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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DAS GLÜCK VOM MÜLLABLADEPLATZ
Ein Märchen für Rotznasen

Es ist eine alte Geschichte, die von dem Glück, das dem Armen so gern die Hand gereicht hätte, ihn aber nicht finden konnte. Da fiel es ihm denn ein, einen Umweg über den Müllabladeplatz zu machen, und wer nun hübsch still sitzt, während ich erzähle, darf nachher in den Hof hinunter und riechen, was in der Kellerküche des Restaurants gebraten wird. Die kleinen Mägen müssen doch auch zu dem Ihren kommen!
Weit draußen in der großen Stadt — noch weiter draußen als wir hier — liegt eine enge Straße, die wie eine Spalte in der schwarzen Erde ist. Stets ist sie feucht und glitschig, soviel die Sonne auch anderswo scheinen mag. Wenn man vom hellen flachen Land hereinkommt, steht sie plötzlich mit zwei gewaltigen Giebeln da, dass es einem kalt über den Rücken läuft; es ist, als beträte man den Eingang zur Unterwelt. Mit jedem Schritt, den man geht, wird sie dunkler und feuchter, und weit unten mündet sie in einen großen Friedhof. Von jedem Fenster der Straße aus hat man den Friedhof vor Augen; er liegt da und versperrt einem die Aussicht und scheint eine ganz neue Welt, wo es sich die Menschen endlich so eingerichtet haben, dass sie alle gleichviel haben; aber angenehm ist er trotzdem nicht. Deshalb ist es ein größeres Vergnügen, den Kopf nach der anderen Seite zu drehen. Dort leuchten die Luft und das Land wie ein Strich von Feuer, und man könnte sich sehr wohl einbilden, der Spalt da draußen sei die enge Pforte zur himmlischen Herrlichkeit. Es ist aber nur das Leben, was dort beginnt! Unterhalb der beiden gewaltigen Giebel bricht die Straße jäh ab, so dass Bürgersteig und Rinnsteine frei in die Luft ragen; und springt man zwei Ellen tief hinunter, ist man auf dem offenen Lande.
Seht, das ist eine feine Sache! Da gehen Sonne und Wind jeden Tag spazieren, und die Erde streckt ihren nackten Hintern in die Luft — in Form eines gelben Lehmbuckels —, ohne sich auch nur mit einem Grashalm zuzudecken. Es gibt da nichts anderes als Lehm, und es ist kein Ende, was für Herrlichkeiten man daraus hervorbringen kann: Festungen und Parkanlagen — und richtige kleine Menschen, denen bloß fehlt, dass ihnen der liebe Gott ein bisschen in die Nase pustete!
Dahinter kommt dann das Grüne: große Büsche von schwankenden Nesseln und Schierling, Wermut zum Schnapsansetzen und Kamillentee, den man bei Erkältung trinkt. Hier wird wahrhaftig an nichts gespart! Blühende grüne Kränze wachsen um blaurote große Schlackenhaufen und Berge von Bauschutt, breiten sich üppig über die giftigsten Stellen und setzen die schädlichen Stoffe in bittere Arzneien um. Es gibt da eine Baugrube, die zur Hälfte voll Wasser ist; man kann auf Gerüstbrettern darauf herumsegeln und sich ganze Seeschlachten liefern. Und ein geheimnisvoller eingezäunter Platz ist da, der aufregend nach dem Pechpfuhl der Hölle riecht. Leider steht „Zutritt verboten" über der Einfahrt.
Als ob das alles gewesen wäre! Nein, um dies ganze wiederum dehnen sich die herrlichen großen Müllplätze, wo sich alles versammelt. Jeden Tag fahren Hunderte von mächtigen Wagen hierher, was nicht mehr zu gebrauchen ist — ohne Ansehen der Person. Vieles davon erkennen wir wieder und wissen, wem es gehört hat. Der Haufen Schmutz dort sind Sauf-Walde seine abgelegten Hosen; sie sind beinahe ebenso schön, wie sie immer gewesen sind, wir können richtig daran abzählen, wie oft ihn die Wachhunde an den Beinen hatten. Aber worin haben sie sich denn so verwickelt — ein gelblicher langer Darm? Das ist ein Schleier, Kinderchen — mit Pailletten dran; das hat wohl gefunkelt, bei einem Hoffest vielleicht. Jetzt ist er nicht einmal Sauf-Waldes alten Schäften zur Zier.
Nun, das soll uns egal sein — jedenfalls kann man hier alle Herrlichkeiten der Welt miterleben. Denn wenn der Inhalt verspeist ist, landen die Konservendosen hier; an den Bildern darauf kann man noch erkennen, was drin gewesen ist: die Bilder von den seltenen Früchten und Tieren sind wie eine Reise um die Welt bei Nacht. Hier fehlt gar nichts! Der Orden vom letzten Kotillon ragt aus dem Aschenhaufen hervor — hier und da sitzt noch ein wenig von der Vergoldung auf der Pappe —, und zuoberst auf einem Kehrichtberg liegt das zerbrochene Türschild irgendeines großen Mannes.
Bestimmt ist es euer eigener Spielplatz, und ihr dürft euch ruhig darüber freuen. Das Türschild des Staatsrats kann Mutter als Teller benutzen, wenn es umgedreht wird, die Sektflaschen aber will niemand kaufen. Gleich nach dem Paradies ist dies der großartigste Garten der Welt, und der liebe Gott geht selber darin herum und wühlt mit einem Haken in den Kehrichthaufen, um nachzusehen, ob mit dem Dreck nicht etwas Wertvolles herausgekommen ist. Dann schickt er es wieder zurück und lässt es diesmal von unten herauf Dienste tun — denn so ist er. Ihr lacht, ihr kleinen Schafsköpfe; ihr habt selber mit dem Haken gearbeitet und habt ihn nie gesehen? Aber Peter und seine Schwester haben in einer hochherrschaftlichen Wiege ohne Kufen gelegen, die ihr Vater da draußen gefunden hat — deshalb sind sie doch so wohlerzogen! Und woher hat denn die Mutter des kleinen Karl voriges Jahr die eiserne Bettstelle und die Matratze bekommen? — Ihr dürft die Sachen ruhig nach Hause schleppen, aber vorher hat der liebe Gott der Polizei einen kleinen Schubs gegeben und gesagt: „Seht, da sind so ein paar rotznäsige Gören. Lasst sie mir zuliebe behalten, was für Schiet sie finden!"
Auch Gold und Silber wandert nach dort hinaus. Aber darüber schweigen wir stille, damit nicht die Wohlhabenden hinauskommen und danach zu graben anfangen. Denn so sind sie, und deshalb werden die doch wohlhabend genannt. Da hat das Glück die Hand drauf: es liegt unten im Dreck und vermehrt sich zu unserem Troste. Und eines schönen Tages kommt es ans Licht — wie damals, als der Beifuss aus der Erde schoss und hatte einen goldenen Fingerring um seinen rostroten Kopf.
Und Geld — das gibt es massenhaft! Hätte man das Geld, das in Jahr und Tag mit dem Kehricht hierher herauswandert, wäre man bestimmt ein gemachter Mann. Aber Geld lässt sich so schwer von Dreck unterscheiden! —
Die ganze lange Straße gehörte bis vor ganz kurzem einem einzigen Menschen. Sie hatte die schlechtesten Wohnungen in der ganzen Stadt und warf die höchsten Mieteinnahmen ab. Deshalb zogen nur die allerärmsten hierher — jene, die sich das allerschlechteste einfach leisten müssen. Trotzdem waren alle Wohnungen stets besetzt. Die trostlosen Häuserreihen neigten sich über die enge Spalte wie zwei Vogelfelsen, wo merkwürdig zerzauste Wesen Loch an Loch in ihren Nestern brüteten, in sieben Reihen übereinander. Die Straße hatte ihre eigene Luft, die euch gut bekannt ist, und nachts wälzte sich in ihr die Finsternis dahin wie in einer Kloake. Aber es wohnten über tausend Kinder in der Straße, die sprengten das jämmerliche Dasein da unten und schoben die grauen Mauern beiseite. Es gab Zeiten, wo die Kluft ein summender Bienenkorb von lärmenden Kindern war, von Müttern, die trösteten, und Müttern, die schalten. Solange der Tag währte, war die Luft von den Freuden und Leiden der Kinder, von den Kümmernissen der Eltern brausend erfüllt.
Das war alles ganz gut, aber da fiel es eines schönen Tages dem Hauswirt ein, dass die Straße von jetzt an eine feine Straße sein müsste. Und das sollte dadurch erreicht werden, dass man allen Mietern, die Kinder hatten, kündigte - als ob es nicht gerade ihr Gören gewesen wäret, die allem den Glanz gaben! Es sollten dann neue Mieter kommen, die keine Kinder hatten, aber man kann ebenso gut nach reichen Leuten ohne Geld wie nach armen Menschen ohne Kinder suchen; deshalb fiel er schwer damit hinein.
Nun - das ist seine Sache, denn dies ist eine Geschichte vom Glück, und hier fängt sie an.
Jeden Monat fraßen sich die Kündigungen in der Straße zwei Häuser weiter, und nun waren sie bei Nummer zehn angelangt. Hier wohnten sie oben auf dem Boden. Es war Winter und noch früh am Morgen. Draußen in der Dunkelheit heulte eine Fabriksirene.
Die Finsternis drückte wie ein Alp auf die kleine Stube, und in sie hinein stießen verschiedene Atemzüge, als stünden kleine Maschinen rings in den Ecken und arbeiteten jede nach ihrer Melodie. Da waren die flötensanften Atemzüge von Kindern, die an junge Vögel beim Singen lernen erinnerten, und die eines Erwachsenen, der in langen, kräftigen Stößen die Müdigkeit vertrieb. Ein kurzes, rasches Atmen wie ein zorniges Knurren mischte sich hinein. Und aus dem Winkel unter dem schrägen Dach drang etwas hervor, was nicht nur ein Atemzug war, sondern das Leiden selbst, das geduldig die Stunden der Nacht zählte.
Plötzlich hörten die kräftigen Atemzüge auf, eine Hand tappte nach Streichhölzern und zündete eines an. Es beleuchtete ein schräges Kämmerchen mit schmutziger Tapete und eine kräftig gebaute Frau, die aufrecht im Bette saß und nach dem Fleck an der Wand hinleuchtete, wo die billige Schweizer Uhr zu hängen pflegte. In dem Bett neben ihr lag ein Mann mit eingefallenen melancholischen Wangen und starrte zu ihr hin.
„Es hat noch nicht sechs gepfiffen", flüsterte er.
Sie warf das Streichholz fluchend weg und begann, sich im Dunkeln anzuziehen.
„Willst du schon gehen?" fragte er ein wenig später. „Du hast noch Zeit."
Sie antwortete immer noch nicht. „Wie viel habt ihr für die Uhr gekriegt?" fragte sie plötzlich. „Fünfzig Öre."
Sie lachte hart auf. „Damit lässt sich wahrhaftig keine Wohnung mieten. Na ja, das Armenhaus steht uns ja immer offen, warum also sich Sorgen machen? — Will? Ob ich gehen will? Als ob man der Bewegung wegen den Leuten ihren Dreck wegbrächte. Es fragt bestimmt keiner danach, ob man will."
Sie brummte noch eine ganze Weile vor sich hin. Der Mann erwiderte nichts, er wusste, dass sie es gut mit ihnen meinte; es war nichts weiter als der letzte Rest Müdigkeit von gestern, was heraus musste. Sie war die Versorgerin der Familie, und es war recht und billig, dass sie ab und zu das Bedürfnis hatte, sich Luft zu machen! Sie musste von selber wieder aufhören.
Sie ging in die Küche und polterte dort herum und bereitete für den Tag alles vor; durch den Türspalt fiel das Licht herein und zog durch die beklemmende Dunkelheit eine dünne Haut feurigen Dampfes. Dann kam sie im Mantel wieder herein und trat zu dem Mann.
„Sei jetzt vernünftig und bleib liegen, bis es hier richtig warm ist!" sagte sie und stopfte mit ihren kräftigen Händen die Decke um ihn fest. „Und mach dir bloß keine Sorgen. Madame Petersen ist Manns genug, uns das Essen zu besorgen — und ein Dach über den Kopf dazu."
„Mutter, in der Borgergade ist im Hinterhaus eine großartige Wohnung mit Glaserker, da könnte Vater immer drinsitzen, wenn die Sonne scheint", sagte ein Junge vom Fußboden her. „Sie kostet fünfzehn Kronen, und sie wollen für einen Monat im Voraus haben."
„Ja, so einen ulkigen!" bekräftigte eine Kinderstimme. „Das ist bestimmt wahr!"
Die Mutter antwortete nicht, sondern ging zu dem alten Sofa hinüber und rüttelte an einem schnarchenden kleinen Knäuel. Das war die erwachsene Tochter Trine; sie tat bloß so, als ob sie schliefe.
„Jetzt sorgst du dafür, dass es hier schön warm ist, wenn dein Vater aufsteht! Koks haben wir doch noch? Sonst müssen die Jungen los, sobald es hell wird, und welchen sammeln. Ein paar Späne zum Feueranmachen kannst du aus der Wand zur Polterkammer herauspuhlen — wenn du vorsichtig bist und keinen Lärm machst. Zehn Öre für Milch zu heute Mittag liegen im Tellerbört; du kannst das alte Brot hineintun, das ich gestern mit nach Hause gebracht habe. Und Gnade dir Gott, wenn du ungezogen bist gegen deinen Vater oder deine kleinen Geschwister schlägst! Seid also alle drei brav, dann bringe ich euch heute Abend auch etwas Gutes mit — Bratwurst vielleicht!"
Kaum dass die Tür hinter der Mutter zugeschlagen war, streckte Trine den Kopf aus dem Bettzeug und knurrte zornig vor sich hin. Dann kroch sie wieder unter die Decke, und während der nächsten zwei Stunden brütete der Schlaf von neuem in der kleinen Wohnung.
Es begann zu dämmern. Peter, der acht, neun Jahre alt war, lag vor dem Kachelofen auf den Knien und war dabei, Feuer anzumachen, und der kleine Rasmus saß auf dem Fußboden und zog sich an. Auf dem Sofa lag Trine auf allen vieren und schimpfte mit Peter, weil er den Koks nicht zum Brennen brachte. Vor lauter Ärger war sie bis ganz an den Rand gekrochen, ihr verwachsener Rücken stand gerade in die Höhe und ihre Augen funkelten unter dem filzigen Stirnhaar. Sic glich einer wütenden Katze.
Drüben in seinem Bett lag Petersen, das hagere Gesicht nach oben gewandt und die Arme längs der Decke ausgestreckt; er hatte Pulswärmer an und um den Hals ein Tuch. Hin und wieder flüsterte er ein beruhigendes Wort ins Zimmer hinein, ohne aber den Kopf zu drehen.
Als es warm genug war, stellte er sich mühsam auf die Beine und setzte sich an seinen Arbeitstisch in der Fensternische. In seinen gesunden Tagen war er Klempner gewesen, jetzt hatte er nichts weiter als ein bisschen Püttjerarbeit zu tun: Blechringe für Kaffeebeutel zuschneiden und löten. Das wurde sonst mit der Maschine gemacht, ein Meister gab ihm die Arbeit aus purer Gnade und Barmherzigkeit. Die Arbeit war leicht, warf aber auch nichts ab; zwanzig Öre am Tage war das höchste, worauf er es bringen konnte. Die Lötdämpfe legten sich ihm auf die Brust, so dass er alle Augenblicke innehalten musste, um zu husten.
Als sie Kaffee getrunken hatten, wurde für die beiden Jungen der Tagesplan aufgestellt. Für heute war genug Koks da, auf Anweisung der Mutter aber sollten sie sammeln, soviel sie konnten, und ihn an andere Leute in der Straße verkaufen; wenn sie fleißig waren, konnten sie jederzeit fünfundzwanzig Öre dabei verdienen. Trine indes hatte einen anderen Plan, der mehr abwarf und auch den beiden Burschen besser gefiel: sie gab ihnen
einen Korb und sagte, sie sollten von Haus zu Haus gehen und „um eine Kleinigkeit bitten". Sie müssten aber den Korb an der Haustür stehen lassen, wenn sie hinaufgingen, und die Mützen sollten sie unter der Jacke verstecken, ehe sie klingelten — Kindern mit bloßem Kopf schenkten die Menschen eher eine Kleinigkeit. Was sie an der einen Tür zu essen bekämen, müssten sie natürlich auch wegstecken, ehe sie an der nächsten klingelten — vor allem aber sollten sie versuchen, Geld zu ergattern. Und zuerst und zuletzt müssten sie sich in acht nehmen, dass Mutter nichts davon erführe, denn dann wäre der Teufel los.
Petersen sagte nichts dazu. Er war des Glaubens, er hätte kein Recht, sich deswegen stolze Gedanken zu machen — ein so unnützer Mensch, wie er war —, und wollte es auch gern seiner fleißigen großen Frau etwas leichter machen. Wenn sie es nur nicht herauskriegte, dann...
Die beiden kleinen Burschen waren strahlender Laune. Es war das erste Mal, dass sie selber an die Türen anklopfen durften, aber sie wussten von anderen Jungen, was alles sich bei solchen Unternehmen erleben ließ — wenn man eben Glück hatte. Peter warf sich mit dem Bauch über das Treppengeländer und rutschte bis ganz an die Haustür hinunter, während Rasmus mit dem Korb hinterher trollte. Er hatte kurze Beine und musste jede Stufe zweifach nehmen.
Es war noch nicht viel Betrieb auf der Straße. Drüben in Nummer dreizehn waren der Leierkastenmann und seine Tochter dabei, die Drehorgel aus dem Haus zu schaffen; dabei bewegte er sein Holzbein in höchst komischen Schwüngen. Und oben im dritten Stock beugte sich eine nackte Frau weit aus dem Fenster und schimpfte ihrem Faulpelz von Mann hinterher, dass es laut schallte.
Gesenkten Kopfes schlichen die Jungen die Häuserreihe entlang; sie waren äußerst gespannt. Als sie beim Friedhof glücklich um die Ecke gekommen waren, empfanden sie das als eine richtige Leistung, und Hand in Hand trabten sie nach der Stadt zu.
Auf dem Boulevard erblickten sie Onkel Peter. Sie hatten ihn nicht mehr gesehen, seitdem ihn die Mutter vor etwa einem Jahr hinausgeworfen hatte, erkannten ihn aber sofort. Er ging schaudernd in der Morgenkühle umher und war ganz blaugefroren.
Sie wollten gerade hinüberlaufen und ihm guten Tag sagen, als er in ein Haustor schlüpfte. Auf dem Bürgersteig drüben kam ein Herr in Pelzmantel und Zylinder daher, etwas hinter ihm lief ein schöner langhaariger Hund mit einem silberbeschlagenen Halsband. Onkel Peter hatte sich hingehockt und lockte den Hund zu sich her; der machte auch halt, um ihn zu beschnuppern, und plötzlich hatte ihn der Onkel beim Genick, zog ihn zum Tor herein und schnitt ihm das Halsband ab. Die Jungen machten sich erschreckt aus dem Staube.
Sie kamen in eine stille Straße, wo sie noch niemals gewesen waren. Die Häuser waren alt, standen jedes für sich, und Gärten mit Treibhäusern waren dabei und mächtige Bäume. In einem der Gärten saß ein kleiner Affe auf einem Pfahl; er zitterte vor Kälte und machte ein Gesicht, als ob er weinte. Als die Jungen stehen blieben und über ihn lachten, schlich er durch ein Loch in der Mauer beschämt ins Haus, zog die Kette hinter sich herein und drehte die Tür zu.
Sie hatten sich noch nirgends versucht, aber dies hier war endlich eine ganz neue Welt, und sie kamen überein, ihr Glück zu probieren.
Sie gingen in eins der Häuser, versteckten Korb und Mützen sorgfältig hinter der Haustür und klingelten. Die massive Mahagonitür öffnete sich ein ganz klein wenig, und vorsichtig lugte eine junge Frau heraus. Als sie die beiden kleinen Jungen sah, machte sie die Sicherheitskette los und öffnete ganz.
„Was wollt ihr beiden Bürschlein denn?" fragte sie und nickte so freundlich, dass es Peter ganz flau wurde und er es nicht übers Herz brachte zu betteln. Ihm fiel aber auch nichts anderes zu sagen ein, und so stand er da und trat von einem Fuß auf den anderen.
Die feine Dame sah sie ein Weilchen verwundert an. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
„Seid ihr vielleicht hungrig?" fragte sie. Rasmus nickte eifrig. „Aber dann kommt doch herein!" rief sie und machte ihnen Platz.
Sie kamen in ein herrlich warmes Zimmer mit prächtigen Möbeln und Teppichen auf dem Fußboden. An einem Tischchen saß ein kleines Mädchen und spielte; das herrlichste Spielzeug lag haufenweise um sie herum, aber sie war böse und schob es jedes Mal vom Tisch auf die Erde, wenn es das Kindermädchen vor sie hinlegte. Es waren Straßenbahnwagen und ein Zug und Puppen — viel mehr, als die beiden Jungen jemals geglaubt hatten, dass es einem einzelnen Kind zuteil werden könnte. Aber sie war nicht entzückt davon — nur immer runter auf den Fußboden damit! Die Mutter musste dem kleinen Mädchen ihr Portemonnaie geben, damit sie endlich ruhig würde.
Der kleine „As" trat vorsichtig näher und starrte auf das Spielzeug mit Augen so groß wie Buletten. Aber dann erwachte in ihm die Lust, dagegen zu wetteifern, und er begann seine Taschen auszukramen: die Reste einer Ohrenspritze, den Schlüssel zu einer Hummerdose, ein Endchen Gummiband — lauter Dinge, die er auf dem Müllplatz gefunden hatte. Es war nur ein kleiner Teil seines Spielzeugs, und das schönste von allem war eine große rote Garnrolle! Er und sein Bruder sammelten Garnrollen, und wenn sie genug hätten, sollten sie auf Bindfaden gezogen und als Pferdeleine benutzt werden. Die große rote sollte vorn am Zaum sitzen, zusammen mit einer anderen großen roten Rolle, die sie bestimmt auch noch auftreiben würden.
Er legte beim Essen alles neben sich auf den Tisch. Es wurde ihnen ein herrliches Essen vorgesetzt, und sie fühlten sich hier in jeder Hinsicht angenehm wohl; er hätte gern gewusst, ob dies nicht das Pfefferkuchenhaus wäre. Dann war es am besten, beim Fortgehen etwas auf den Weg zu streuen, damit man es ein andermal wieder finden könnte! Das kleine Engelskind kam ihm reichlich unartig vor! Es hatte das Geld der Mutter über den ganzen Spieltisch verstreut, und jetzt streckte sie die drallen Hände
nach seinen Sachen aus und wurde ganz wütend, weil es sie nicht bekam. Schließlich mussten ihr die Erwachsenen nachgeben; das Kindermädchen wusch die rote Spule ab und überließ sie dem kleinen Mädchen; sie machte sich eifrig daran, Papier hineinzustopfen. Rasmus fühlte sich aber nicht benachteiligt deswegen; er bekam einen kleinen Omnibus mit Pferden und Kutscher dafür.
Peter hatte schon früher solch schönes Spielzeug gesehen — in Schaufenstern — und war ja überhaupt weltgewandter. Was ihn aber mehr als aller Glanz wunderte, war, dass das Kind mit Geld spielen durfte — sie konnte es ja zufällig verschlucken, so dass es nie wieder ans Tageslicht käme. Die mussten Geld haben! Es waren ein Zehnkronenschein, einige Einkronen- und Fünfzigörestücke — mehr Geld, soviel er sehen konnte, als sie brauchten, um die lächerliche Wohnung in der Borgergade zu mieten. Ob er sich wohl das Geld erbitten sollte? Sie waren doch sicherlich Millionäre.
Er überlegte, wie er es am besten vorbringen könnte — und war all des guten Essens ein bisschen überdrüssig. Jetzt, wo er satt zu werden begann, hätte er viel lieber einiges davon im Korb mit nach Hause genommen; und so lauerte er auf eine Gelegenheit, das eine oder andere in seine Bluse zu stecken.
Aber da kam ein großer, ernster Mann aus einem anderen Zimmer herein und fing an, sich mit den beiden Jungen zu unterhalten.
„Na, wo wohnt ihr denn?" fragte er. „In der Lergade."
„Das ist weit weg von hier. Und was ist euer Vater?" „Er ist krank", beeilte sich Rasmus zu antworten, um auch dabeizusein.
„Nein, er ist Klempnergeselle — aber jetzt ist er brustkrank",
verbesserte ihn Peter.
„Und da hat euch wohl die Mutter aus dem Haus geschickt,
damit ihr — hm — ein wenig bettelt?"
„Nein, das kann Mutter nicht leiden. Aber sie ist auf Arbeit, drinnen am Kongens Nytorv."
„Da hat sie einen langen Weg, die Ärmste!" sagte die Frau.
„Ja, aber jetzt sind wir gekündigt, weil wir keine Kinder haben dürfen. Der Hauswirt mag Kinder nicht leiden. Aber dann ziehen wir wohl in die Borgergade, wo so eine Art Treibhaus von Holz und Glas nach dem Hof zu ist; da kann Vater sitzen, wenn die Sonne scheint, da ist es dann warm. Wir brauchen nur noch die fünfzehn Kronen Anzahlung, aber damit wird uns schon jemand aushelfen, meint Vater!" — So, jetzt war es heraus! Peter atmete erleichtert auf.
„Hast du's gehört, kleine Gisse? Es gibt einen bösen Mann, der Kinder nicht leiden mag", sagte der Herr und beugte sich über das Kind. „Aber was ist das — ich glaube, Gisse spielt mit Geld! Das geht nun wirklich nicht."
Die Frau begann, das Geld aufzusammeln.
„Seid ihr viele Kinder?" fragte der Mann weiter.
„Ja, Trine ist noch da, aber die ist zwanzig Jahre alt."
„Und dabei ist sie so wütend, so wütend", fügte Rasmus hinzu.
Der Mann lachte. „Aber warum ist sie denn so wütend?"
„Mutter sagt, weil sie keinen Mann kriegen kann", antwortete Peter ernst.
„Nein, sie hat doch einen Buckel", fiel As eifrig ein und machte den Rücken krumm, so dass alle über ihn lachten.
„Kann sie gar nicht arbeiten, diese Schwester?" fragte der Mann weiter.
„Doch, sie hat Stühle geflochten, aber das lohnte sich nicht, sie knickte zu viel Rohr dabei. Deshalb sagte Vater, sie sollte aufhören damit, für jeden Sitz setzten wir glatte fünfzehn Öre zu."
„Wie arm sie sein müssen, Henrik!" flüsterte die junge Frau ergriffen.
Mit vollem Mund und mit Augen, die ihm vor lauter Eifer fast aus dem Kopfe quollen, fiel Rasmus ein:
„Ja, aber Vater sagt, wir kriegten es besser, wenn er tot ist. Denn dann kriegen wir viel Geld, Begräbnishilfe."
Die beiden Jungen starrten verblüfft der Frau nach, die mit
dem Taschentuch vor den Augen aus dem Zimmer lief; sie hörten sie im Zimmer nebenan schluchzen. Da krabbelten sie von ihren Stühlen herunter, wischten Nase und Mund mit dem Ärmel ab und gingen zur Tür. Als Peter sie aufmachen wollte, fiel aus seiner Bluse ein Brötchen auf die Erde.
„Ist das für die zu Hause?" fragte der Mann.
Peter nickte erschrocken.
Der ernste Mann wickelte den Rest der Mahlzeit in ein Papier und gab es ihm: „Nimm das für Vater und Schwester mit nach Hause — und kommt ein andermal wieder!" sagte er und ließ sie hinaus.
Die Frau, die wieder hereingekommen war, stand da und durchsuchte sämtliche Spielsachen ihres Kindes.
„Die kleinen Kerle", sagte der Mann vom Fenster her, von wo er den beiden Jungen nachschaute. „Sieh bloß an, Anna — jetzt haben sie einen Korb bei sich und Mützen auf. Das haben sie irgendwo versteckt gehabt."
„Ja, und weißt du, was schlimmer ist, Heinrich? Ich glaube, sie haben zehn Kronen mitgenommen. Es waren ganz bestimmt vierzehn Kronen im Portemonnaie, als ich es Gisse gab, und jetzt sind es nur vier — der Zehnkronenschein ist weg."
„Aber das ist einfach unmöglich! Sie haben sich ja nicht vom Flecke gerührt."
„Ich verstehe es auch nicht, aber weg ist er!"
Nun begann der Mann unter den Spielsachen des Kindes zu suchen.
„Was ist denn das für Zeug?" fragte er und hielt die rote Rolle hoch.
„Ach, die hat Gisse von den Jungen bekommen. Wir haben sie natürlich erst abgewaschen."
Der Mann zuckte ergeben die Achseln: „Herrgott — abgewaschen! Glaubst du wirklich, die Ansteckung lässt sich abwaschen? Womit kann so ein Ding nicht alles in Berührung gekommen sein! Ich muss sagen, es war sehr gedankenlos von dir."
„Ja, Liebster, es war auch verkehrt von mir — aber im Augenblick dachte ich wirklich nicht daran. Und Gisse war so unvernünftig."
„Die rote Farbe allein würde genügen, sie krank zu machen, wenn sie das Ding in den Mund steckte; rote Farbe ist sehr giftig, will ich dir nur sagen. — Nehmen Sie das Ding und werfen Sie es in den Mülleimer!" wandte er sich an das Kindermädchen.
Die beiden Burschen trabten der Stadt zu und besprachen dabei eifrig, was sie erlebt hatten. Sie waren weit draußen in Frederiksberg, aber was tat das? Jetzt wollten sie einen Abstecher in die Borgergade machen und nachsehen, ob die Wohnung noch frei wäre, und dann wollten sie mit dem guten Essen nach Hause, damit es der Vater zu Mittag hätte. Außerdem musste Peter um eins in der Schule sein. Es fiel ihnen nicht ein, noch in andere Häuser zu gehen — sie hatten das Gewaltige erlebt, und so etwas wiederholt sich nicht am selben Tage. An einem anderen Tag aber würden sie zum Pfefferkuchenhaus zurückfinden, darüber waren sie sich einig.
„Und dann kriegen wir vielleicht das Geld für die Wohnung", meinte Peter.
Auf dem Gamle Kongevej begegneten sie Jungen auf dem Weg zur Schule, und Peter bekam einen heißen Kopf. Im selben Augenblick aber jagte die Feuerwehr im gestreckten Galopp an ihnen vorüber und zog sie unwiderstehlich in ihr Kielwasser. In sausendem Tempo bimmelte sie sich dahin, einen Schwanz von Hunderten von Jungen hinter sich, die im Laufen sangen:
„Deck, deck, Broager deck! Noch eins drauf, die Granate ist weg!"
Die Fahrt endete draußen auf dem Lampevej, wo ein Fach Gardinen in Brand geraten war, und nun konnten sie von vorn anfangen. Peter hatte bei der Rennerei den ganzen Inhalt seines Korbes verloren, aber daran war nichts zu ändern.
Rasmus taten jetzt die kleinen Stummelbeine weh, er kam nur langsam voran, aber sie halfen sich dadurch, dass sie sich hinten an Fleischerwagen hängten und auf die Trittbretter von Omnibussen sprangen, wenn der Schaffner im Wagen war. Auf diese Weise gelangten sie allmählich zum Kongens Nytorv und standen kurz darauf vor dem spannenden Haus in der Borgergade. Ja, die Wohnung war noch zu haben! Sie schlichen durch den dunklen Hausflur in den Hof, um nur eben einmal einen Blick auf den lustigen Glasbauer zu werfen - und liefen der Mutter gerade in die Arme.
Sie war für einen Augenblick von der Arbeit fortgelaufen, um sich die Wohnung anzusehen, und da gab sie den beiden Landstreichern wohl einen Empfang! Es war ein großes Glück, dass sie nicht auch noch etwas in dem Korbe hatten!
Sie wurden nachdrücklich nach Hause geschickt, und das war keineswegs zu zeitig; als sie in die Lergade kamen, war es dunkel, und die Laternen brannten bereits. Vater war schon zu Bett gegangen; er war allein zu Hause. Trine war aus und trieb sich irgendwo an einer Straßenecke herum und wurde wütend und noch weniger umgänglich, wenn sie alle die jungen Leute sah.
Rasmus kroch zum Vater aufs Bett und zeigte ihm seinen Omnibus; der war in der Tasche entzweigebrochen, aber das ließe sich wohl leicht wieder löten. Peter schämte sich, dass sie dem Vater nichts mitgebracht hatten. Der lag da und sah einsam und verlassen vor sich hin, und Trine hatte versäumt, ihm für seine kalten Füße den Ziegelstein zu wärmen.
Peter tat das und richtete stumm allerlei für die Nacht her; er fühlte nicht das Bedürfnis, seinen Senf dazuzugeben, sondern ärgerte sich über die Quasselstrippe von As. Gehörte es sich denn, lang und breit von all dem guten Essen zu erzählen, wenn sie nichts davon mit nach Hause gebracht hatten! Er wünschte, es wäre auch ein bisschen für den Vater dagewesen, und als Rasmus von dem Kind und dem vielen Geld erzählte, rief er dazwischen: „Weißt du, was ich glaube, Vater? Ich glaube, sie bringen uns morgen die Miete."
„Ja, gewiss", sagte der Vater zögernd. Doch nun war Peter seiner Sache sicher; er hatte deutlich gesehen, wie der Mann der Frau zugeblinzelt hatte, als er ihnen von der Wohnung erzählte.
Und als As ihm das bestätigen sollte, wurde dieser noch lebhafter, er hatte mit seinen Ohren gehört, dass sie es einander zugeflüstert hatten.
Peter hatte die Seegrasmatratze unter dem Bett hervorgezogen und für den Bruder und sich zurechtgemacht. Sie schmiegten sich eng aneinander, die Decke ganz über den Kopf gezogen, und hatten sich eine richtige Hütte gebaut, worin es rasch warm wurde. In dieser lauen Finsternis erzählten sie einander seltsame Geschichten, die dem Nichts entsprangen. Sie drückten bloß auf die geschlossenen Lider und öffneten die Augen wieder; dann traten strahlende Farbenringe hervor, glitten ineinander und verschwanden, und wo sie gewesen waren, stand eine ganze Geschichte von dem, was man sich am meisten wünschte. „Was siehst du jetzt?" fragte alle Augenblicke einer den anderen, und sogleich war die Geschichte von den feinen Leuten da, die sie mit der Miete und einem großen Korb voll leckeren Essens besuchten  —und mit einer Flasche Wein für den Vater auch. Die Geschichte wurde jedes Mal, wenn sie sie hervorlockten, schöner.
Dann kam Trine nach Hause, und das Flüstern musste aufhören. Kurz danach schliefen sie alle zusammen. Es war nicht später als sieben Uhr, aber auf diese Art sparte man Licht und Feuerung.
Es war Samstagabend, und die Mutter kam spät heim, müde und abgerackert. Sie hatte Bratwurst eingekauft, wie sie es versprochen hatte, da aber alle schliefen, mochte sie sie nicht wecken. Außerdem betrog man auch noch die Mägen um eine Mahlzeit, ohne dass sie es merkten.
Am nächsten Morgen wachten die beiden Jungen davon auf, dass die Mutter zwischen Stube und Küche hin- und herging. Sie war in Unterrock und Nachtjacke und ließ sich viel Zeit. In der Stube roch es nach Kaffee, und jetzt wärmte sie altbackne Semmeln auf der Maschine auf. Den beiden Jungen war es richtig gemütlich dabei, und sie legten sich bequem zurecht, um den Sonntagmorgen zu genießen. As, der noch ein wenig mütterliche Wärme brauchte, drängte sich in Peters Arm.
Die Eltern sprachen wieder von Wohnungen und gerade von der in der Borgergade.
Wir können sie ebenso gut aufgeben und jede andere Wohnung auch!" sagte die Mutter.
„Es wird schon werden", sagte Vater leise. „In vierzehn Tagen kann vieles geschehen."
„Ja, auf alle Fälle geschieht das, dass wir auf die Straße gesetzt werden", antwortete sie von der Küche her, wo sie ihre Groschen zählte. „Eigentlich ist es lächerlich, dass eine ganze Familie bloß deshalb in die Obdachlosenabteilung muss, weil ihr acht, neun Kronen an der Anzahlung fehlen."
Die Jungen dachten an das Wunder, das sich heute ereignen würde, wagten aber nicht davon zu sprechen. Mit dem hoffnungslos kranken Vater zusammen konnten sie ans Glück glauben, in der Nähe des handfesten Charakters der Mutter aber wurden solche Vorstellungen merkwürdig blass. Umso fühlbarer machte sich die Wirklichkeit geltend.
Lärmend schickte sie sich an, den Kachelofen auszunehmen, und ihre kräftigen Schläge mit dem Feuerhaken verdarben Peter im Nu die Sonntagsstimmung. Er wusste es, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte: es war kein Koks da. „Dann müsst ihr los - und das gleich!" sagte sie. „Euer Vater darf nicht frieren."
Peter war kein Morgenschläfer und war in einer Fahrt auf den Beinen, aber als er halb in den Hosen war, fing er zu heulen an.
„Na, was ist denn los?" fragte die Mutter ungeduldig. „Dürfen - dürfen As und ich heute nicht im Bett Kaffee trinken?" schluchzte er.
„Was soll der Unsinn, willst du Herrschaft spielen?" „Nein, aber dann ist es mehr Sonntag."
„Na, dann leg dich wieder hin, du Schöps", sagte sie lachend und warf ihm das Deckbett über den Kopf, aber der Junge zog Hosen und Strümpfe fix wieder aus und kroch richtig ins Bett. Es sollte so aussehen, als wachte er erst dadurch auf, dass Mutter mit dem Kaffee kam.
So schnell hatten die beiden Burschen noch nie einen Sack Koks zusammengeklaubt. Peter scharrte mit den Füßen in den neuen Abfallhaufen herum und arbeitete mit seinem Kratzer, dass der Staub nur so flog, und Rasmus füllte in den Sack. Sie arbeiteten wie die Hühner, und weil es Sonntag war, waren sie allein auf dem Platz.
Nach einer Stunde hatten sie den Sack voll und sogar noch Zeit übrig, verschiedene andere Dinge mitzunehmen: einige Kessel, denen der Vater neue Böden einlöten und die er dann verkaufen konnte, einen zertretenen Löffel, der sich noch richten ließ, und einiges Spielzeug — vor allem Garnrollen. Jetzt hatten sie für ihre Pferdeleine Rollen genug, und Bindfadenreste gab es auch genügend hier draußen. Das schönste von allem war aber eine große rote Garnrolle, genau wie die vorige.
„Wenn du doch bloß die andere nicht weggegeben hättest", sagte Peter vorwurfsvoll.
Aber das war nicht zu ändern, und so zogen sie mit ihrer Beute heimwärts.
Zu Hause war es warm und aufgeräumt; es war so gemütlich, wie es nur am Sonntag sein kann, wenn die Mutter selber sich um alles kümmert. Der Vater saß aufrecht im Bett und hatte reine Wäsche an; vom heftigen Waschen war er noch ganz rot im Gesicht. Trine war schon ausgegangen.
Sobald der Vater angezogen war, gingen alle drei daran, die Leine zu bauen. Rasmus machte die Rollen sauber, Peter knotete die Bindfäden aneinander und zog die Rollen auf, und der Vater verfertigte aus Stahldraht ein richtiges Stangengebiss.
Sooft jemand die Treppe heraufkam, lauschten die Jungen und nickten dem Vater triumphierend zu, sagten aber nichts, denn die Mutter war ja da und hatte schlechte Laune. Aber bei ihnen klingelte niemand, und sie machten sich wieder an die Arbeit — mit jedem Mal niedergeschlagener.
„As bringt den Dreck nicht heraus", sagte Rasmus und reichte dem Vater die große rote Garnrolle hin. Der Vater drückte einen Stahlstin hindurch, und da kam ein zusammengerolltes graues
Stück Papier zum Vorschein; er faltete es erschreckt auseinander — es war ein Zehnkronenschein. Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus, sondern saß bloß da und schwenkte den Schein in der Luft herum und wurde vor Aufregung ganz dunkelrot im Gesicht.
I du meine Güte!" sagte die Frau und wiederholte es immer wieder — vor lauter Bestürzung.
Zu einem Hustenanfall des Vaters kam es diesmal nicht, vielleicht half ihm die Freude darüber hinweg. Er holte tief Atem und sagte:
„Siehst du, da ist doch was eingetreten!" „Ja, das tut es immer!" sagte Peter altklug. „Hat Vater den Dreck herausgekriegt?" fragte Rasmus, der
nicht recht begriffen hatte.
Die Frau zog sich auf der Stelle an, ging in die Stadt und mietete die Wohnung mit dem Glaserker. Und da wohnen sie noch. Der Mann hat dort viel in der Sonne gesessen, denn als ich ihn das letzte Mal sah, war er so gesund, dass er für einen Verein Botengänge machen konnte.
Und dies war die Geschichte von dem Glück auf dem Müllplatz. Ihr könnt selber hingehen und mit ihm sprechen.
1902


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