und Hunger und kleine Klare über alles in der Welt liebt.
König Nebukaneser war sicherlich ein Genie. Wenn er arbeitete, arbeitete er; er hatte nicht mehr Finger an der Hand, als dahin gehörten. Ein Geheul und eine blaue Flamme — wuppdich! — zwei Paar Damenstiefel und Schlag fünf Feierabend! Hinterher brachte er seinen doppelten Tagelohn durch, schlief auf einem Haufen Pflastersteine oder hinter einem Bretterzaun seinen Rausch aus — und konnte am nächsten Morgen frisch an die Arbeit gehen, wenn es durchaus nötig war.
Aber das tat er höchst ungern; er haute lieber an einem Tag drei Paar hin, als dass er zwei Tage hintereinander arbeitete.
Bei der Arbeit hatte er für nichts anderes Sinn, aber wenn er den Rücken gerade machte, um saufen zu gehen, musste er oftmals entdecken, dass er allein war. Ein ums andre Mal rauchte das lächerlichste aller Phänomene vor ihm auf: dass die Leute keine Zeit hatten — Herrgott noch mal! Keine Zeit zum Bummeln! Er begriff es nicht, aber es war so.
Es war außerordentlich komisch, und es dauerte eine Weile, bis er sich ausgelacht hatte und feststellte, dass er ein einsamer Mann war. Die Kameraden hatten ihn und seine Unermüdlichkeit ganz einfach im Stich gelassen und sich — ein wenig schamhaft vielleicht — entfernt, um nicht über die Zeit zu bleiben. Sie waren Nutzgeschöpfe geworden, kleine Spießbürger mit Bäuchlein und einer gewaltigen politischen Verantwortung. Morgens Schlag sieben Uhr trabten sie zur Arbeit und gingen Schlag sechs Uhr abends wieder nach Hause — er hätte die Uhr nach ihnen stellen können, wenn er eine gehabt hätte. Den Abend benutzten sie zu politischen Versammlungen. Heiraten taten sie auch, und Sonntag nachmittags zogen sie mit Frau und Kind in den Zirkus. Und das nannten sie „der Tretmühle eins versetzen" — pfui!
Die über die Stränge schlugen, waren nicht mehr Leute seines Schlages, die es nötig hatten, die ihnen von der Arbeit beigebrachten Beulen auszuglätten; die großzügige Sauftour rutschte mehr und mehr in die Hände professioneller Bummler hinüber. Und König Nebukaneser war kein Bummler; er war bloß ein freier Mann, der zufälligerweise in der großen Welt gewesen war und sich umgesehen hatte, während die Kameraden das Sklavenjoch trugen.
Nun, das mussten sie selber wissen — wollten sie sich mit dem Glockenschlag in Fabriken und Großwerkstätten zusammentrommeln lassen, dann bitte sehr! König Nebukaneser arbeitete nach wie vor auf seinem Logis, da halfen keine Vorhaltungen — er war sein eigener Herr. Er wollte nichts von einem Werkmeister wissen, der herumging und ihm auf die Finger sah. Und Mitglied der Gewerkschaft sein und alles für sich dirigieren lassen, bis auf die Luft, die man einatmete — nein, pfui Kuckuck!
König Nebukaneser war Manns genug, seine Angelegenheiten selber zu ordnen; er wollte es sich gestatten dürfen, die Arbeit von drei Tagen an einem Tag zu erledigen — und an den beiden folgenden blauzumachen. Seinen Preistarif würde er schon selber bestimmen. Eines Tages erfuhr er zu seinem unsäglichen Hohn, dass die Gewerkschaft die Heimarbeit hatte verbieten lassen.
„Mich fressen sie nicht", sagte er und fuhr auf seine Weise fort. Und dank seiner Tüchtigkeit wussten die Meister ihn zu finden, wenn es um ein besonderes Stück Arbeit ging.
Aber sie durften ihn nur heimlich beschäftigen, und für den täglichen Gebrauch zogen sie die geordneten Verhältnisse vor. Bei König Nebukaneser wusste man nie, ob man verraten war oder verkauft; es kam vor, dass mitten in einem eiligen Stück Arbeit für die eine oder andere Hoheit der Teufel in ihn fuhr. Und König Nebukaneser konnte auch nicht von Luft leben, während die paar Nobilitäten, die Dänemark auf die Beine zu stellen vermochte, ihre Stiefelsohlen verschlissen.
Wie alle Genies kam er eines Tages zu der Erkenntnis, dass die Verhältnisse hier zu Hause zu klein seien! Es blieb nichts anderes übrig, als dem schäbigen Vaterland noch einmal den Rücken zu kehren. Er hatte die große Welt in sich bewahrt und gedachte ihrer stets mit dankbarer Freude. Und er warf die Taue los.
Aber er kam nicht so in Schwung wie in alten Tagen, wo er gleich den Vögeln Luftkanäle in den Knochen und Mühe gehabt hatte, sich auf der Stelle zu halten. Die Schleuderkraft hatte ihn verlassen, jetzt wirkte nur die Schwerkraft und fesselte ihn an die Erde. Er begriff es nicht, aber es verhielt sich so; jetzt kostete es Anstrengung, in Gang zu kommen, wie es früher Anstrengung gekostet hatte, zu verweilen.
Man flog nicht mehr aufs Geratewohl hinaus — man setzte sich hübsch hin und dachte über die Sache nach und überlegte. Die Erdumdrehung wirbelte nicht mehr Berge und Flüsse und endlose weiße Landstraßen durch das Gehirn; ob man die Fahrt aushalten würde — das war nun die Frage. Denn es wurden gewisse Anforderungen gestellt — namentlich an die Kraft der Beine, und der Magen wäre am besten etwas Ähnliches wie ein Steinbrecher gewesen. Aber mit beiden Teilen war allmählich nicht viel mehr los. Und dann dieses allgemeine Gefühl der Schwere — als ob einen die Erde an sich sauge. Nein, die große Welt mit ihrer ewigen Unruhe und Spannung lockte ihn nicht mehr, er hatte
Angst, sich in sie hinaus zu begeben. Er war müde und ruhebedürftig. So ein kleines Heim mit weichgekochtem sanftem Essen und Stuben und warmer Kleidung und einem sauberen Bett — das war, mit Schande zu vermelden, wonach ihm der Sinn stand.
Er versuchte es zu verwirklichen und schlug sich ein Jahr oder zwei durch, indem er sich von einem geistesschwachen Weibsbild versorgen ließ, die von Gelegenheitsarbeit lebte. Sie zankten sich dauernd, ausgenommen, wenn sie beide betrunken waren.
Aber dann war er auch gründlich von allem kuriert, was da häusliches Behagen und Familienschoß hieß; das mochten die anderen von ihm aus dreist für sich behalten — nun wusste er, was dahintersteckte!
Er bemühte sich, seinen Beruf wieder aufzunehmen, aber der war jetzt für einen Außenseiter wie ihn unwiderruflich gesperrt. Da endlich fasste er den Entschluss, sich gleich den Großen des Altertums auf Kosten der Öffentlichkeit ernähren zu lassen, und klopfte an das Tor des Prytaneions, das zwischen Oerstedsvej und Svineryggen auf dem Aaboulevard liegt.
Hier sperrte man ihn sogleich ein und gab ihm Pfriem und Pechdraht in die Hand. Aber König Nebukaneser war nicht hier hergekommen, um der Gesellschaft unlautere Konkurrenz zu machen; ebenso wenig hatte er sich gegen geordnete Arbeitszeit und festes Werkstattreglement aufgelehnt, um als geschorener Sklave in der Arbeitsstube der Armenhäusler zu sitzen und seine Stunde Spaziergang an der frischen Luft im Hofe zu erledigen — in abgemessenem Tempo und in Gefangenentracht. Er liebte die Freiheit noch mehr als seine Kunst, und die Gicht in seiner Schulter im Verein mit einem hässlichen Händezittern, das es ihm platterdings unmöglich machte, die Messerspitze vom Oberleder fernzuhalten, bewirkte, dass er für als Fachmann unmöglich erklärt wurde.
Es kam so weit, dass er der leichten Truppe angehörte, die, mit Besen und Schaufel bewaffnet, jeden Tag über die Brücken und
Plätze der Stadt ausschwärmt. Hier ging er nun und ließ den Besen gemächlich über die Pflastersteine gleiten, während sich die Spatzen wild in dem Kehricht tummelten und um ihn herum in rastlosem, fieberhaftem Gehetz das Leben pulsierte. Er beobachtete die wilde Jagd mit dem mild gleichmütigen Lächeln dessen, der weiß, was es gilt, aber das Seinige auf dem trockenen hat. Er hatte gelebt und war dabei gewesen wie nur einer von denen da, deshalb lockte sie ihn nicht mehr. Nur wenn er einen Straßenarbeiter über Stein- und Erdhaufen zu seiner Jacke hinsteigen und eine kleine helle Flasche hervorholen und küssen sah, durchfuhr ihn ein kleiner Stich und die Sehnsucht nach einer ähnlichen Liebkosung. Sonst aber ging es ihm gut, wirklich gut, und er beneidete niemand — nicht einen Menschen!
Als König Nebukaneser eines Nachmittags auf dem Höjbroplatz kehrte, in stilles, glückliches Wohlbehagen versunken, sah er etwas, das sein philosophisches Herz aus der Ruhe riss und es hämmern und beben machte:
Von der Köbmagergade her kam ein Frauenzimmer den Platz entlang und weiter nach der Börse zu geschlurft. Sie hatte einen schwarzlackierten Strohhut auf, dessen Rand den Kopf des Hutes verlassen hatte und wippend auf ihrem Nasenrücken ritt, so dass sie über ihn hinweglugte wie durch ein Visier; im übrigen prahlte sie mit den Resten eines alten französischen Schals, mit einem schlottrigen dünnen Rock und braunen Schuhen. Wangen und Nase ragten rund wie drei halbe rote Zwiebeln aus dem Gesicht heraus. Sie neigte sich stark vornüber und wackelte kokett mit dem Leibe. Die Schuhe hob sie nicht von der Erde, sondern schleifte sie über das Pflaster hin. Sein fachmännischer Blick sagte ihm sogleich, dass dies geschah, um sie nicht zu verlieren — an beiden war das Oberleder geplatzt.
Und sein wild hämmerndes Herz sagte ihm, dass dies Malvina sei — die Dame! —, seine letzte und einzige große, aber auch unglückliche Liebe. Sie, die ihr Lager und ihren Schnaps mit ihm geteilt hatte; sie, die er geprügelt und die ihn wieder geprügelt hatte — je nachdem, wie sie betrunken waren; sie, von der er so schmerzlichen Abschied genommen hatte, als sie an jenem Tag nach reiflicher Überlegung anklopften — sie an der weiblichen, er an der männlichen Abteilung!
Heute hatte sie also Ausgang und ging aufs Leben los - Malvina, die von ihrer Konfirmation bis zu ihrem achtzehnten Jahr die Geliebte eines abgelebten Grafen gewesen war! Malvina, die in ihrer Heiserkeit so gebildet sein konnte und ein wenig nach allem, vom Hofe bis zum Rinnstein, schmeckte! Das einzige Wesen, dem er begegnet war, das gleich ihm einiges von der großen Weltenumdrehung im Blute hatte!
Und nun ging sie aufs Leben los!
Es erwachte in ihm der unbändige Drang, noch einmal mit dabeizusein — ein einziges Mal bloß über die Stränge zu schlagen! Und er war drauf und dran, den Besen hinzuschmeißen und ihr zuzurufen, sie solle warten und ihn mitnehmen. Aber dann schoss ein Schimmer seiner alten Geistesgegenwart in ihm auf; er ließ den Besen aus der Hand fallen und wurde ganz blass, taumelte zum Aufseher Petersen hin und fragte, ob er nicht still nach Hause gehen dürfte, er hätte solche Schmerzen in der Herzgrube.
Aufseher Petersen, der wusste, dass König Nebukaneser keinen größeren Wunsch hatte, als zeitlebens im Armenhaus zu verbleiben, sah erst unschlüssig auf seine Uhr, dann auf den Polizisten, der „unter der Uhr" den Wagenverkehr regelte, und schließlich auf den Kranken. Er sah wirklich beunruhigend schlecht aus.
„Glaubst du, dass du allein nach Hause gehen kannst?" fragte er.
„Ja doch! Aber wenn man zehn Öre hätte, könnte ich bis ganz ans Tor fahren."
„Dann nimm den Omnibus dort!"
Aber König Nebukaneser erwischte den Omnibus nicht, er war zu matt, um sich zu beeilen. So wankte er zum Thorwaldsenmuseum hinüber, wo die Straßenbahn hielt. Die setzte sich inzwischen in Bewegung, und er lief ihr in mühsamem Trab nach, dem Schaffner heftig zuwinkend.
Aufseher Petersen schüttelte bedenklich den Kopf. Es musste um Nebukaneser schlecht bestellt sein, wenn er glaubte, die Elektrische einholen zu können. Nun, dann kam wohl eine andere Straßenbahn, es gab genug.
Als König Nebukanesers Berechnung ihm sagte, dass er zwischen sich und dem Aufseher Häuser habe, verlangsamte er die Geschwindigkeit und drehte von der Stormbrücke nach dem Schlosshof ein. Es kam wegen der Armenhausmontur darauf an, keinen Verdacht zu erwecken und nicht angehalten zu werden, und deshalb kaufte er hinter der Börse für drei Öre einen mächtigen gelben Briefumschlag und für zwei Öre eine Zeitung. Der Rest des Geldes ging für Kautabak drauf; er selbst kaute nicht, konnte es aber nun einmal nicht ertragen, Geld in der Tasche zu haben. Hinterher fiel ihm ein, dass er den Tabak den Kameraden schenken könne, und wieder ein wenig später kam ihm der Gedanke, dass er für das Geld einen Milchtoddy bekommen hätte. Doch er war nicht der Mann danach, geschehene Tat zu beweinen. Die Zeitung wurde in den Briefumschlag getan, um ihn zu füllen, und mit diesem behutsam unter dem Arm wanderte er weiter, stramm wie eine Ordonnanz, die dienstlich unterwegs ist. Die Polizisten auf der Knippelsbro schielten ihm nach, aber er ging seines Weges mit der Sicherheit, die Frucht eines guten Gewissens ist.
In den Nebenstraßen hinter Kristianshavns Torv irrte er ein Weilchen umher, ehe er Malvina entdeckte, die weit unten in der Dronningensgade durch eine Haustür in ein Haus mit einer Unmenge Fenstern verschwand. Er war sogleich im Bilde und ging stracks in das zweite Stockwerk hinauf und durch einen stockfinsteren langen Gang, von dem zu beiden Seiten die Türen in die Einzimmerwohnungen führten.
„Guten Tag, Dame", sagte er feierlich, als er in der Dunkelheit das Geräusch ihrer Kleider hörte. Er fasste sie bei beiden Ohren und gab ihr einen breiten Kuss.
„I, wie hast du mich erschreckt, Neserchen! Bei dieser Beleuchtung hätte es doch ebenso gut ein fremdes Mannsbild sein können", sagte sie kokett.
„Sucht man den Erbprinz, meine Dame? Du kannst versichert sein, dass sie ihn rausgesetzt haben."
„Nein, ich hörte ihn eben noch weinen. Aber es ist kein Schlüssel in der Tür."
König Nebukaneser untersuchte das Schloss mit kundigen Fingern und lugte durch das Schlüsselloch. „Einfache Sache", sagte er gedämpft, „hätte man bloß ein Ende Draht." Einen Augenblick überlegte er, dann schlich er einige Schritte den Gang hinunter an eine Türe, hinter der eine Frau schalt und einige Kinder schrieen, zog den Schlüssel heraus und kam zurück. Er passte großartig.
„Du bist ein Kerl, Neser", sagte Malvina zärtlich. „Nein, aber der Hauswirt ist eine gefräßige Laus, wenn er sich für die ganze Kaserne nur eine Sorte Schlüssel leisten kann", antwortete er bescheiden und brachte den Schlüssel ebenso lautlos zurück. „Das ist er, weiter nichts."
„Ach du", sagte Malvina und schlug ihn — es lag noch ein ferner Duft von Gräfin darin — gebildet auf die Finger, „du musst doch immer an dem Ekelhaften deinen Spaß haben. Wir auf unserer Abteilung wechseln jede Woche, will ich dir nur sagen."
König Nebukaneser verstand sie nicht; wenn sie so richtig vornehm war, wurde sie ihm mitunter schleierhaft. Aber er wusste, dass der Ursprung ihrer Bildung echt genug war. „Meine Dame!" sagte er und öffnete vor ihr feierlich die Tür.
Sie kamen in eine kleine Stube von anderthalb Fach Fenstern; das fehlende halbe Fach gehörte zur Küche; die maß in jeder Richtung zwei Ellen und war durch eine Scheidewand von der einen Zimmerdecke abgetrennt. In dem hierdurch entstandenen Alkoven hatte ein altes Holzbett gerade noch Platz; das Bett lag voll von Lumpen und der Raum unter ihm stand voll von Flaschen. An der entgegengesetzten Wand stand — auf zwei Beinen sich an sie anlehnend — die Hälfte eines Tisches, und unter dem Fenster stand eine schmutzige Korbwiege mit einem halbjährigen Kinde darin, das auf der Seite lag und schlief, einen Lutschbeutel aus Gardinenstoff im Munde. Der Lutschbeutel setzte sich in
einen langen Gardinendarm fort, der in feuchten Klumpen — beiseite getanen Lutschbeuteln - bis ganz auf den Boden hinabhing. Im Schlafe sog das Kind an dem Lutschbeutel, langsam ein und aus; dabei hob und senkte sich die ganze schwere Reihe — sie glich einem Quastenbehang. Das ungebrauchte Ende der Gardine war über einen Nagel gehängt.
Ein Junge von zwei bis drei Jahren war am Fenster auf dem einzigen Stuhl des Zimmers so angebracht, dass er auf die Straße hinabsehen konnte; er war an dem Stuhl festgebunden, auf dem Fensterbrett vor ihm lagen einige abgenagte Schmalzbrotrinden. Als sie eintraten, schlief er; der schwere Kopf hing leblos auf der Seite, sein schwaches Atmen klang wie sanftes Flöten. Er schlug ein Paar große Augen auf und sah sie groß an.
„Junge, ach du Herrgott, Junge!" rief König Nebukaneser mit hochentzückter Fistelstimme und streckte theatralisch die Hände aus. „Erkennst du deinen leiblichen Vater, was?"
Gemeinsam banden sie ihn los, und Malvina nahm ihn auf den Schoß, um ihn ein wenig zu säubern. Währenddessen trabte der glückliche Vater im Kreise um sie herum und machte seinem Entzücken in kleinen Ausbrüchen Luft: „Das kleidet dich, Mädchen! — Das kleidet dich ganz mörderisch, ihn zu bemuttern! — Du solltest nur selber sehen, wie sehr es dich kleidet!"
Ohne nennenswerte Gemütsbewegung, in einer eigentümlich starren Ruhe ließ sich der Kleine behandeln; er atmete schwer und hörbar und ließ sich nicht im geringsten anmerken, dass irgend etwas Eindruck auf ihn machte. Es schien, als hätte er ein für allemal beschlossen, für nichts und niemand auf dieser Welt Partei zu nehmen. Er hatte etwas Verschlafenes an sich, war mit keiner Bewegung behilflich, sondern atmete nur mit einem schweren, schnarchenden Laut, der sich ganz gut auffassen ließ, als ob er vor Behagen schnurre.
„Er macht sich schwer", sagte Malvina, „das ist die reine Zärtlichkeit. Und sieh mal, wie gut instand er ist, Neser!"
„Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass er sehr redselig ist", meinte König Nebukaneser nachdenklich. „Gott mag wissen, ob er überhaupt einen Ton sagen kann? — Wie alt ist er denn jetzt?"
„Drei Jahre, Neser - drei Jahre durch! Gott, dass du das vergessen konntest!"
„Ja, was denn — Männer haben doch viel wichtigere Dinge im Kopf." Drei Jahre — na, da hatte er noch Zeit genug zu sagen, was zu sagen war, selbst wenn er Reichstagsabgeordneter werden sollte. „Da kann er immer noch dem Teufel ein Ohr abschnacken. - Hast du einmal darüber nachgedacht, was er werden soll, wenn er groß ist?"
„Gott, nein", rief Malvina erschreckt.
„Das ist doch wohl ebenso wichtig wie sonst was! Denn siehst du, es steckt doch Material in so einem kleinen Klumpen — Menschenmaterial, wie es so schön heißt. Wer weiß, vielleicht setzt er sich mitten rein in den Kuchen! Das wäre ein Vergnügen, den Tag zu erleben."
„Ja, ich meine, er wird Konditor", sagte Malvina in Anknüpfung an das Wort Kuchen; von Süßigkeiten hielt sie was.
König Nebukaneser schnitt eine verzweifelte Grimasse.
„Ich sage es nicht, um dich zu beleidigen, Dame, aber ihr Frauenzimmer habt keine Phantasie. Nein, mit der Handarbeit ist es vorbei! Oder hast du einen tüchtigeren Handwerker als König Nebukaneser gekannt? Und was hatte er davon? Jetzt kommt es auf den Kopf an — heutzutage gibt der Verstand den Ausschlag, weißt du! Und Kopf hat er wahrhaftig genug, das Balg!"
König Nebukaneser hielt mit seinen großen Händen den Kopf des Kindes umfasst. „Will es nach oben im Hefeteig — was, Junge?" sagte er und lachte unter Tränen. Der Gedanke an die große Zukunft des Kindes hatte ihn so ergriffen, dass ihm die Hände bebten. „Keinen Mucks sagt er, er blinzelt nicht einmal mit den Augen — er hat Charakter, der Bursche; und weißt du, Malvina, ich fühle es, wie es in seinem gesegneten kleinen Hirnkasten hier oben arbeitet. Das ist der Verstand, der es schon eilig hat — er wird gut, das sage ich dir! Und sieh, wie unerschütterlich er ist! Grad wie ein kleiner Herrgott, der alles auswendig weiß. Für den hängt sicher nichts zu hoch!"
König Nebukaneser schwieg und stand da und pfiff leise vor sich hin, den Blick ins Unbekannte gerichtet. In die Ferne entrückt, wie er war, hörte er nicht, dass ihn Malvina um sein Taschentuch bat — er hatte auch gar keins. Dort draußen in der Zukunft wiederholte sich sein eigenes Leben noch einmal, aber großartiger und erfolgreicher. König Nebukaneser hatte selber den Rekord geschlagen, aber auf einem Gebiet, das schon dem Tode verfallen war; er hatte Hunderte von Malen gesiegt, doch als Sieger fühlte er sich nicht. Aber wenn der Junge soweit war, würde die Sache interessant werden. Er ahnte das Sieden und die Unruhe und hatte selber oft genug in Schusslinie gestanden, um des Jungen wegen schwindlig zu werden.
Dann gab ihn die Ferne sachte wieder frei, mit einem Seufzer landete er auf der Erde und entdeckte, dass er eine trockene Kehle hatte. Er ging einige Male unruhig hin und her und sah forschend in alle Ecken. „Gott weiß, wie es mit dem Weinkeller bestellt ist?" sagte er, zog die Flaschen unter dem Bett hervor und hielt sie gegen das Licht. „Leer — leer über die ganze Linie; das ist wahrhaftig mager! Du, glaubst du nicht, dass deine Schwester hier in der Nachbarschaft Kredit hat?"
Malvina schüttelte bloß den Kopf; sie war damit beschäftigt, dem Jungen mit einem Taschentuchzipfel die Nasenlöcher zu reinigen.
„Herrgott, die sind doch fein heraus! Sie rennt herum und verdient das Essen für sie, und er hat seine sechzehn Kronen die Woche und kann sie auch bis zum letzten Öre für sich verbrauchen! Und dann sollten sie nicht für einen belämmerten Tropfen Spiritus Kredit haben?" So eine Albernheit war nicht zu begreifen. --„Junge, kannst du wohl jetzt mal Vater sagen? Jetzt
bist du ja hübsch vorn im Gesicht! — Ich glaube, Gott steh mir bei, er sieht uns allen beiden ähnlich, Dame — das kommt davon, wenn man sich in allen Dingen einig ist." Er machte einen Abstecher in die Küche hinaus, die nicht größer war als ein gewöhnlicher Tisch. „Wasser leisten sie sich immerhin, diese Schlemmer - ah!" Dann war er wieder in der Stube: „Junge, sagst du jetzt Vater? — Na, gib mir einen Kuss, Mädchen! Es steht dir gut, ein Kind auf dem Schoß zu halten — du solltest es nur selber sehen!"
Aber Malvina maulte: „Du musst immer meine Familie herunterreißen und dabei sind sie so anständig gegen den Jungen gewesen und behalten ihn für rein gar nichts bei sich."
„Na ja — an und für sich sind sie ja auch ganz ordentlich", sagte König Nebukaneser versöhnlich. „Bloß keine großen Töne, Malle!--Jungchen!" Er wühlte in der Westentasche, um für
den Jungen etwas zu finden, und erwischte den Kautabak. Zum Kuckuck auch! Da hätte er für den verteufelten Sechser doch dem Jungen etwas kaufen können — Sahne zum Beispiel! Sahne wäre nicht zu gut für solch einen Prinzen! Er schlenderte wieder in die Küche und suchte in irgendwelcher wahnwitzigen Hoffnung auf
dem Tellerbört herum.
Plötzlich erscholl ein überraschter leiser Pfiff; unter einer der Tassen lag ein Zehnörestück versteckt. König Nebukaneser kam unter feierlichen Gebärden hereingetanzt. „Ach, hör jetzt, Malvina — Himmelsmädchen! Spring hinunter und kauf für fünf Öre Sahne für den Erbprinzen und für den Rest des Geldes Fusel. Sag, es wäre für einen Kranken, dann geben sie besseres Maß."
Niemand auf der Welt konnte dafür, dass Malvina für das ganze Geld Branntwein brachte — sie selbst am allerwenigsten. Teils war nämlich die Sahne sauer um diese Tageszeit, teils hatten sie keine mehr, und schließlich gab es für weniger als zehn Öre keinen Branntwein zu kaufen! König Nebukaneser war auch nicht derjenige, der ihr nach Anhörung dieser alles in allem hinreichenden Gründe Vorwürfe machte; und der Junge war bereits so viel Mann, dass er sich durch einige kleine Tropfen auf eine Brotrinde genügend entschädigt fühlte.
Aber als König Nebukaneser den Trank genossen hatte, geschah es ihm, dass die Gemütlichkeit des Heimes verduftete; das ruhige Genügen am Verweilen im Schoß der gesammelten
Familie war nicht mehr; alle Augenblicke war er am Fenster und sah hinaus. Ein wenig von dem alten Schwung war über ihn gekommen, er fühlte noch Leben in sich und spürte das Bedürfnis, es auf eigene Rechnung ein bisschen aufzufrischen — das Dasein am gestreckten Arm zu halten, um es auf anständige Weise auszudrücken.
Es war ein selten schöner Tag, einer der wenigen Tage, wo die Sonne siegreich den Rauchdunst zersprengt, der über der Stadt ruht, und Ströme von Licht über die Straßen gießt. Zwischen den Bäumen des Walles sah man des Himmels wunderbares Blau; der Weltenraum lag in heiterster Ruhe, ohne Materie oder Grenzen; es war, als sähe man in die zartfarbigste Unendlichkeit hinein.
König Nebukaneser schüttelte sich. „Einen solchen Tag sollte man feiern", sagte er, „und nicht hier zu Hause hocken; der Junge ist auch schläfrig, du. Ich meine, ich gehe ein bisschen aus
und vertrete mir die Beine.--Wenn man bloß ein bisschen Geld
auftreiben könnte." Er sagte es mit einem Seufzer und sah sich forschend in dem leeren Zimmer um.
„Du kannst dich doch nicht in dieser Montur öffentlich sehen lassen", sagte Malvina.
„Nein, besser wäre Zivil, aber in der Garderobe ist ja zum Anziehen genug — ein Gottessegen an Kleidung!"
Sie untersuchten den Inhalt des Bettes und wählten einstimmig das am wenigsten zerlumpte Paar Hosen und die Überreste eines braunen Überziehers. König Nebukaneser zog den Staat an und warf seine Armenhaustracht verächtlich auf das Bett.
„Wenn du jetzt noch ein bisschen herausgeputzt wirst, bist du richtig elegant", sagte Malvina und strich liebkosend an ihm herunter.
„Ja, es ist gar nicht so schlecht", sagte er begeistert. „Aber um die Strümpfe sind wir betrogen."
„Du musst die Hose weiter runterlassen, Neser."
„Das hilft bloß nicht. Aber wenn schon — an Sommertagen darf man dreist mit nackten Füßen in Holzschuhen gehen."
„Dann gehe ich mit dir bestimmt nicht. Ich kann genug andere zur Begleitung kriegen."
„Glaubst du etwa, es wäre mein Ernst?" sagte er rasch. „Soweit ist es wohl mit uns noch nicht gekommen." Er sagte es großspurig genug, war aber doch ratlos.
„Du solltest es mal in den Rumpelkammern versuchen", schlug Malvina vor.
„Das habe ich auch gerade gedacht", antwortete er ruhig, um bei der Dame nicht ganz die Oberhand zu verlieren. Aber im Nu war er aus der Tür und kam kurz darauf mit einem schäbigen Zylinder und einem Paar abgetragenen Zugstiefeln zurück.
„Das sind ein Paar Trittlinge!" sagte er und hielt sie ihr triumphierend hin. „Das heißt, genäht sind sie schweinemäßig — aber sie sind immerhin anständiger als Holzschuhe. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Holzschuhe. Sie ruinieren das Handwerk, und Klumpfüße machen sie einem auch!"
Die Kleider hingen ihm auf dem Leibe wie zerknittertes Papier, das wieder geglättet worden ist. Aber die beiden hatten nur für die Risse Augen, und Malvina suchte vergeblich nach Nadel und Zwirn.
Unterdes begann das Kind in der Wiege sich zu rühren und zu schreien, und es musste bald um die Zeit sein, wo die Schwester heimzukehren pflegte. Unter vielen Kosenamen setzten sie den Jungen wieder ans Fenster und banden ihn an den Stuhl fest, damit er nicht hinausfiele. „Ja, da darf der Junge sitzen und den Himmel ansehen und es sich gemütlich machen", sagte König Nebukaneser und streichelte dem Kleinen vorsichtig den dünnbehaarten Kopf. Aber der Bengel zog es vor zu schlafen; er ließ den Kopf schwer auf die Seite fallen und begann von neuem sein sanftes Pfeifen.
Die Kleine war zornig; sie hatte den Lutschbeutel ausgespuckt, stemmte wütend den nackten Bauch in die Höhe und schrie dabei. Ihr kleiner Leib bildete richtig eine Brücke.
„Sie ist hungrig, das arme Wurm", sagte König Nebukaneser und sah sich hilflos um; „sieh nur, wie sie mit dem Bauch herumficht. — Du möchtest wohl was in das kleine Bäuchelchen hier haben, was?" Er klopfte ihr ein wenig scheu auf die gespannte kleine Trommel. Dann nahm er die leere Flasche und hielt sie prüfend gegen das Licht, aber nicht ein Tropfen war übrig geblieben, der allerletzte war auf die Brotrinde des Jungen geflossen.
„Ja, es ist schade", sagte Malvina, „wenn es auch nicht das eigene ist, schade ist es." Sie sammelte einige Brotreste zusammen und hielt sie unter den Wasserhahn, um sie ein bisschen aufzuweichen, ehe sie sie ihrem Gaumen zu bieten wagte. Dann kaute sie die Rinden mit viel Speichel zu einem glatten Teig und knotete ihn über den anderen in den Gardinendarm. Das Kind schwieg, schloss die Augen und machte sich halb im Schlafe daran, mit ihrem kleinen Saugwerkzeug den ganzen Apparat auf und nieder zu hieven, ohne zu beachten, dass sie jetzt eine Quaste mehr in Bewegung zu setzen hatte.
König Nebukaneser stand dabei und betrachtete ihren unverdrossenen Fleiß. „Sie kann schon gewaltig zupacken", sagte er nachdenklich, „die wird mal gut, du! — Nein, ich möchte nicht das Mannsbild sein, das ihr mal in die Quere kommt. — Aber sag, sollten wir nicht den ganzen alten Kram abschneiden? Es tut einem ja weh anzusehen, wie sie sich mit der ganzen Menage abrackern muss."
„Nein, lass es lieber sein, du; vielleicht will meine Schwester die Gardine noch mal verwenden", sagte Malvina.
Sie schlenderten aufs Geratewohl die Straße hinab; Malvina hatte ihren Neser unterm Arm gefasst und trat leichtfüßig das Trottoir. „Du führst uns doch in ein anständiges Lokal — nicht in eine Spelunke, was? — Es gibt genug Lokale, wo du uns hinführen kannst." Sie sprach mit einer Überzeugung, dass König Nebukaneser sich ganz klein vorkam.
Im übrigen überließ sie ihm die Führung ganz und gar, warf nur ab und zu verliebte Blicke zu ihm empor und ging ansonsten mit sittsam niedergeschlagenen Augen neben ihm her — weil es so lange her war, als sie zuletzt mit einem Manne gegangen, dass es sehr wohl das erste Mal sein konnte. Sie war schüchtern wie ein junges Mädchen, und das war schön! Trotzdem schielte sie heimlich nach den Läden hin, wo die Leute standen und den Hals nach ihnen reckten. König Nebukaneser sah prächtig aus mit seinem Zylinderhut, und sie wusste, dass sie ein schönes Paar waren.
„Ich weiß, wo du uns hinführst", sagte sie heiter und hängte sich schwer an seinen Arm. Aber sie wusste es gar nicht und legte auch keinen Wert darauf, es zu wissen; sie sagte es bloß, um ihrem blinden Vertrauen zu ihm in Worten Ausdruck zu geben. Am allerliebsten ginge sie an seinem Arm mit geschlossenen Augen stracks ins Licht hinein und schlüge sie erst auf, wenn sie mittendrin wären; dann flutete einem das jähe Lichtmeer so schmerzhaft in die Augen, dass man schreien musste — manchmal war das Leben doch schön.
König Nebukaneser selber benahm sich ein bisschen merkwürdig. Als sie an die Brücke kamen, die in die Stadt hineinführt, bog er ab, und einen Augenblick später bog er wiederum ab. Klar, es gab Lokale genug, die ganze Stadt lag ja voll von Herrlichkeiten vor ihnen und bot sich ihnen dar! Es kam nur darauf an, das richtige zu wählen, ehe man loszog, damit man hinterher nicht dasaß und bereute. Er hatte die größte Lust, vorn anzufangen und kreuz und quer die ganze Stadt auf Tour zu gehen; leider ließ sich das in Damenbegleitung nicht machen. Vorläufig wartete er bloß auf den Gedankenblitz, auf jenes kleine Biest von einem Einfall, das den Abend retten würde — wie es doch Hunderte von Malen vorher geschehen war. Es galt also, bis dahin in Bewegung zu bleiben, und König Nebukaneser wechselte die Richtung wie ein Schiffer, der zum Vergnügen herumkreuzt, während er vor dem Hafen auf den Lotsen wartet.
Aber Malvina witterte etwas. „Mir scheint, wir gehen im Kreis herum", sagte sie verwundert.
„Man muss doch wohl vor allem erst einmal zu Nadel und Zwirn gelangen", murmelte König Nebukaneser gekränkt. „Ein Gentleman..."
Malvina drückte seinen Arm und sah treuherzig zu ihm auf — erstaunt über seinen gereizten Ton. Und Nebukaneser empfand seine ganze Verantwortung für dies Wesen, das hier neben ihm ging und sich auf einen vergnügten Abend freute, wie eine Anklage. Sie wusste sehr wohl, dass er nicht einen roten Heller besaß, aber sie glaubte einfach an ihn. Und das war nicht das Schlimmste, was sie unter normalen Verhältnissen tun konnte; König Nebukaneser war nicht derjenige, der um Auswege verlegen zu sein pflegte, wenn es einen vergnügten Abend galt. Es war nur das eine Hindernis, dass sein Genie nicht zu Hause war; er merkte keine Spur von dem Spiel der Kräfte, das sein Leben lang auf so vielfältige Weise den Mangel an Kleingeld aufgewogen hatte.
„Wir könnten schließlich in die Karaffe gehen und tanzen", sagte er verlegen, „wir kommen bloß nicht hinein." Er hatte das triste Gefühl, dass es ihm an dem Wesentlichsten gebrach. Es gab wahrhaftig Gelegenheit zu feiern genug, aber was nützte es, dass das Leben übervoll von Vergnügungen war, wenn man nicht mehr verstand, daran teilzuhaben. Er hatte den Wert des Geldes nie richtig zu begreifen vermocht, doch jetzt war er einigermaßen im Bilde; Geld war immerhin ein guter Rückhalt, wenn man selber nicht mehr verdienen konnte.
Ein wenig missmutig schlenderten sie den Wall hinauf und setzten sich auf eine Bank. Die Sonne war im Untergehen, sie ließ bereits den Tag in Purpurdämpfen über der Stadt verhauchen; es ergoss sich unter die Bäume des Walles wie satte Ausdünstungen einer glücksgesättigten warmen Welt. Etwas weiter weg sangen Kinder unter den Bäumen und tanzten Ringelreihen, und unten in der Straße strahlte das Gold vom Turm der Erlöserkirche. Es war unmöglich, schlechter Laune zu sein; nach und nach vergaßen sie ihren Zorn auf das Dasein und verfielen in harmloses Geplauder — von diesem und jenem und nichts. Der Abend schenkte auch ihnen etwas von seiner Sattheit, sie waren mild gestimmt; mit einem ganz leisen Hauch von Wehmut starrten sie in die Sonne, die unangefochten hinabsank — als sei sie viel zu erhaben, als dass man mit ihr rechten könne. Und ehe sie verschwand, strahlte sie rotglühend über die Dächer, küsste ihre leeren Gesichter und ließ sie noch einmal in seliger Erwartung aufglühen. So schön hatten ihre Augen vielleicht noch nie geleuchtet; fern über der Stadt lag festlicher Schimmer, der entzündete einen Widerschein in ihnen.
Von daher floss für eine Weile das Unsägliche in sie ein — das Glück, von dem niemand was weiß — und füllte ihre verdorrten Herzen mit Spannung.
Malvina hatte ein kleines Mädchen überredet, von zu Hause Nadel und Zwirn zu holen. Sie heftete ihren großen schönen Mannskerl eifrig überall zusammen, während eine Schar Kinder sie gaffend umstanden. König Nebukaneser musste sich auf die Bank legen, damit es schneller ginge — und sich immer so herumdrehen, dass die Risse nach oben kamen. Und da lag er und wälzte sich wie ein übermütiger junger Hund, übertrieb die Situation und sagte ungeheure Albernheiten, um die Kinder zu amüsieren. Trotz des schwindenden Lichts war Malvina mit der Nadel flink bei der Sache, im Handumdrehen war alles erledigt.
„So, Neser", sagte sie und sah ihm siegesstolz in die Augen; das letzte Hindernis war aus dem Wege geräumt!
Und er sah sie wieder an, elendig und unvermögend. Ach, nun war es also soweit — dahinter konnte man sich nicht mehr bergen. Hinter dieser sorgfältigen Flickerei hatte auch für ihn eine heimliche Hoffnung geschlummert — denn wozu machte man sich wohl schön? Es musste seinen Grund haben! Und nun platzte die Hoffnung — unmittelbar vor ihren Augen, und offenbarte die erbärmliche Armut des Mannes, wenn ihn seine Fähigkeiten verlassen.
König Nebukaneser hatte den Glauben an sich selbst lange bewahrt — er steckte als ein gigantischer Trümmerblock noch in seinem Traum vom heutigen Tag, der auf nichts Geringeres hinausging, als für einen einzigen Abend seine Jugend wieder aufleben zu lassen, im kleinen eine Reise um die Erde zu tun! Für jemand, der ohne einen roten Heller in der Tasche verwegen durch drei Weltteile getrampt war und an allem, was das Leben zu bieten pflegt, Anteil gehabt hatte, musste es doch eine Kleinigkeit sein. Und dann endete es damit, dass er hier, an der ihm natürlichsten Stelle von der Welt, wegen fünfzig Öre für die Eintrittskarte zu einer Tanzkneipe schmählich festsaß.
Selbstverständlich ließ sich jederzeit auch ohne Geld einiges unternehmen — selbst der ärmste Schlucker hatte doch immer so viele Bekannte, dass er ohne Kosten einen Abend verfeiern konnte. Malvina spielte ein wenig darauf an — es war ja auch eigentlich Weibersache, sich wem anzuhängen und freihalten zu lassen. Aber König Nebukaneser war nicht von der Sorte, die bei alten Bekanntschaften nassauert; es machte ihm mehr Vergnügen, den heimgekehrten Mann aus Amerika zu spielen. Er war auch heute nicht unterwegs, um zu schmarotzen, sondern um noch einmal die großen Jagdgründe seiner Jugend zu besuchen; wollte man sich da nicht zu ihm bekennen, konnte er immer noch „Schluss" sagen und in die Versorgung zurückkehren. Aber dabeisitzen und nach dem Fest die Teller ablecken — das vermochte er nicht, das sollten die tun, die niemals selber etwas erlebt hatten. „Man hat ja auch den Kameraden in der Anstalt gegenüber Verpflichtungen", brachte er laut hervor als etwas, was schließlich auch ein Frauenzimmer verstehen musste; „man repräsentiert sozusagen. Aber geh allein, Dame! Du findest immer noch Anschluss — mit dem Gesicht!"
Aber Malvina klammerte sich nur noch fester an ihn und erklärte, dass niemand sonst auf der Welt sie interessiere und dass sie bei ihm bleiben wolle. Zu dem andern fände sie immer noch Gelegenheit, wenn er einmal nicht dabei wäre.
„Ich erwartete nichts anderes von dir", erwiderte König Nebukaneser bewegt. „Du hast geantwortet, wie ich an deiner Stelle auch geantwortet haben würde."
Malvina empfing das Lob mit einem tapferen Lächeln — und brach plötzlich in Tränen aus. Ganz mädchenhaft überließ sie sich ihnen, als sei es das erste Mal, dass die Welt vor ihr zusammenbräche; und König Nebukaneser bemühte sich gar nicht, ihr Trost zuzusprechen, sondern legte nur still den Arm um ihren Hals. Mit dem Kopf an seiner Schulter schluchzte sie sich in Schlaf.
Es war Abend geworden, die Schatten der Nacht lagen dicht unter den Bäumen des Walls und in den Straßen unter ihnen wurden eins nach dem anderen die Lichter angezündet, als habe die Dämmerung Risse bekommen. König Nebukanesers Augen hatten einen sonderbar abwesenden Ausdruck angenommen — er saß da und starrte viel weiter hinaus, als irgend jemand zu sehen vermag. Er brachte es nicht übers Herz, sich zu rühren, um Malvina nicht zu stören, und fühlte sich schrecklich allein mit sich selbst — so allein, dass er alles fallen lassen musste, wie es wollte, und sich eingestand, dass es vorbei sei; er taugte zu nichts mehr, sondern war ein alter Mann! Es lag ein Trost darin, dies zuzugeben; man hatte es nicht mehr nötig, aufrecht zu stehen und sich mit müder Schulter dem Fallenden entgegenzustemmen. Ja, nun war es also zu Ende, das Leben ließ sich nicht mehr im Vorbeigehen erhaschen; stampfend jagte es vorüber, und wollte man aufspringen, zerschmetterte man sich bloß den Schädel auf dem Pflaster.
Aber es hatte mal etwas gegeben, er war kein gewöhnlicher Hefeteig gewesen! Ja, Tod und Teufel, wie hatte er seinerzeit die Dinge auf den Kopf gestellt! Es gab die köstlichsten Erinnerungen, auf denen er verweilen konnte; er hielt es nicht länger aus, er musste einen Mitwisser haben. Aber als Malvina erwachte und den Blick auf ihn heftete, verblasste das alles vor der Enttäuschung in ihren Augen. Vielleicht hatte sie geträumt, dass sie sich mitten in all der Herrlichkeit befände.
Sie saßen da und schmiegten sich dicht aneinander, niemand von ihnen fühlte das Bedürfnis, etwas zu sagen. König Nebukaneser wunderte sich, dass Malvina ihm keine Vorwürfe machte. Früher hatte er sich das gewünscht; dann zankten sie miteinander, und er konnte aus der ganzen Geschichte hervorgehen als ein Mann, der alles eingehalten haben würde, wenn sie es sich nicht auf Weiberart mit ihrem losen Maul selber verscherzt hätte. Jetzt aber hatte er sich der Altersschwäche anheimgegeben und war dankbar, dass sie sie ihm nicht unter die Nase rieb. Die Böschung des Walles war mit Gestrüpp bewachsen, worunter Kinder und Obdachlose schmale Pfade getreten hatten. Die Dunkelheit ruhte weich unter dem Laube, und hier und da machte sich durch das Gebüsch mit hellem Glitzern und Rascheln von Schilf das Wasser des Wallgrabens bemerkbar.
Es war etwas daran, was König Nebukaneser sanft ums Herze griff — etwas wie ein Gruß aus den großen guten Zeiten; hier vermochte er noch nach Kräften die Süße der großen Erde zu schmecken. Eine Nacht unter freiem Himmel war etwas, das er sich leisten konnte, und zugleich die Summe des Ganzen; alles, was er in seinem Leben erreicht hatte, sein ganzes Dasein wurzelte in der heimlichen Freude, die es ihm bedeutet hatte, unter den Sternen einzuschlafen und vom Morgentau durchschauert aufzuwachen — mit gleich weit nach allen Seiten! Und dazu war er wohl noch Manns genug!
Malvina aber brauste gekränkt auf; sie wollte nichts davon wissen, sich wie eine Landstreicherin unter freiem Himmel das Bett zu richten — das waren sie auf ihrer Abteilung nicht gewohnt. „Da haben wir anständige Betten, und jedes einzelne mit emaillierter Einrichtung darunter! Ich kann meinen Weg allein finden, wenn du gemein sein willst!"
König Nebukaneser sah sie ersterbend an, während sie sich ereiferte. Seinetwegen konnte sie es sich getrost ersparen, die Gräfin zu spielen; er war seiner Greiseneinsamkeit bewusst geworden und stellte sich niemand mehr zum Kampfe.
„Heute bist du den ganzen Abend hochnäsig", sagte er mit einem vergrämten Lächeln. „Man könnte glauben, einer der Vorgesetzten hätte ein Auge auf dich geworfen."
„Pfui, Neser", rief sie gekränkt. „Du weißt genau, dass ich kein Streikbrecher bin."
Na ja, was denn — wenn das eine oder andere dabei abfiel! Er fing ja selber an, die Bedeutung von kleinen Begünstigungen einzusehen, und war schon so langsam im Begriff, sich seiner ärmlicheren neuen Wirklichkeit anzupassen. Gerade das ließ ihn an den Heuboden des Fuhrmanns Jensen denken. Er war jetzt müde und sehnte sich nach Ruhe, und so ein Heuboden konnte eine großartige Sache sein — kam gleich nach einem Heuschober unter
freiem Himmel.
Mutlos kam er mit seinem Vorschlag heraus, und zu seiner Verwunderung sperrte sich Malvina gar nicht, sondern stand stillschweigend auf. Sie folgten dem Wall ein Ende weit nach Süden, stiegen hinunter und gingen über einen Platz, der ein ganzes Lager von alten Dampfkesseln, rostigen Eisenplatten und halbzerfressenen dicken Ketten war. Durch eine Öffnung im Bretterzaun gelangten sie in einen Hof, dessen eine Seite ein schwarzes, fabrikähnliches Gebäude einnahm. An den anderen Seiten standen kleinere Bauten und Holzschuppen. König Nebukaneser hatte Malvina an der Hand gefasst und zog sie hinter sich her; sie hielten sich im Schatten von Wagen und Gerümpel und strebten zu einem niedrigen Gebäude hin, aus dem man das gleichmäßige Geräusch von kauenden Pferden hörte.
König Nebukaneser steckte den Kopf durch die offene Halbtür und pfiff leise. Seine Bewegungen waren nun jugendlich gespannt, er witterte mit allen Sinnen, bereit, beim geringsten Laut davonzulaufen oder seine Taktik zu ändern. Dies hier hatte trotz allem einen herrlichen Geschmack nach früher und nach der Welt draußen; er drehte sich um und winkte mit dem Kopf, während er vorsichtig den Haken abhob. Dann ging er leichtfüßig in den Stall, und Malvina trottete hinterdrein.
„Hier ist das Hotel", flüsterte er und betrachtete entzückt die Umgebung; „ha, Pferde, du, und prächtiges Heu! Herrschaftspferde obendrein — sieh nur mal den Dung an; man riecht es sofort. Der Knecht ist in die Stadt gegangen — eine herrliche Pflanze! Los, rauf ins Heu, Dame!'" Er kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf, und Malvina folgte ihm nach. Es ging etwas unbequem, denn sie raffte den Rock unnötig straff zusammen, gekränkt über
den Zuruf Nesers.
Diese Nacht träumte König Nebukaneser von den großen Steppen und dem Sternenhimmel. Er hatte sich auf die nächste Tageswanderung gerüstet, indem er die Füße mit Talg einrieb und den Leib gut zusammenschnürte; jetzt lag er da und ruhte sich in dem herrlichsten Heuschober aus, starrte nach den fernen Bergen und freute sich still auf das, was seiner auf der anderen Seite harrte. Über seinem Haupt wanderte in seiner ewigen Musik der Weltenraum dahin. Er vernahm den unendlichen Klang der großen Nacht, und daher wusste er, dass er allein war. Aber es machte ihm nichts aus.
Malvina war in der Karaffe und tanzte Haubenhenne. Sie hob während des Tanzes mit zierlichen Fingern auf der einen Seite den Rock hoch in die Höhe — denn darunter war gelbe Seide bis weit hinauf übers Knie.
Aufseher Petersen war mit seiner leichten Truppe heimgekehrt und erfuhr zu seiner Überraschung, dass König Nebukaneser noch nicht eingetroffen war. Es kam ja vor, dass sich der eine oder andere für einen Tag oder zwei unsichtbar machte, aber in der Regel kamen sie von selber zurück. Und in jedem Fall waren sie immer leicht aufzuspüren gewesen, so dass das Ereignis keine sonderliche Unruhe erweckte.
Dennoch setzte man sich unlustig in Bewegung, ihn zu suchen, und an einem gewissen Punkt liefen die Spuren mit denen Malvinas zusammen. Sie wurde gleichfalls vermisst, und da man der beiden früheres Verhältnis kannte, wurde die Sache sogleich etwas ernster. Ihre laufende Verbindung mit der Familie in Kristianshavn war auch bekannt, deshalb wandte man sich zuerst an sie.
Dort war der Mann nach Hause gekommen und hatte die Armenhauskleider im Bett gefunden. Er begriff sofort, wie die Dinge zusammenhingen, und da es nun doch mit der Polizei Schererei geben würde, zog er es vor, selbst aufs Revier zu gehen. Dieser Doppelalarm brachte die Polizei auf die Beine; es wurden sofort Nachforschungen eingeleitet, und alle Spuren wiesen auf den Wall von Kristianshavn. Sie von da aus weiter zu verfolgen, erwies sich als unmöglich.
Wie es auch zuging: der Ausflug der beiden Gescheiterten schlug allmählich vom Komischen ins Märchenhafte um, die schöne Sommernacht verwob sie in ihre Mystik. Vielleicht lag an diesem
Abend zuviel Liebe in der Luft. Ihr Verschwinden nahm sachte den Charakter einer Liebestragödie an. Die Zeitungen wurden unterrichtet, die Wallgräben noch im Laufe der Nacht soweit wie
möglich abgesucht.
Als es zu tagen begann, machte sich ein Polizist, der alle Schlupfwinkel Kristianshavns in- und auswendig kannte, auf, sie der Reihe nach abzusuchen. Als der Morgen eben angebrochen war, stieg die Sonne über die fernen Berge empor und kitzelte König Nebukaneser in die Nase; er rieb sich die Augen und erwachte zu dem widerlichsten aller Anblicke — dem eines rotbackigen Polizeibullen! Aber er hatte es nach und nach gelernt, mit dem Erbfeind aufs herzlichste zu verkehren, und indem er sich aus Malvinas Armen herauswand, sagte er gähnend: „Na, ist es jetzt soweit?" Der Polizist nickte.
„Ja, wir wären übrigens von selber gekommen, aber es ist ja immer anständiger, abgeholt zu werden. Sie haben doch einen Wagen?"
„Ja, es hält einer drüben auf dem Platz", antwortete der Polizist lachend.
Das tat es auch, und die drei setzten sich hinein. Malvina und König Nebukaneser waren gleichermaßen entzückt davon; sie brauchten das Verdeck nicht hochzuschlagen und saßen elegant zurückgelehnt auf dem Rücksitz. Nun fuhren sie vom Feste nach Hause — ein wenig schwindlig von all dem Erlebten; das Licht und die Klänge steckten noch in ihnen und machten sie übermütig. König Nebukaneser grüßte die Vorübergehenden herablassend mit der Hand und Malvina warf Kusshändchen. Dann lachten sie beide, und der Polizist tat, als merke er nichts.
„Das war wirklich ein würdiger Abschluss", sagte König Nebukaneser, als sie vor dem Anstaltstor hielten.
Malvina antwortete nicht mit Worten, sondern legte nur reizend den Zeigefinger auf den Mund und neigte langsam das Haupt. Und König Nebukaneser nahm es hin als das, was es war: die Art und Weise der hochvornehmen Kreise, sich für Kuchen
und Schokolade zu bedanken; und er respektierte ihr Schweig Er zog vor der Dame tief den alten Zylinder und betrat den Zwinger wie ein höchst angesehener Gast aus der Bredgade, der sich herablässt, das Essen der Armen zu kosten.
Das war ihre letzte Ausschweifung. Malvina hatte sich in der Nacht erkaltet und starb bald darauf; König Nebukaneser hatte nicht den Mut, sich auf eigene Faust mit dem Gewaltigen da draußen einzulassen. Er hatte ganz gut bestanden - ahnte aber künftige Niederlagen und zog es vor, in Erinnerungen zu leben
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