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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DIE PUPPE

I

So schön wie der Thüringer Wald ist wohl kein anderer Wald auf dieser Erde. Wie eine Welt für sich liegt er da, hoch unter den Himmel emporgehoben, erdrückend düster oder festlich in weißen Schnee gekleidet, und scheint alles von des Himmels Zorn und des Himmels Gnade zu haben. Bergauf und bergab erstreckt er sich, und so viele Tannen sind in ihm, dass jeder Mensch auf Erden seinen eigenen Weihnachtsbaum kriegen könnte.
Ein sonderbarer Baum ist die Tanne. Keine anderen Bäume halten es aus, einander so dicht auf dem Leibe zu wachsen, und doch ist kein Baum einsamer. Man möchte beinahe glauben, die Tanne sei ein Mensch, so sehr versteht sie es, sich abzuschließen und nach allen Seiten abwehrende Nadeln zu wenden. Rührt man sie an, dann sticht sie — und erfüllt die Luft um einen her mit Wohlgeruch.
Schulter an Schulter stehen die Tannen des Thüringer Waldes und wiegen sich wie ein schlummerndes Heer: eingeschlafene, träumende Riesen, in sich selber eingehüllt. Unter ihren hohen Wipfeln ruht unerschütterlich der Ernst, als sei er die Ewigkeit, und um ihre Wipfel rauscht es jederzeit, in Sturm wie in Stille. Zu ihren Füßen aber herrscht ständig trauliches Behagen — nichts ist so weich und einladend wie das Moospolster unter Tannen.
Einmal im Jahr, auf Weihnachten zu, schwärmt der Thüringer Wald aus. Die grüne Waldesjugend zieht zu Hunderttausenden fort, hinunter, den großen und kleinen Städten des Tieflandes zu; die alten Riesen bleiben einsam zurück, wiegen ihre wolkenhohen Kronen über den Rodungen und besäen den Boden geduldig mit neuem Nachwuchs. Wenn der Berliner eines Morgens erwacht, ist seine Steinwüste über Nacht grün geworden; junge, helle Tannen füllen alle Bürgersteige und Plätze. In wenigen Stunden erobern die Weihnachtsbäume die zahllosen kleinen Balkone, und die unfruchtbare Weltstadt gleicht einer gewaltigen, strahlenden Verwirklichung des Märchens vom Walde, der den Felsen bekleidete. Das ist das große Ereignis des Jahres für den düsteren Wald.
Hier oben kann man Tage und Wochen wandern, ohne einem Menschen zu begegnen. Ab und zu erschallt der Axtschlag eines Holzfällers aus dem Dickicht, oder der einsame Weg schlängelt sich auf einen Vorsprung hinaus, und man sieht hinab über ein Tal, wo ein Dorf halsbrecherisch an der Flanke des Berges hängt. Es sieht aus, als hätten sich die Menschen vom Walde unterdrücken lassen. Es gibt ihrer genug, aber sie hauen sich keine Lichtungen, um den Boden zu bebauen. Sie verbergen sich im Waldesdunkel, lassen sich einzwängen und begnügen sich damit, stillzusitzen und die Finger zu rühren.
Aber darin sind sie auch geschickt; eine so fleißige und fingerfertige Bevölkerung wie die Thüringens kann man sicher lange suchen. Von hier werden aus dem Waldesdunkel die Zehnpfennigbasare aller Welt mit kleinen Gebrauchsartikeln und Schnurrpfeifereien versorgt; auch der Christbaumschmuck kommt hier auf die Welt. Und was noch merkwürdiger ist, in diesem düsteren Thüringer Wald wird der größte Teil des Spielzeugs hergestellt, mit dem sich jung und alt in der ganzen Welt vergnügen.
Ist vielleicht die Waldeinsamkeit daran schuld, sind es die sechzehn bis achtzehn Stunden tägliche Schufterei um eine elende Nahrung — dieses mühselige, freudlose graue Dasein, das die Menschen gefangen nimmt, sobald sie aus dem Mutterleib hervorkriechen? Hier oben entstehen die Karnevalsmasken: Pierrot, der gehörnte Teufel, der Zwerg mit seinem höckerigen Gesicht — und die gutmütige alberne Fratze des dummen August! Der Nürnberger Kram, aus dem sich die Kinder ihre erste lächelnde Welt erbauen, die barocken Phantasiegeburten von Spielsachen, die sich jedes Jahr die Weihnachtsmärkte der ganzen Welt streitig machen — hier, in dem erdrückenden Waldesdunkel hat es seinen Ursprung.
Es scheint, als kenne im Thüringer Waid groß und klein nur allzu gut die düstren Winkel des menschlichen Gemüts und habe sich zum Ziel gesetzt, Licht hineinzutragen. Mit der üppigsten Phantasie streuen die blassen Geschöpfe des schwarzen Waldes Dinge zu Freude und Spiel über den Erdball aus. Hier oben entstehen alle die Puppen, mit denen überall in der Welt die Kinder spielen; selbst die Negerkinder bekommen ihre Puppen — kraushaarig und kohlschwarz — von hier.

II

In der Gegend um Finsterbergen werden hauptsächlich Puppen hergestellt. Es bedarf großer Fingerfertigkeit, um mit dieser Arbeit einigermaßen Brot ins Haus zu schaffen; deshalb ist der Mann die am wenigsten wichtige Person des Haushalts. Die Frau bedeutet etwas mehr, aber die Kinder sind die eigentlichen Versorger. Hier bedeuten viele Kinder ausnahmsweise einmal ein gutes Auskommen.
Das Ehepaar Gessert hatte nur ein einziges Kind, einen Nachkömmling obendrein. Viele Jahre hatte es so ausgesehen, als sollten sie überhaupt keine helfenden Hände erhalten. Aber der Zwerg Coryilis plagte sich so lange mit Mutter Gessert ab — besprach sie, gab ihr wundertätige Kräuter ein und schlug die Luft durch sie —, dass sie sich schließlich ergab und einen Jungen zur Welt brachte: in einem Alter, wo sich die Frauen sonst so langsam darauf einrichten, Großmutter zu werden.
Sie wohnten hoch oben im Leinatal, an der ersten Berglehne, über welche die Leina hinweg muss; die kleine Hütte war auf allen Seiten von dichtem Tannenwald umgeben. Durch die beiden kleinen Fenster der Stube hatte man anfänglich Aussicht weit das Tal hinunter gehabt und — durch einen Einschnitt in den entfernteren Waldbergen — weiter hinaus in die Ebene mit dem Erfurter Dom in der Ferne. Aber die Tannen säten sich selber vor der Hütte aus, und Gessert ließ sie wachsen. Wenn die Frau sie beseitigen wollte, schalt er. „Was sollen wir mit der Aussicht?" sagte er, „wir bringen es ja doch nie zu was. Mag nur der schwarze Wald uns einschließen!"
Und der Wald schloss sich um sie. Wenn der kleine Junge einen Schimmer der Welt erhaschen wollte, musste er sich weiter und weiter von der Hütte entfernen. Auf diese Weise machte er sich frühzeitig mit dem Gedanken vertraut, dass es zu Glück und Freude ein weiter Weg sei.
Er hatte immer seltener Zeit, bis zu der Lichtung zu laufen und über die offene, freie Welt hinauszuspähen, denn schon von seinem vierten Jahr an musste er arbeiten für sein Brot. Er musste die halben Puppenleiber wenden, die eben aus den Steinformen herausgenommen worden waren und zum Trocknen auf den Felsplatten hinter der Hütte lagen; und bald musste er mit seinen kleinen Fingern die aufgeweichte Pappmasse in die Formen pressen, während die Mutter die Ränder sauber beschnitt und die Masse wieder vorsichtig aus der Form nahm. Dies war eine Arbeit, die ihm noch nicht anvertraut werden durfte, und darüber war er froh. Die Arbeit hatte seinen kindlichen Ehrgeiz bereits aufgezehrt; er sah mit Grauen jeder Erklärung entgegen, dass er nun zu diesem oder jenem groß genug sei.
Es ist nicht gut, einziges Kind zu sein, wenn das Auskommen von einer großen Kinderschar abhängt; und wenn sich der kleine Heinz vom Hunger verführen ließ, vom Roggenmehlkleister zu essen, bekam er vom Vater Prügel.
Er wurde schwermütig unter der Last der Arbeit. Wenn der Vater auf Waldarbeit war, schien es, als wiche ein Druck von der Mutter. Dann kam sie auf die fröhlichen Erinnerungen ihrer Mädchenzeit zurück, sang dem Jungen bei der Arbeit Tanzweisen und Liebeslieder vor oder erzählte von der Spinnstube und den anderen Freuden unten im Dorfe. Aber das ging ihn ja eigentlich nichts an.
Die Schule brachte etwas mehr Abwechslung in sein mühsalbeladenes Kinderdasein, aber auch damit war nicht viel los, wenn man so spät wie möglich von zu Hause weggelassen wurde und sich wieder nach Hause sputen musste — aus Rücksicht auf die verhasste Arbeit. Er hatte es am besten, wenn sich der weiße Winter über den Thüringer Wald legte und er auf seinem Schlitten die fünf Kilometer ins Dorf hinuntergleiten und unmittelbar bis vor die Schultür sausen konnte. Wenn er so von droben aus dem schwarzen Wald heruntergeschossen kam, über und über weiß, aber das Dunkel des Waldes lauernd in seinem unerschütterlichen finsteren Antlitz, war er der Held der Schule.
Zu Hause war es ihm am liebsten, in Ruhe bei der Arbeit zu sitzen und nachzusinnen. Dann beschäftigten sich seine Gedanken mit all den Kindern auf der ganzen Welt, die mit dem, was er herstellte, spielen würden — wie sie wohl aussähen, und ob sie außer der Erlaubnis zu spielen auch so viel zu essen bekämen, wie sie mochten. Sie hatten bestimmt auch keinen Frost in den Füßen, diese--. Er konnte sie nicht ausstehen.
Einmal in der Woche schnallte sich die Mutter einen hohen Korb mit halbfertigen Puppenleibern auf den Rücken und trabte zu der Fabrikstadt in der Ebene hinunter, um die Arbeit abzuliefern. Es waren drei Meilen bis dahin, und sie musste früh von Hause weg und kam spät zurück. Aber Heinz hielt sich wach, denn es kam vor, dass sie ihm aus der Stadt das eine oder andere mitbrachte. Blieb sie über eine bestimmte Zeit aus, dann wusste er, dass es in der Puppenfabrikation keine Arbeit mehr gab und dass sie nach einer anderen Fabrikstadt, wo hauptsächlich Fastnachtsmasken hergestellt wurden, gewandert war, um von dort Rohmaterial zu holen. Aber es geschah auch, dass sie erst am nächsten Vormittag zurückkehrte, dem Umsinken nahe unter einer Last Material, woraus Christbaumschmuck hergestellt werden sollte: Glimmerzeug, Pappschmuck, Sprühsterne und richtige Weihnachtssterne für die Baumspitze. Dann war sie auf ihrer Jagd nach Arbeit noch weiter fort gewesen und wusste merkwürdige Dinge zu erzählen. Und Heinz hob doch einmal den Kopf und hörte ihr zu.
Einige Male hatte er sie in die Fabrikstadt unten begleitet,
sonst aber war er an diesem Tag der Woche meist ganz allein und musste doppelt fleißig sein.
Dann konnten Waldeinsamkeit und kindlicher Widerwille gegen die einförmige Arbeit sich um ihn zusammenrotten und ihm auf den Leib rücken. Und in seiner Not fing er an, ganz andere Gesichter auf die Masken zu malen, vertauschte Bärte und Augenbrauen und Züge von Maske zu Maske und freute sich königlich über das Resultat, obwohl er niemals lachte. Auf diese Weise entstanden mehrere der Masken, die auf dem einen oder andern ausgelassenen Fasching, vielleicht hundert Meilen von dem schwarzen Wald entfernt, am meisten Aufsehen erregen sollten. Er versteckte die verzerrten Masken sorgfältig tief im Stapel der fertigen Arbeit — und was er nicht selbst zur Genüge außer Sicht zu bringen vermochte, darum würde sich die Mutter kümmern, wenn er zu Bett war. Es gab Schläge, wenn der Vater seine harmlosen Narrenpossen entdeckte. Heinz bemerkte, dass die Mutter unter den Prügeln, die er bezog, mehr litt als er selber. „Es muss ihr wohl irgendwo weh tun", dachte er und gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.
Er wurde immer mehr ein schwieriger Junge, besonders der Vater klagte darüber, wenn er am Samstagabend unten in der Dorfkneipe hockte. Den Wald liebte Heinz nicht; dauernd stand er da, voll unheimlicher Drohungen, und gähnte weit in die kahlen Fenster — er hasste ihn! Und er hasste die Puppen — und alle die fremden Kinder so weit weg, die mit ihnen spielen würden.
Er steckte voll von seltsamen Launen. So klein er war, konnte er sich über die harmlosesten Dinge wütend ärgern, und das wurde sein Schicksal. Als er eines Tages allein zu Hause saß und Puppenleiber machte, wurde er plötzlich der ewigen Mädchen überdrüssig — sie waren nicht zu ertragen! Warum war nie ein ehrlicher Junge unter den vielen Puppen? Es befiel ihn die unbändige Lust, nur einen einzigen Puppenjungen zu sehen, und er fing an, mit dem Taschenmesser in dem weichen Formstein herumzubohren. Das Ergebnis machte ihm Vergnügen, und als die
Mutter nach Hause kam, lagen mehrere Dutzend halbe Jungenleiber zum Trocknen da; so gut hatte er gearbeitet.
Zu seinem Erstaunen weinte sie, vor lauter Verzweiflung knüllte sie ihren ganzen Rock vorn wie einen Scheuerlappen zusammen. Die Form war verdorben und das Material verschwendet; so ungern sie es auch tat, sie musste es dem Vater sagen. Und diesmal schlug Gessert hart zu. Es lag ein ganzer verlorener Wochenlohn in den Schlägen, und Heinz musste mehrere Tage lang das Bett hüten.
Da lag er auf seinem schmerzenden Rücken und gelangte zu einem Entschluss. Er wollte hinaus in die Welt, denselben Weg, den die Puppen gingen! Hinaus, wo keine Haselstecken wuchsen, wo die Kinder nicht dazu verurteilt waren, stillzusitzen und Spielzeug zu machen und Prügel dafür zu kriegen — sondern selber damit spielten! Es gab eine andere Kinderwelt — die ihren Frohsinn hierher, aus dem schwarzen Walde, bezog. Er hatte ihren Lichtschein lange geahnt, jetzt wollte er dahin!
Als die Mutter am Sonnabendmorgen ihre Last auf den Rücken genommen hatte und schon einige Zeit fortgegangen war, stand er auf; der Vater war auf Waldarbeit. Er steckte einen Klumpen Kartoffelbrei zu sich, nahm seinen Schlitten und setzte in Sprüngen, als werde er verfolgt, von der Hütte fort. Eine Strecke weg fiel ihm aber ein, dass die Mutter nichts zu essen vorfinden würde, wenn sie am Abend heimkäme; er kehrte um und legte den harten Breiklumpen auf den Stein vor der Tür — in die Hütte wollte er nicht mehr hinein. Und wieder ein Stück weiter fiel ihm ein, dass der Fuchs kommen und den Brei fressen könne; er kehrte noch einmal um und legte ihn oben auf den Türrahmen, wo der Schlüssel seinen Platz hatte.
Dann zog er in den Wald. Er nahm nicht den üblichen Weg talabwärts, sondern quälte sich den Berg hinauf, immer aufwärts. Um die Mittagszeit hatte er den Wald hinter sich und die freie
Aussicht erreicht.
Es war einer dieser klaren, stillen Wintertage, wo der Thüringer Wald eine Welt für sich ist, eine weiße, lichte Zauberwelt hoch unter dem Himmel. Nie hatte er sich vorgestellt, dass die Erde so festlich sein könnte. Stürme hatten den Hochwald hier oben gefällt, nur einige einsame, gewaltige Riesen standen und wiegten sich leise, als wollten sie einen Schmerz betäuben. Zu ihren Füßen lag der junge Wald im Winterschlaf; er glich einer zahllosen Herde zusammengerollter, phantastisch geformter Tiere — alle in weißem Winterpelz.
Heinz konnte weit hinaussehen, hinweg über schneeweiße Höhenzüge und walddunkle Täler, worin sich Dörfer versteckten: das alles war ihm vertraut. Aber weit draußen blaute in einem Einschnitt zwischen den Bergen das Tiefland hervor — eine Stadt in seinem Schoße und darüber ein gewaltiger Dom. Das war Gottes weite Welt, und dahin wollte er!
Er ging geradeaus weiter, bis er an einen Weg kam, der sich hinabschlängelte. Da warf er sich auf seinen Schlitten, und auf dem Bauche liegend rutschte er hinunter, Kilometer um Kilometer, das Gesicht unverwandt nach vorn gerichtet. Er machte sich keine märchenhaften Vorstellungen von dem, was ihm begegnen würde, sondern ließ sich bloß hinabgleiten — hinab ins Unbekannte. Die Flucht war an sich selbst genug — besser hatte er sich nie gefühlt.

III

Was dem kleinen Heinz begegnete von der Zeit an, wo er von zu Hause flüchtete, bis zu dem Tag, da er als erwachsener Mann in einem wildfremden Lande ein eigenes Heim und einen eigenen Wirkungskreis erhielt — ja, das ist eben das, was allgemein das Märchen des Lebens genannt wird, und darüber mag sich jeder selbst unterrichten. Etwas muss einem ja begegnen, und wenn man so wenig verwöhnt ist wie Heinz, dann gehört viel dazu, bis es ganz schlimm wird. Die Ausfahrt ergibt sich letzten Endes von selbst; ein bisschen mehr oder weniger erlebt — das kommt dabei heraus. Für die meisten Fahrenden beginnt das Erstaunliche da, wo sich die Bahn wieder heimwärts wendet. Wie so manch anderer, vergaß Heinz mit der Zeit seinen Ausgangspunkt; dass er trotzdem wieder zurückfand — das ist das Wunder seines Lebens.
Als Gessert, der die ganze Woche über auf Waldarbeit fortgewesen war, am Sonntagvormittag nach Hause kam und hörte, dass der kleine Heinz davongelaufen sei, da lachte er ausnahmsweise einmal, und das machte die Frau noch unglücklicher. Er fühlt sich nicht wohl dabei, dachte sie und eilte in die Küche, um die großen Kartoffelklöße zuzubereiten, die sein Leibgericht waren.
Aber Gessert schluckte das Essen, ohne dass ihm anzusehen war, dass er sein Leibgericht aß, und antwortete nichts, wenn die Frau ihn anredete. Er saß da und nickte kauend vor sich hin, als ob er sagen wollte, er würde es schon schaffen, die Sache sollte wohl geordnet werden! Als er gegessen hatte, ging er hinaus; mit einem soliden langen Stecken kam er wieder herein. Er schwippte damit und machte sich daran, den Rucksack zu packen.
„Musst du schon wieder fort?" fragte die Frau bekümmert. Er antwortete ihr nicht, sondern hantierte nur herum und nickte Unheil verkündend.
Gessert verließ ohne Lebewohl die Hütte und wandte sich durchs Dickicht aufwärts —den Weg, den er einzuschlagen pflegte, wenn er auf Waldarbeit ging. Doch sobald er die Hütte nicht mehr sah, nahm er die Richtung nach dem Dorfe zu. Auf dem Wege das Tal hinunter rief er öfters den Namen des Jungen, und jedes Mal schwippte er mit dem Stecken, als ob er sein Rufen mit dem Versprechen tüchtiger Prügel unterstreichen wollte.
An mehreren Stellen unten im Dorf erkundigte er sich nach dem Jungen. „Ich gab ihm ja nur seine wohlverdiente Strafe", sagte er und zog die Steinform hervor, um zu zeigen, was der Lausebengel angerichtet hatte. „Aber ich werde ihn schon dazu bringen, die Nase wieder heimwärts zu wenden!" Er schwippte mit dem Stecken.
Da ihm niemand Bescheid zu geben vermochte, ging er wieder in den Wald hinein, trat aber nicht mehr so fest auf. Er schritt über den Rennsteig hinweg und gelangte in die Täler auf der anderen Seite. Oft hielt er inne und rief. Als er merkte, dass ihm der Stecken zu keiner Antwort verhalf, warf er ihn weg. Er stellte sich auf vorspringende Stellen und zeigte die leeren Hände vor, wenn er rief. Seine Stimme hatte einen schwachen, flehenden Ton.
In den Wirtshäusern nahm man den Mann auf der Suche gut auf; man setzte ihm einen Krug Bier vor, und er wiederholte seine Geschichte von dem Jungen, der weggelaufen war. „Seht bloß her", sagte er und zeigte ihnen die Steinform, „ein begabter Bursche, was? Wahrscheinlich hatte er Angst vor Schläge und ist deshalb ausgerissen, denn so eine Form kostet ja Geld — aber schiet drauf! Solltet Ihr ihn sehen, dann sagt ihm, dass es weiter nichts ausmacht, keiner ist ihm böse deswegen." Seine Stimme klang ganz wund, er tat den Leuten leid.
Nach einigen Wochen Herumstreifens kam er nach Hause; er klagte über Schmerzen im Kopf und legte sich gleich hin. Er wäre unter einen stürzenden Baum geraten und der hätte ihn am Kopf getroffen, sagte er seiner Frau.
Mit Gessert nahm es von da an seinen eigenen Weg. Er konnte wie früher am Montag morgen fortgehen und am Ende der Woche mit dem vollen Wochenlohn heimkehren. Aber manches liebe Mal kam er mit leerer Tasche nach Hause, und dann wusste die Frau, dass er nach dem Jungen umhergestreift war. Manchmal lag er lange Zeit zu Hause auf der Bank, das Gesicht gegen die Wand gerichtet und ein Kissen über den Kopf gedrückt; und das war eigentlich das beste. Dann verschliss er nicht sein Zeug, und die Frau wusste, wo sie ihn hatte. Sie tat alles, um ihn ans Haus zu fesseln, unterhielt ihn, während sie arbeitete — über seine Kopfschmerzen und den bösen Baumriesen, der schuld daran war —, und erzählte ihm, was sie in der Nacht von dem Jungen geträumt hatte.
Für Mutter Gessert waren es schwere Jahre. Sie musste sich tüchtig plagen, um die Not von der Tür zu halten, und irgendwelche Lichtblicke sah sie nicht, wohin sie sich auch wandte. Aber sie überstand sie kraft der wunderbaren Fähigkeit der Frau aus dem Volke, an Unglück und Missgeschick zu wachsen; Mühsal und Not konnten sie nicht unterkriegen. Niemals hatte sie sich so entschlossen an die endlose Schufterei begeben wie jetzt, und nie war sie mit ihrem Jungen so sehr verbunden gewesen wie jetzt in ihren Träumen. Jede Nacht war sie mit ihm zusammen, und da lebte sie ihr Leben; am Tage wartete sie bloß. Ihr Heinz hatte sich in die Welt begeben, um seinen Eltern ein sorgenfreies Alter zu verschaffen! Er würde wiederkehren, wenn seine Zeit gekommen war.
Wenn Gessert es vor Kopfschmerzen nicht mehr aushielt, musste er sich auf der Bank aufrecht hinsetzen und die Steinform hervorholen. Dann füllte er sie mit Masse aus, nahm einen Abdruck und zeigte der Frau wohl zum hundertsten Male, wie verdammt gut die Veränderung ausgeführt worden war. Sie begriff, dass er sich in seinem Innern dauernd mit Selbstvorwürfen quälte, und sie bemühte sich, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Aber von dem Jungen kam keiner von ihnen los. Ehe sie es wussten, war die Rede wieder von ihm.
Ihre Auffassung von der Sache wurde auf die Dauer der Zeit die stärkere — wahrscheinlich deshalb, weil sie freundlicher war als seine. Allmählich brachte sie ihn so weit, dass auch er glaubte, der Sohn sei fortgegangen, um für sie alle drei das Glück zu suchen. Seine Kopfschmerzen hörten auf, und sie brachte ihn wieder zum Arbeiten. Es war nicht viel damit los, aber immerhin konnte er Kleister kochen, Papiermasse aufweichen und ähnliche Dinge verrichten.
Als sie soweit gekommen war, waren sie beide alt geworden. Namentlich Gessert war es anzumerken, bei der Arbeit geriet er leicht ins Spielen. Am liebsten goss er die kassierte alte Form aus, und wenn die Gelegenheit günstig war, schmuggelte er einige der Jungenleiber in Mutter Gesserts Korb. Er wollte dem Sohn behilflich sein, sich mit seiner Erfindung durchzusetzen. Die in der Fabrik unten sagten dann: „Nun hat der verrückte Gessert oben an der Leina wieder einen seiner Anfälle gehabt."
So gut sie konnte, passte die Frau auf, dass die missgestalten Puppenleiber nicht mit in die Lieferung hineinrutschten; sie hatte Angst, die Arbeit zu verlieren. Aber Gessert überlistete sie; er war in seiner irrsinnigen, prahlerischen Einbildung so verstockt, als gelte es Leben und Seligkeit, ihnen alles zu verderben! Als ob es etwas zum Grosstun wäre, dass einmal ein kleiner Junge mit seinem Taschenmesser eine Unanständigkeit fabriziert hatte! Sie liebte ihren kleinen Heinz und erinnerte sich trotz der vielen langen Jahre an alles, was ihn betraf — auch an seinen Drang, alles umzugestalten. Aber ihn zu verstehen hatte sie nie gelernt. Viele bittere Tränen hatte er sie gekostet, und jetzt musste sie sich auf ihre alten Tage von neuem mit den Folgen dieses Dranges herumschlagen.
Und dann war es doch Gessert mit der fixen Idee, der sich auf dem rechten Wege befand — vielleicht war er ganz und gar ins Kindliche geraten und hatte dort die Spuren des kleinen Heinz wieder gefunden.
Gerade in diesem Jahre kamen die Charakterpuppen auf, und als der Fabrikbesitzer eines Tages eine von Gesserts eingeschmuggelten Puppen in die Hände bekam, sagte er: „Ja, warum eigentlich nicht? Lasst uns doch mal diesen Puppenjungen der Welt anbieten!" Die Puppe wurde nach ihrem kleinen Erzeuger Heinz getauft, und die alten Gessert erhielten Bestellung auf so viele Probestücke, als sie zu liefern vermochten. Die Puppen wurden in die malerische Bauernburschentracht gekleidet, die oben im Leinatal getragen wird, kamen jede in ihre elegant ausgestattete Schachtel und wurden in die ganze Welt an alle Geschäftsfreunde der Fabrik gesandt.

IV

Eines Frühjahrsmorgens stolperte der rot uniformierte Postbote die Hauptstraße der kleinen dänischen Provinzstadt Gammelköbing hinan. Es war Tauwetter und Sonnenschein, das Frühlingswasser rieselte zwischen den holprigen Pflastersteinen dahin. Der alte Briefträger musste von Stein zu Stein springen, so dass die Pakete auf seinem Rücken auf und ab tanzten und auf der Posttasche Trommel schlugen. Zuoberst lag ein kleines Paket, das besonders rebellisch war; jeden Augenblick fiel es ihm über den
Kopf und traf seine schwammige breite Nase, die — wahrscheinlich von Amts wegen — noch röter schimmerte als die Uniform. Dann fluchte er gutmütig vor sich hin.
Etwas weiter oben in der gewundenen schmalen Straße war eine vorspringende alte Steintreppe, sie reichte ganz bis zum Rinnstein hin. Über der Treppe hing ein schmiedeeisernes, kunstfertiges altes Schild und knarrte im Frühjahrswind; die verschnörkelten Buchstaben waren schwer zu entziffern, aber auf der Tür selber stand klar und deutlich
Heinz Gessert Puppenmagazin Puppenklinik
Herr Gessert saß mit seinem zweijährigen Jungen auf den Knien gerade beim Frühstückskaffee, als die Post kam, seine Frau war im Laden. „Heinz, Heinz, komm, sieh bloß mal!" rief sie zu ihm hinein. „Eine ganz neue Puppenart — Puppenjungen! Und er heißt genau wie du."
Heinz Gessert kam herausgesprungen, er war wie besessen, wenn es Neuheiten in Puppen galt; er machte sich sogleich an die Puppe. Seine Frau stand daneben und beobachtete ihn mit einem Ausdruck froher Verliebtheit; es machte Spaß zu sehen, wie seine Hände eine Puppe anfassten, und dann die Kennermiene, womit er die Arbeit untersuchte! Er selbst hielt es für den seltsamsten Zufall, dass gerade er Inhaber eines Puppenmagazins werden musste; alles andere läge ihm näher, meinte er. Aber das hinderte ihn nicht, dass er in seinem Fach so besonders tüchtig war. Oftmals war es ganz unbegreiflich, wie viel er aus einem Puppenleib, der sich für alle anderen von den übrigen durch nichts unterschied, herauslesen konnte.
Aber so sonderbar wie jetzt war ihr Mann noch nie mit einer Puppe umgegangen. Er drehte und wendete sie um und um, mit immer nervöseren Bewegungen. Sie stand dabei und wartete darauf, dass er mit seinen amüsanten Wahrnehmungen herausrücken solle — und sah, wie seine Hände zitterten und der Ausdruck seines Gesichts immer wieder wechselte. Und da wurde ihr angst. „Heinz!" rief sie und fasste ihn an. Aber er wandte sich von ihr ab und ging still in sein Büro, die Puppe seltsam leblos in den Händen.
Mehrere Male ging seine kleine Frau an die Tür. Sie ahnte, dass hier etwas wäre, was den dunklen Punkt seines Lebens berührte — seine früheste Kindheit, und dass er am liebsten damit allein sein wollte. Aber das Herz blutete ihr vor Verlangen, ihm jetzt nahe zu sein und ihm eine sanfte Hand auf die Stirn zu legen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging leise zu ihm hinein. Er saß zusammengesunken, schlaff da - wie nach einer starken Gemütsbewegung — und starrte geistesabwesend in die Ferne; vor ihm lag der nackte Puppenleib, ganz nackt und bloß.
„Soll ich wieder gehen?" fragte sie leise und strich ihm behutsam übers Haar.
Erst jetzt kam er zu sich; er fasste die liebkosende Hand und küsste sie. „Ich habe meine Kindheit wiedererhalten", sagte er still, beinahe schamhaft. Als das erst gesagt war, holte er Luft und begann zu erzählen - dunkel und märchenhaft: von einem kleinen Jungen tief im dunklen Wald, von der Hütte an der Berglehne, von dem ewigen Eingesperrtsein bei der verhassten klebrigen Arbeit mit aufgeweichter Pappmasse und Kleister. Von dem Jungen, der deshalb zum Kobold wurde, weil er im Dunkeln eingesperrt sitzen musste, um für die Kinder draußen in der lichten Welt Spielzeug zu machen! Es war ihm alles entschwunden gewesen, aber nun trat es lebendig wieder hervor. Und das eine zog das andere nach sich: die Steinform, die die Verwandlung vom Mädchen zu dem Puppenjungen da auf dem Tisch durchmachen musste - und die Flucht, um den Folgen zu entgehen. Und während er erzählte, trat plötzlich eine neue Gestalt in seine Erinnerung ein - der Vater. Er sah ihn in einer niedrigen Tür stehen, Axt und Säge hingen ihm über dem Rücken, der Brotbeutel vorn.
„Und das hast du alles stillschweigend mit dir herumgeschleppt", sagte sie schluchzend und bedeckte den kleinen Puppenleib mit Küssen. „Warum denn, Heinz?"
„Ich hatte es doch vergessen", antwortete er bedrückt. „An Mutter habe ich immer eine Art Erinnerung gehabt — ein gütiges Gesicht, das sich über mich beugte. Alles andere aber war mir unterwegs entfallen. Ich habe wohl selber dazu beigetragen -indem ich es unterdrückte."
„Aber warum denn?"
„Aus Angst, dass man herausbekommen könnte, wo ich hingehörte, und mich dann zurückschickte, glaube ich. Und vielleicht — Kinder können auch hassen, du!"
„Dass du gerade hier landen musstest!" Ihre Augen strahlten unter Tränen. Er legte den Arm um sie.
„Ja, du, das ist das Wunderbare! - Und wie ist es denn vor sich gegangen? Ich habe nur eine dunkle Erinnerung; eine Landstraße und ein Mann, der mich an der Hand hielt - ein Wanderbursche wahrscheinlich. Wir haben uns wohl durchgebettelt, denn ich glaube mich an Türen erinnern zu können, die mir zu gewisser Zeit in meinem Leben ständig vor der Nase zugemacht wurden. Er muss mich nach Kopenhagen gebracht haben und mir dann auf irgendwelche Weise entschwunden sein; von dem Augenblick an, wo ich in dem großen Spielwarengeschäft auf dem Strög Laufbursche wurde, erinnere ich mich an alles recht deutlich, aber er tritt nirgendwo darin auf. Dort behielten sie mich - und ließen mich den Handel erlernen."
Sie nickte. „Wie ist das Leben seltsam", sagte sie weich und sah träumerisch vor sich hin, mit den Gedanken irgendwoanders weilend. Dann richtete sie sich erschauernd auf — sie dachte daran, was gewesen wäre, wenn dies alles nicht stattgefunden hätte -, ergriff den kleinen Puppenleib und küsste ihn heftig - gerade auf die verhängnisvolle Stelle.
„Und nun musst du nach Hause fahren und deine alten Eltern zu finden suchen", sagte sie entschlossen.
„Wenn es nur nicht zu spät ist", antwortete er - und brach plötzlich in heftiges Weinen aus.
Sie drückte seinen Kopf an sich und ließ ihn ausweinen. Es war all das Finstere in seinem Leben, was sich nun auflöste und wie Regen niederfiel.

V

Weg hinaus und Weg nach Haus sind gleich lang, sagt das Sprichwort; für Heinz jedenfalls war aber der Heimweg bedeutend kürzer und leichter, als es der Weg hinaus gewesen war. Zwei Tage, nachdem ihm die schicksalhafte Puppe ihren Gruß überbracht hatte, stieg er in Waltershausen aus dem Zug. In der großen Puppenfabrik erhielt er alle erforderlichen Auskünfte. Es war gerade der Tag in der Woche, wo die alte Mutter Gessert Arbeit abzuliefern pflegte; wenn er nur zwei, drei Stunden wartete, könnte er sich den Weg in die Berge ersparen, sagte man ihm. Aber der Fremdling wollte nicht warten; er machte sich stracks zu Fuß nach Finsterbergen auf.
Auf der Bergflanke, die von Friedrichroda nach Finsterbergen hinaufführt, kam ihm ein schwer bepacktes Mütterchen entgegen. Der Pfad war von dem Tauwasser des Frühlings voller Eis, die hohe Kiepe beugte sie vornüber; sie musste sich an den schleppenden langen Ästen der Tannen festhalten und sich von Baum zu Baum gleiten lassen, um nicht den Berg hinunter ins Rutschen zu geraten.
Heinz hielt sie in seinen starken Armen, noch ehe sie ihn entdeckt hatte. Er befreite sie von der Last und hob sie auf das weiche Moospolster unter den Tannen, während sein Herz vor Freude und Jammer weinte. Ach, wie klein und leicht sie war! Die schwere Hand des Lebens hatte sie fast wieder in die Erde hineingezwungen, aber in dem runzligen gütigen Gesicht leuchteten zwei vertrauensvolle Kinderaugen, die er aus seiner Knabenzeit wieder erkannte.
Nichts greift so tief wie eine Liebkosung von den Händen, die sich für einen abgemüht haben, und unter den tappenden gichtischen Fingern der kleinen verwelkten Frau brach Heinz zusammen. Jetzt erst begriff er zur Gänze, was der Schatten in seinem
Dasein gewesen war: wie schwer es gewesen war - nicht zum mindesten als Erwachsener-, ohne Mutter zu sein.
Das kleine alte Mütterchen lächelte bloß, während sie über ihren Jungen hintastete, der so groß und so vornehm geworden war, und behutsam umfing sie ihn mit ihren versagenden Augen Nichts auf der Welt konnte sie noch überraschen, und dass der da zurückkommen würde, hatte sie ja immer gewusst. Er war sie alle drei hinausgezogen, und nun war er wieder hier!
„Nun wird Vater froh werden!" sagte sie, und das alte Haupt zitterte. Und das war ihr erstes Willkommenswort an ihn.
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