STRÖM
Ich war arbeitslos, und es war Winter. Es bestand keine Möglichkeit, sich in das Getriebe der kleinen Stadt wieder hineinzuzwängen, nachdem man erst einmal davon ausgeschlossen war. Der alte Hafen war voll von abgetakelten Schiffen, die für den Winter aufgelegt worden waren; die Arbeit am neuen Hafen war wegen des Frostes eingestellt worden. Es war nach allen Seiten hin gesperrt.
So betrieb ich die Kunst der Einschränkung. Es ist kein Ende, was alles man im Falle der Not abstoßen kann — und trotzdem am Leben bleiben. Schließlich ist man denn gar kein lebendes Wesen mehr, sondern eine Spore, die daliegt und auf den günstigen Augenblick zum Aufwachen wartet.
In jenem Winter war ich Zeuge von mancherlei Not, aber in meinem Zustand der Abgestumpftheit rührte es mich nicht weiter. Meines Mitgefühls mit den Hungernden hatte ich mich entledigt — um die Waffe nicht noch gegen mich selbst kehren zu müssen.
Das einzige, was mich zu ein bisschen menschlichem Leben aufzurütteln vermochte, war mein Nachbar, der Taucher Ström, wenn er gegen die Finsternis wütete. Er hatte sein gutes Auskommen, aber das Entsetzen selber war über ihm; durch die dünne Bretterwand hörte ich, wie er sich mit dem Fluch und den unsichtbaren Rächern wie wahnsinnig herumschlug. Die Haare standen mir zu Berge, wenn ich im Dunkel lauschend lag, und über diesem schrecklichen Grauen, das aus dem bodenlosen Unbekannten emporschlug, vergaß ich mein handgreifliches eigenes Elend.
In den Weihnachtstagen kam aus einem der kleinen Orte im Nordland mein Bruder herein. Er war entlassen worden, hatte keinen Öre in der Tasche, und deshalb meinte er, dass ich... Er lachte auf eigentümlich innerliche Art, als er meinen Zustand sah: ein Lachen, das ebenso wohl ein Weinen sein konnte.
Dann beratschlagten wir. Nach Hause zu gehen, hatte keinen 5inn; es sollte natürlich nur ein Weihnachtsbesuch sein, wenn aber der Alte erfuhr, dass wir arbeitslos wären, würde er uns aus Furcht, uns nicht wieder loszuwerden, einfach vor die Tür setzen. Wahrscheinlich war auch zu Hause Schmalhans Küchenmeister.
Wir hatten einen sehr wohlhabenden Onkel in der Stadt; er gehörte zu den Heiligen und hatte sich oft bemüht, uns für seine Sekte zu gewinnen; für unser irdisches Wohl hatte er sich nie interessiert. Ich hasste ihn beinahe, aber mein Bruder, der von weicherem, geschmeidigerem Gemüt war, scheute sich nicht, ihn zu besuchen. Wir wussten ungefähr, wann die Familie an den Feiertagen zu Mittag essen würde — die Mahlzeit musste mitten zwischen die beiden Gebetsversammlungen fallen. „Es kann dir ja nicht nützen, dass ich gleichfalls hungere", sagte mein Bruder entschuldigend, „und wenn ich dazu Gelegenheit habe, werde ich auch für dich etwas in die Tasche stecken." Er war die Gutmütigkeit selber und lächelte mir aufmunternd zu, als wir die Kleidung tauschten, so dass er meine beste und ich seine schlechteste bekam. Wir pflegten niemals mehr mit uns herumzuschleppen, als wir auf dem Leibe trugen.
Er kam mit leerem Magen zurück. Aber er hatte sie im Zimmer nebenan essen hören und wusste bestimmt, dass es Schweinebraten und Rotkohl gegeben hatte. Und sie begrüßten ihn freundlich, als sie vom Tisch aufgestanden waren, und hatten ihn in ihrer leisen Manier gemahnt, Gottes Haus aufzusuchen. Es war ja seiner Verfassung leicht anzumerken, dass er einer Handreichung bedürftig war. „Hätte ich mich bloß mit dem Dienstmädchen anfreunden können; innerhalb von fünf Minuten hätte ich dann einen Haufen Schweinebraten gehabt", sagte er niedergeschlagen. „Aber sie passten auf, die Biester — sie kennen mich ja." Es lag keine Spur von Prahlerei darin.
Es war immerhin möglich, dass ihre Aufforderung maskiert das Versprechen einer Abendmahlzeit enthielt. Und da es nicht gerade ein Vergnügen war, in der kalten Kammer zu sitzen, teilten wir die Kleidung von neuem unter uns auf, gleichmäßiger, und gingen in die Versammlung.
Das Missgeschick hatte mich isoliert. Allein im Zimmer, hielt ich eine ganze Menge aus, ohne zusammenzuklappen; aber die Wärme und alle diese verschiedenen geheimen Kräfte, die von einer Versammlung von Menschen ausstrahlen, ließen mich rasch wie einen Lappen zusammenfallen. Mehrere Male verlor ich das Bewusstsein, aber jeder Anfall dauerte nur kurze Zeit, denn mein Bruder kniff mich jedes Mal kräftig ins Bein und warf mir einen wütenden Blick zu. Doch bald darauf sank ich wieder zusammen, es war mir ganz unmöglich, mich zu behaupten. In den Augenblicken dazwischen hörte ich dumpfes Summen und sah, wie mein Bruder dasaß und zuhörte: mit offner Miene und leuchtendem, verzücktem Gesicht; und ich hatte die dunkle Empfindung, dass ich ein elendes Vieh wäre, einzig dazu geschaffen, alle Chancen zu verscherzen. Dann tauchte ich wieder in jenen Zustand der Leere unter, der nicht einmal der Andeutung eines Traumes Raum lässt. Noch nie war ich so völlig aus dem Dasein ausgelöscht gewesen, und noch nie hatte ich so gründlich ausgeruht. Als die Versammlung vorbei war, kam es mir so vor, dass alles erst jetzt beginnen werde — vom nackten Grunde auf.
Die Familie unseres Onkels kam her und begrüßte uns freundlich, und andere Heilige folgten ihrem Beispiel. Es war etwas dabei, als hätten sie uns durchschaut und gäben uns ihre Vergebung zu erkennen; Gottes Langmut mit den Spöttern leuchtete aus ihren milden, frommen Gesichtern, während sie uns hinausgeleiteten. Ich empfand deutlich, wie sehr wir zwei mageren Hunden glichen, als wir uns voller Scham über unser Pech davonmachten; ich hatte Lust, ihnen nach den Beinen zu schnappen.
Zu Hause war es kalt, und ich hatte kein Petroleum. Also krochen wir in mein Bett und unterhielten einer den anderen von gemeinsamen Erinnerungen — meist aus der Kinderzeit. Es gab genug lustige Vorfälle, bei denen man verweilen konnte, und traurige desgleichen; es war ihnen gemeinsam, dass sie alle mit Prügeln endeten. Das regte zu tieferem Nachdenken an, und plötzlich rief mein Bruder:
„Man mag nun von dem Alten sagen, was man will, aber eine gute Erziehung hat er uns gegeben. Er ist wahrhaftig vor nichts zurückgeschreckt."
Von Zeit zu Zeit jammerte Ström nebenan. Die Laute drangen durch die Bretterwand wie das kranke, flehentliche Heulen eines gewaltigen Tieres, das irgendwo im Dunkel in der Falle sitzt. Jedes Mal krümmte sich mein Bruder vor Unbehagen: „Was ist denn los mit ihm — kannst du ihn nicht veranlassen, aufzuhören?"
„Er schlägt sich mit der Erinnerung an eine Frau und ein kleines Kind herum — die er in seiner Jugend wahrscheinlich ermordet hat! Heute ist es nicht so schlimm; manchmal ist er ganz und gar wild."
Meinem Bruder gefiel es nicht, er klopfte wütend an die Wand; er hatte eine instinktive Abneigung gegen alles, was nach Gewissensbissen schmeckte. Dann fing er sein leichtes Geplauder von neuem an; er besaß die glückliche Gabe, sich alles vom Halse zu reden — auch im Verhältnis zu sich selber — und die Leere mit seiner Sorglosigkeit zu füllen. Ich hörte mit halbem Ohre zu, während unter der Oberfläche mein eigenes Hirn unangefochten weiterarbeitete; so hatte ich mich ihm schon als Kind angepasst.
Es gab nicht eine Stelle innerhalb meiner Welt, die nicht schon die hundertmal abgesucht gewesen wäre. Wie hungrige Ratten spürten meine Gedanken rastlos umher und schnupperten an allem, auch am Schmutz; jedes Mal, wenn sie hoffnungslos hinsanken, jagte sie das brennende Gefühl in meinen Eingeweiden wiederum an die müßige Arbeit. Schließlich war mein Gehirn wie aller Fähigkeit beraubt, es fuhr idiotisch alle die ausgetretenen Pfade; mein Kopf war der gequälte Tummelplatz bestimmter Vorstellungen, die mechanisch, sinnlos darin umherwirbelten — und nicht anzuhalten waren. Und mittendrin hörte ich meinen Bruder neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen und uns durch ein optimistisches „Wenn" mit ihnen verknüpfen. Sein heiteres Gemüt ging in pure Delirien über. Großzügig wie immer schloss er mich reichlich in sie ein, aber ich wusste aus bitterer Erfahrung, dass sie nur für ihn selber Wirklichkeit besaßen. Es war ihm angeboren, aus allem einen Ausweg zu finden. So wie er ausgestattet war, leichtfertig und gleichgültig, unter der warmherzigen Oberfläche ganz von sich selber eingenommen, verfügte er über weit mehr Hilfsquellen als ich. Er stand dem Herzen der Vorsehung näher, und es wunderte mich nicht, dass er plötzlich einen Einfall hatte, der ihn über die Schwierigkeiten erhob und mich darin zurückließ.
Es drehte sich um ein Mädchen, dem er im Sommer einmal flüchtig begegnet war und mit dem er sich halbwegs verlobt hatte. Es war sein Schicksal, dass er sich mit den Mädchen, die er kennen lernte, jedes Mal mehr oder weniger verlobte; das bedrückte ihn übrigens nicht, da sie niemals Ansprüche auf ihn geltend machten. Anderseits wäre es ihm das leichteste von der Welt gewesen, jedwede seiner Verbindungen neu zu knüpfen und auf natürliche Art fortzusetzen; für ihn gab es dort, wo er abgebrochen hatte, allemal eine Brücke. Diese hier wohnte in Aakirkeby, ihr Vater war Gastwirt und wohlhabend dazu. Was lag wohl näher, als dass mein Bruder die Weihnachtstage dazu benutzte, sich aufzumachen und sich den Schwiegereltern vorzustellen.
Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft elendiglich verlassen und hatte nichts dagegen, ihn loszuwerden. „Als arbeitslos stellst du dich doch wohl nicht vor?" fragte ich besorgt.
Er sah mich großartig an. „Ich habe mir Ferien geleistet, du", antwortete er ruhig. „Vielleicht lasse ich mich da oben auch als Meister nieder."
Ich konnte ihn beruhigt ziehen lassen, er war in besseren Händen als meinen. Die braven Gastwirtsleute würden vor Begeisterung über ihn närrisch werden; die Geldlade würde sich ihm von selber öffnen, und er würde mit Schwiegerpapa umhertraben, um nach einer Werkstatt und einem Baugrundstück Ausschau zu halten, während das Mädchen an der Aussteuer nähte. Und dann eines Tages —! Er bekam meine Schuhe, die besser als seine waren, und was ihn sonst noch herausputzen konnte. Ich hatte ja keine Verwendung dafür, wenn ich doch zu Hause lag und an die Decke starrte, und für ihn kam es darauf an, einen guten Eindruck zu machen. Natürlich würde er so bald wie möglich nach mir schicken! Ich glaubte ihm alles, was er sagte — solange ich ihm in die Augen sah; hinterher war es mir gleichgültig. Dann drückte er mir die Hand und ging fort; und ich vergnügte mich von neuem damit, im Bett zu liegen und die Leere singen zu hören.
Ich hatte ein ganzes Jahr mit dem Taucher Tür an Tür gewohnt und war mit seinen Anfällen vertraut, nur die Ursache kannte ich nicht; ich fragte auch nicht danach. In diesen Tagen aber unterlag er ihnen heftiger denn je. Vielleicht hatte mir das Elend die Seele ausgehöhlt und sie zu einem allzu stark schallenden Resonanzboden gemacht, aber es lag auch an sich mehr darin. Es war, als ob die allgemeine Not in seine dumpfe Klage gegen die Verdammung hineinspielte, obwohl er sein gutes Auskommen hatte; so entsetzlich heult auch der Hund, wenn Seuche und Finsternis gemeinsam über das Dorf hinweggehen. Es regte mich fürchterlich auf, so dass ich mein eigenes Elend beiseitesetzen und eingreifen musste. Wenn er sein Lied von dem Geächteten abends sanft begann, wich meine Stumpfheit einem qualvollen Fieber, das in meinem Körper schmerzlich zerrte, weil es nichts gab, wo es angreifen konnte; und während sich nebenan sein Kampf steigerte, lag ich in wahnsinniger Spannung da und griff den Schrecknissen noch vor, bis ich in Schweiß gebadet zusammensank.
Eines Nachts musste ich eingreifen; ich kam gerade rechtzeitig, ihn daran zu hindern, sich auf dem Dachboden aufzuhängen. Er blickte, als wollte er mich zerschmettern; es ist unfassbar, wie ich in meinem geschwächten Zustand die Kraft fand, ihm den Strick fortzunehmen und ihn ins Zimmer zu führen. Aber gleichzeitig ging mit mir selber etwas vor: einen Durchbruch zur Mündigkeit des Mannes könnte man es nennen. Ich hatte die Verantwortung für einen anderen Menschen auf mich genommen und durfte es nicht länger dabei bewenden lassen, dass Ström dem Schicksal unterworfen war; ich musste selber Bescheid wissen.
„Warum willst du Hand an dich legen?" fragte ich zornig.
„Weil da drüben eine junge Frau und ein kleines Kind sitzen, die mir mit ihren Anklagen ständig die Ohren vollheulen", antwortete der Taucher widerwillig. Sein bärtiger hübscher Kopf hing ihm auf die Brust hinab.
„Was hast du ihnen denn getan?"
Ström hob den Kopf und sah mich unsicher an, mit einem ratlosen, flehenden Gesichtsausdruck, als suche er bei mir Hilfe, seine Gedanken zu ordnen: „Ja, was habe ich ihnen getan? Sag du es mir! Anderes als Gutes habe ich ihnen nie gewünscht, und ach, nun sitzen sie doch einsam da — eine hübsche Frau und ein kleines Kind."
Hier überwältigte ihn der Kummer, weiter kam er nicht.
An den folgenden Abenden sputete er sich vom Hafen nach Hause, ohne vorher zu trinken, und suchte bei mir vor seinen Gewissensbissen Zuflucht. Er hatte den Menschenhass überwunden und vermochte den ganzen Abend in meinem Zimmer zu sitzen; seine Anhänglichkeit hatte etwas an sich, das wie das stumme Betteln eines Hundes auf mich wirkte. Meistens schwieg er, doch dann und wann brach unverschuldet die Dankbarkeit aus ihm heraus.
„Ich freue mich über dich, du", sagte er eines Abends; „ich bin hier jahrelang herumgelaufen und habe mich nie einem Menschen anvertraut. Von dem Tage an, wo ich die beiden in der Hütte oben in Smaaland verließ, bin ich ein einsamer Mensch gewesen."
„Warum hast du sie denn sitzen lassen?"
Ström schüttelte den Kopf. „Sitzen lassen habe ich sie wohl nicht — es wäre gemein, so etwas zu sagen! Hätte ich vielleicht zwei so prächtige Geschöpfe ihr ganzes Leben lang in einer armseligen Hütte hausen und sich auf den Rittergütern abrackern lassen sollen — wenn rundum auf jeden, der seinen Pelz zu wagen Mut hat, so viel Gutes wartet? Es ist schwer, seine junge Frau und sein kleines Kind zu verlassen, du! Du wirst dir nie vorstellen, was für eine schöne Figur Mathilde hatte; wie eine Blume im Lenz war sie, obwohl wir im zweiten Jahr verheiratet waren — und ihr Haar konnte sie mir mehrere Male um den Hals flechten. Sie tat es auch, als ich damals von Hause wegging — um mich zu halten, du; aber das Kind lachte nur mit seinen blauen Augen. Da zog ich also in die Hafenstädte hinunter und verlegte mich aufs Taucherhandwerk; es gehören gute Lungen und ein zäher Leib dazu, die Luftpumperei und das kalte Wasser auszuhalten, und Ström verfügte über beides. Er war bestimmt keiner, der jammerte und sich alle Augenblick heraufziehen ließ, weil er Angst bekam! Manchmal ist es einem da unten auf dem Meeresgrund zumute, als wäre man von Gott und den Menschen verlassen und sollte nie mehr am Licht und am heiteren Tag Anteil haben. Dann geschieht es, dass man wie besessen an der Leine zerrt und hinauf will — nur hinauf, und die an der Pumpe oben glauben, es wäre ein Unglück geschehen. Aber Ström scherte sich den Teufel darum, denn er hatte eine hübsche Frau und ein blauäugiges kleines Kind bei sich, verstehst du — und es galt nichts weiter, als Geld für sie zu verdienen. Als dann der Hafen fertig ist, hat er auch ein nettes Sümmchen Geld in der Tasche, um es nach Hause zu schicken, denn es ist doch vereinbart, dass Mathilde das Geld verwalten soll. Und dann, du — dann..." Ström machte eine verzweifelte Gebärde und schwieg; er starrte hilflos vor sich hin.
„Was dann? Du, Ström!"
„Was dann?" Der Taucher biss in seine rissige Hand und lachte schluchzend. „Ja, sag du mir das! Kann einer erklären, wie man im Handumdrehen zwei so herrliche Geschöpfe vergisst? Da sitzen sie getreulich und warten, und Ström schuftet, dass ihm schwarz vor den Augen wird, und denkt immer nur an sie. Dann geht er die Straße hinunter und will auf dem Postamt das Geld einzahlen — ach, Satan, Satan, wie sonderbar ist das! — Nein, hier kommt Ström, mit anderthalbhundert Kronen in der Tasche!
Möchte jemand trinken? - Ström spendiert! Zum Teufel mit den Schillingen, die ganze Welt soll kommen und trinken - Ström kann wohl noch mehr Geld herbeischaffen! Und dann geht so ein Teufel aufrecht im Sonnenschein herum und traktiert die ganze weite Welt, je mehr, desto besser; wenn das Geld nur alle wird! Aber die zwei, die zu Hause sitzen und getreulich warten — und vielleicht hungern —, die hat er verschwitzt. Kann jemand gegen so was ankämpfen?
Hinterher? Ja, was war da wohl anders zu tun, als die Scham zu ersäufen und den Rausch am Leben zu erhalten, bis das Schlimmste überstanden war. Und dann aufs neue zugepackt! Ich zog von Hafen zu Hafen — überallhin, wo ich hörte, dass Taucherarbeit zu tun sei; und für Ström hatte man immer Verwendung. Er schonte nämlich nicht seine Haut, siehst du, sondern ging auf die Arbeit zu: er hatte doch für die beiden zu Hause zu schuften. Aber was nützte es denn, wenn er es nicht ertrug, Geld in der Tasche zu haben? Dann stieg ihm das Wonnegefühl zu Kopf, und er vergaß die in der Stille. Ich ging nach Jütland und tauchte auf Anteil nach Wracks; das brachte gutes Geld. Zwischendurch einmal waren wir unten an der holländischen Küste und gruben ein Kriegsschiff aus dem Sand. Je weiter weg, desto besser, siehst du — ich quälte mich ja immerzu! ,Schreib nach Hause', sagte der Vormann; er selber schmierte jede zweite Woche einen Brief an seine Frau zusammen. Aber ich habe seit meiner Kinderzeit keine Feder in den Fingern gehabt; und was soll man denn hinmalen, wenn von keinem Todesfall zu berichten ist? Kann das Papier ihnen erzählen, dass Ström immerzu an sie denkt und zusammenspart, wenn er kein Geld schickt?"
„Fahr zu ihnen nach Hause", sagte ich. „Das hier führt ja doch zu nichts."
„Mit ebenso leeren Händen heimkommen, wie ich weggegangen bin, und ansehen, wie Mathilde das Kind mit zur Gutsarbeit schleppt — nach allem, was ich ihnen versprochen habe? Nein, nein, du! — Jetzt fange ich von vorne an, denn jetzt geht es; am
Sonnabend habe ich fünfundzwanzig Kronen Überschuss; die kann ich abschicken, wenn du mir dabei helfen willst. Du sollst auch nichts Schlechtes von mir denken, denn jetzt ist es Ernst! Du hast ja Gewalt über mich!"
Mein Einfluss auf ihn reichte nicht so weit. Am Samstagabend erschien er nicht auf dem Postamt, wie es verabredet gewesen war; erst spät in der Nacht kam er nach Hause und hatte das ganze Geld durchgebracht. „Du, Schuster!" rief er schon auf der Treppe — „auf mit dir, du! Wir wollen einen Happen Brot und einen Schnaps zu uns nehmen. Oder bist du vielleicht nicht hungrig, was? Sag es nur, wenn du lieber schimpfen willst anstatt etwas zu fressen zu kriegen!"
Gewiss war ich hungrig. Ich hatte in den letzten Tagen ein bisschen zu tun gehabt und setzte alles Geld in Essen um, aber der Hunger war nicht so leicht zu vertreiben. Er hatte sich mehrere Male quer durch mich hindurch gefressen, hin und zurück, und saß mir wie kalte Luft in den Knochen. Ich habe noch immer nicht alle Hohlräume aufgefüllt, obwohl es einige Jahre her ist.
In Ströms Höhle sah es schlimm aus. Die Esswaren lagen Tag und Nacht auf dem blanken Tisch herum, zwischen Tabak, einer Barttasse und einem Gebetbuch; niemals machte er rein oder lüftete er, er warf sich aufs Bett, wie es von allen vorhergegangenen Nächten noch dastand, meist mit den Kleidern auf dem Leibe. Noch heute rieche ich den erstickenden, fettigen Dampf da drinnen — von Schlafstubendünsten, saurem Schweiß und billigen Esswaren; aber wie ich fraß! Und Ström stand dabei und schwankte hin und her und ermunterte mich unter albernem Gelächter; in seinem benebelten Zustand verfolgte er energisch den Gedanken, dass mir der Mund gestopft werden müsse. Er fürchtete wie ein Kind, ausgezankt zu werden.
Es wurde eine traurige Zeit, als sein Rausch vorüber war. Ström trank nicht, klammerte sich aber desto fester an mich; Abende und halbe Nächte lang mühte ich mich mit ihm, die Selbstanklagen wegen der jungen Frau und des Säuglings zu übertäuben. Wir wälzten die Sache hin und her, ohne weiterzukommen. Ström
hatte das Gefühl für die Zeitabstände seines Lebenslaufs verloren, und das hatte wohl auch auf mich Einfluss geübt. Als ich aber eines Abends, von dem ständigen Dreschen leeren Strohs erschöpft, dasaß, erkannte ich dessen Sinnlosigkeit; merkwürdig genug, dass mir nicht früher aufgefallen war, wie in seinem elenden Dasein die Zeit stille stand.
„Deine Tochter muss doch nun bald erwachsen sein; sie leidet gewiss keine Not", sagte ich bestimmt. „Du wirst es sehen. Vielleicht hat sie schon einen Liebsten."
Ström hob den Kopf und sah mich blöde an, er starrte unablässig. Der Ausdruck seines Auges wandelte sich, es kam Kraft in seinen Blick, und plötzlich verlöschte er wieder — wie bei einem Sterbenden. Dann schaffte Ström sich Luft in einem unheimlichen Gelächter: „Ach, du Teufel; du bist gut, Ström! Zwanzig Jahre hast du verschludert — weshalb machst du dir noch Gedanken? Das war ein Rausch, der es in sich hatte! Sollst du nun aus dem Berg heraustreten, du, und entdecken, dass deine Tochter silbergraues Haar hat? — Du musst mich entschuldigen, du Kinderarsch von Schuster, aber jetzt trinkt Ström einen Schnaps! Und dann wird er sich schlafen legen und von seinem kleinen Mädchen mit den blauen Augen träumen. Sie müsste erwachsen sein, sagst du? Ja, gewiss, einundzwanzig ist sie inzwischen. Na, schiete, sie soll das Geld doch kriegen — am Sonnabend, du! Sie wird wohl immer einige Schillinge für ihren Staat gebrauchen können. — Und das Weib — jesses, wie alt die geworden ist! Ob sie mir den Kopf abreißen wird, wenn ich nach Hause komme — was meinst du?"
Ström legte den Kopf auf den Arm und brach in hilfloses Schluchzen aus. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und wollte ihm gut zureden, aber er stieß mich mit der geballten Faust in die Seite: „Hau ab, du Teufel; willst du etwa Buße predigen?"
Von diesem Tage an war Ström ein anderer. Er schlug sich nicht mehr mit der Finsternis herum, sondern ging wie jeder andere werktagsmäßig zu und von seiner Arbeit. Er war auch nicht mehr so eifrig bei der Arbeit, sondern vermochte sich sehr wohl einen blauen Montag zu leisten, wenn ich ihm einen Ausflug vorschlug. „Warum soll man sich das Leben sauer machen?" sagte er. Wir haben unsere Nahrung bestimmt ebenso gut wie früher, die beiden und ich." Er war immer noch von Unruhe beherrscht, von einem Drang, in allen Einzelheiten festzustellen, dass es sich mit den beiden wirklich so verhielte. Er war des seltsamen langen Kampfes seiner Jugendzeit um der jungen Frau und des kleinen Kindes willen müde geworden und fürchtete, dass alles noch einmal wiederkehren würde. Gemeinsam besprachen wir alle Veränderungen, die mit den beiden in Smaaland drüben vorgegangen sein mussten. Nur eines fiel ihm niemals ein: dass sie tot sein könnten.
Sobald das Eis bräche, wollte er zu ihnen heimreisen. „Ich bin ein toller Esel gewesen, du", sagte er; „da bin ich herumgelaufen und habe über Dinge geflennt, die gar nicht waren. Es wird sich wohl auch zu Hause leben lassen, ohne dass man verhungert! — Wenn mir das Weibsbild nur nicht den Kopf abreißt!"
Ich fürchtete, dass er zu allzu großen Veränderungen heimkehren würde — sie konnten ja gestorben sein — und überredete ihn dazu, am Sonnabend einiges Geld abzusenden; er sah nicht recht ein, welchen Zweck das hätte. „Zum Teufel, sie sind doch bisher ohne mich fertig geworden", meinte er. Trotzdem schimmerte eine seltsam stille Freude über ihm, als diese Sache erledigt war. „Nein, dass es nicht beschwerlicher war, Ström!" murmelte er auf dem Wege vom Postamt nach Hause und pfiff leise vor sich hin. Es war eine etwas späte — und etwas armselige — Lösung seines Lebensproblems, aber ihn beschien auch weiterhin der Schimmer eines stillen inneren Glücks.
„Mathilde ist also fünfundvierzig jetzt", konnteer einem plötzlich mitteilen und dabei in Nachdenken versinken. „Ich möchte wohl wissen, ob sie sich auch ihr schönes Haar ausgekämmt hat." Sonst hatte er keine Sorgen.
In der Woche drauf empfing er einen Brief von den beiden. „Hier sollst du mal hören, du", sagte er stolz.
„Du bist uns gegenüber treulos gewesen, und wir haben uns Jahr für Jahr gefragt, was für ein Schwein du gewesen bist. Ich bin auch mager geworden, aber wessen Schuld ist es außer deiner, der du mich im Lenz meiner Jugend sitzenließest, anstatt zu Hause zu bleiben und mich in deinen Händen zu halten. Im übrigen haben wir uns mit Gottes Hilfe ohne dich ernährt; willst du aber nach Hause kommen und anständig sein, so ist auch für dich hier noch Platz. Deine Tochter hat ein Kind gekriegt, ich habe ihre Ehre nicht behüten können. —"
„Die hat Haare auf den Zähnen, was?" sagte Ström vergnügt. „Sie schreibt wie ein Pastor, und wahr ist es Wort für Wort. Und das Kind, du — kann man glauben, dass es ein Mädchen mit blauen Augen ist? Ich werde für das Kleine tüchtig Geld verdienen — noch steckt Kraft in Ström. Jetzt will ich bestimmt heim; zum Teufel mit der großen Welt, die wirbelt einen bloß herum. — Du solltest auch aufbrechen, es bekommt dir nicht, dich hier so herumzutreiben."
„Ich reise auch bald — mir fehlt bloß das Geld."
„Geld? Sieh her, du!" Ström zog einen Zehnkronenschein hervor.
„Nein, den sollst du für die zu Hause aufheben, Ström." „Die zu Hause — ach richtig, du! Verflucht, so ein kurzes Gedächtnis!"
Und dann reiste Ström mit dem Dampfer ab.
1908
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