ANN-MARIS REISE
Eines Winterabends spät erreichte ich einen kleinen Bahnhof in Westjütland, wo ich den Nachtzug nach Kopenhagen nehmen wollte, um von da aus weiter in den Süden zu fahren. Es war ungemütliches Wetter, Glatteis und eine Stockfinsternis. Im Wartesaal war es gleichfalls dunkel, die Hängelampe war zur kleinsten Flamme heruntergeschraubt worden — wahrscheinlich der Sparsamkeit wegen. Aber warm war es dort.
In der Ecke mit dem rostigen Ofen hatte sich eine kleine Bauernfamilie niedergelassen: Mann, Frau und ein siebzehn-, achtzehnjähriger Bursche. Es waren kleine, untersetzte Menschen, wie sie auf den mageren Böden zwischen den Sandhügeln gedeihen, wo die Verhältnisse keinerlei überflüssiges Gepäck gestatten. Der Ausdruck ihrer Gesichter war hart und entschlossen, ihre knorrigen Gestalten hatten ein gewisses zwergenhaftes Gepräge — als ob innerhalb eines zu kleinen Raumumfangs eine große Menge zusammengepackt worden sei.
Die Frau hatte sich in die Ecke zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen und einen scharfen Zug wie von gewaltsam unterdrücktem Schmerz um den Mund; ihr Gesicht war leichengelb. Die Männer saßen vornüber gebeugt rechts und links neben ihr, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Sie blickten scheu auf, als ich hereinkam, rührten sich aber nicht; dann begannen sie miteinander zu flüstern. Die ganze Gruppe machte einen merkwürdig niedergeschlagenen Eindruck, als hätten sie eine schwere Bürde zu tragen.
Ich ging in dem Wartesaal hin und her, zum Fahrkartenschalter hinüber, der noch dunkel war, und in die gegenüberliegende Ecke. Die beiden Männer flüsterten miteinander, über die steifen, gespreizten Knie der Frau hinweg, und sahen verstohlen zu mir her. Schließlich stand der ältere auf und trat zögernd auf mich zu.
„Mit Verlaub, fährst du nach Kopenhagen?" fragte er leise mit gespanntem Gesicht. Ja, allerdings.
Sein bekümmertes Gesicht belebte sich: „Das trifft sich großartig, dann kannst du ja unsere Mutter mitnehmen; sie muss in die Klinik." Er sprach gedämpft — wahrscheinlich, um die Schlafende nicht aufzuwecken —, aber ich hörte die Erleichterung aus seiner Stimme. Dann nickte er dem Sohne zu, dass er herüberkäme.
„Du, Hans, der gute Mann hier fährt nach der Hauptstadt und will sich um Mutter kümmern. Über diesen Berg sind wir also hinweg." Er atmete förmlich auf bei der Mitteilung. Dass ich es ablehnen könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn; ich fuhr doch denselben Weg wie die Frau — damit war die Sache klar! Ich erkannte ihn an diesem Zug; man muss gegen übermächtige Verhältnisse hart angekämpft haben, um es als eine Selbstverständlichkeit hinzunehmen, dass einer dem anderen hilft, wo er kann.
Sie waren Kleinbauern aus der Heidegegend um Vorbasse herum, wahrscheinlich von einem dieser armseligen kleinen Anwesen, die in endloser Plackerei der Heide abgerungen worden sind und wieder der Heide anheim fallen, sobald die Hände für einen Augenblick müde herabsinken. Ja, ich kannte sie gut, diese Menschenwesen, die über nichts weiter verfügten als über die bloßen Fäuste und eine unerschöpfliche Selbstaufopferung und deshalb in die Ödnis hinausgejagt wurden, um zum Besten künftiger Gutsbesitzer den Sand in Ackerkrume zu verwandeln. Sie waren ganz unglücklich, ein paar Meilen von ihrem Heim entfernt zu sein, so sehr waren ihnen die tausend Pflichten ins Blut gegangen. Krankheit konnten sie ertragen, wenn sie sie zu Hause abmachen konnten; eine Reise nach Kopenhagen aber türmte sich für sie zu einem verhängnisvollen Schicksal auf, das die Früchte jahrelanger Sparsamkeit zu vernichten drohte. Diese Reise hatten sie in ihren Gehirnen mehrere Male hin- und hergewälzt - ihre Gesichter waren davon starr geworden, ihre Münder bekümmert. Jetzt ergoss sich ein schwacher Glanz der Erleichterung über die jahrelange Sorge, denn hier war ihnen doch ein Teil wenigstens abgenommen. Nun würde Mutter die Reise machen, ohne dass dabei allzu viel in die Brüche ginge.
Übrigens musste es ernst mit ihr stehen, wenn sie sich zu etwas so Ungewöhnlichem entschlossen, wie einen Arzt in der Hauptstadt aufzusuchen. Ich fragte danach.
„Es ist Krebs", antwortete der Sohn, „sie soll in der Hauptstadt operiert werden. Der Doktor hat sie schon seit mehreren Jahren hinschicken wollen, aber sie hat sich bis eben heute widersetzt. Es geht ihr sehr schlecht, wir hätten sie für die Zeit, die ihr noch vergönnt sein mag, gern bei uns behalten; aber nun hat sie Mut gekriegt, den letzten Ausweg zu versuchen." Seine Stimme verdickte sich und schwand dahin.
„Wir haben ja niemand weiter als uns selbst, wir drei — und wir haben uns immer gut vertragen", sagte der Vater, als wollte er die Bewegung des Sohnes entschuldigen.
Inzwischen war die Frau wach geworden, und ich ging hinüber und begrüßte sie. „Hier haben wir einen feinen Kavalier für dich gefunden, Ann-Mari — er will dich nach der Hauptstadt begleiten", sagte der Mann scherzend, indem er ihr behilflich war; „sei ein bisschen freundlich zu ihm. — Es ist Mutters erste Reise", sagte er, zu mir gewendet; „da ist sie ja ein wenig gespannt darauf!"
Sie lächelte mir zu, sagte aber nichts. Ihre Augen waren märchenhaft lebendig, im übrigen aber sah sie mitgenommen aus. Die Krankheit hatte jahrelang Zeit gehabt, sie auszuhöhlen.
Im Fahrkartenschalter wurde Licht gemacht, und ich ging hin, um mir die Fahrkarte zu kaufen. Aber der Mann kam rasch hinter mir her und grub dabei in seiner einen Westentasche. „Vielleicht kannst du diese hier übernehmen", sagte er und hielt mir eine Fahrkarte dritter Klasse hin; „das ist die Fahrkarte, die wir für Hans gelöst haben. Sie hat uns fünf Kronen dreißig
gekostet, wie du selber sehen kannst, aber du brauchst mir nur runde fünf Kronen dafür zu geben. Und dann kriegst du Mutters Karte obendrein!" fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.
Ich wunderte mich, dass sie schon Fahrkarten besaßen, aber die Erklärung dafür war recht einfach. Sie waren gleich nach dem Mittagsschläfchen von zu Hause weggefahren, um rechtzeitig zur Stelle zu sein — einen Fahrplan hatten sie ja nicht, sondern mussten eben darauf vertrauen, dass es mit dem Zug schon klappen würde. Tatsächlich kam auch ein Zug an, er fuhr aber in der falschen Richtung. „Da haben wir denn die Fahrkarten gekauft, um das hinter uns zu haben!"
Mich fror bei der Vorstellung, dass die alte Frau sechs, sieben Stunden hier im Wartesaal zugebracht hatte und nun die Nacht mit einer Reise dritter Klasse verbringen sollte, sie selbst aber schien die Umstände ganz bequem zu finden. Sie war ausgeruht und wartete ungeduldig wie ein Kind, dass der Zug, der ein wenig Verspätung hatte, käme; bei jedem Geräusch erhob sie sich und griff nach ihren Sachen. Es lag etwas Überspanntes in ihrem Wesen, das zu der ernsten Bäuerin, als die sie von außen erschien, in merkwürdigem Gegensatz stand. War es das bevorstehende neue Erlebnis, was sie so erregte? Sie hatte keine Ruhe.
Die Männer hatten wie auf Verabredung alles Bedrückende beiseite geschoben und scherzten mit ihr, als wenn sie auf Vergnügungsreise ginge und sie sie halb und halb beneideten. Bis wir im Zuge saßen, da konnten sie nicht mehr.
„Pass nun auf, dass du es gut überstehst und wieder zu uns nach Hause kommst, Mutter", sagte der Mann und reichte ihr eine zitternde Hand.
Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände und sah ihn lächelnd an. „Ja, da fahre ich nun allein in die Hauptstadt", sagte sie. „Du hast mir diese Lustreise versprochen, seit wir jung waren, und jetzt fahre ich allein — denn sonst würde es nie was werden!" Vielleicht fiel ihr plötzlich der Zweck der Reise ein, denn über ihr Gesicht zog ein grauer Schatten. Eine Weile saß sie mit
geschlossenen Augen da und drückte krampfhaft die Hand ihr Mannes. „Jetzt macht, dass ihr nach Hause kommt, damit dort nichts passiert", sagte sie mit eins und ließ seine Hand los. „Und du, Hans, du wirst doch wohl deiner Mutter einen Kuss geben!"
Hans schob Mutters Esskorb und ein Kissen auf die Bank und beugte sich geniert über sie. „Das will ich dir sagen", hörte ich sie flüstern, als sie ihn küsste, „wenn zwischen dir und dem Mädchen etwas ist, musst du sie heiraten."
Dann fuhr der Zug mit uns ab.
Ich meinte, dass die kranke Frau Bedürfnis nach Ruhe habe und machte ihr aus meiner Reisedecke und meinem Kopfkissen auf der Bank ein Lager zurecht, aber sie lehnte es ab, sich hinzulegen — vielleicht wagte sie es nicht. Sie saß stocksteif auf ihrem Platze, ohne sich anzulehnen, und machte alle Schwankungen des Wagens mit. „O je, o je, wie wir fliegen!" rief sie alle Augenblicke und hob sich halb von der Bank. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Da legte ich Decke und Kissen in die Ecke des Abteils und zwang sie beinahe mit Gewalt, sich zurückzulehnen.
„Ja, bei mir muss man auftrumpfen", sagte sie kindlich, als sie zu den Wagenwänden Vertrauen gefasst hatte, „ich bin nämlich ein Hartkopf. Vater und Hans sind viel zu gut zu mir; als sie mich damals fortschicken wollten, wollte ich nicht; und jetzt, wo sie mich zu Hause behalten wollten, musste ich partout reisen. Ich will dir was sagen, ich glaube nicht an diese Operation — nicht für einen Pfifferling. Aber ich wollte mir jetzt Kopenhagen ansehen, ehe es zu spät ist. Wie weit ist es wohl bis dahin?"
„Ach — an die vierzig Meilen."
So was, so was! Und alles in einer Nacht! Und die Häuser in Kopenhagen — stimmt es, dass sie viel höher sind als die Kirche in Laeborg und dass man jetzt angefangen hat, die Leute darin hinaufzuheißen? Und die beiden Gewässer, über die man muss, wenn man in die Hauptstadt wollte — wären die schlimm? Und die Insel Fünen und Seeland — ob man die wohl bei Tage zu sehen bekäme?
Sie hatte sich in die Ecke zurückgelehnt und lauschte meinen Antworten. Der Rausch des Erlebens ließ ihre Augen leuchten und hatte über ihre buchengelben Wangen Röte ausgegossen. Wenn ich schwieg, sah sie mich aus fragenden runden Augen an, die das Wunder, das wahrhafte Wunder von mir verlangten. Ab und zu flog ein Schatten über ihr Gesicht und tauchte alles in Grau; dann presste sie den Arm fest gegen den Unterleib und saß wie versteinert da, während ihr der Schweiß auf die Stirne trat. Aber bald darnach lächelte sie wieder und wollte nichts davon hören, dass sie krank sei. „Es ist bloß eine Schande, dass du das mit ansehen musst — als Dank dafür, dass du so für mich sorgst", sagte sie mit einem rührenden Lächeln, das verriet, wie hübsch die alte Frau einst gewesen war.
Sie war noch nie mit dem Zuge gefahren, es war noch nie Gelegenheit dazu gewesen. Seitdem sie sich als junges Mädchen verheiratet hatte, war ihr Leben ein Kampf in der Wildnis an der Seite des Mannes gewesen. Die Sommer hindurch hatte sie in dem kalten Moorwasser gestanden und Torf gegraben, hatte wie unsinnig mitgeschuftet, damit sie auf dem wüsten Boden nicht zugrunde gingen, und hatte jedes Jahr ein Kind geboren. Der Herrgott musste sich der Kinder annehmen, nicht einmal um über sie zu weinen war Zeit gewesen. Nach und nach war es ein wenig besser geworden, und Hans, der letzte, blieb am Leben, wenn er auch ein bisschen kränkelte. Sieben lagen auf dem Friedhof, aber ihn hatten sie als Stütze behalten. Zwei isländische Pferde hatten sie auf dem Hof und fünf Stück Vieh. Dreißig Tonnen (Anm.:Etwa 15 Hektar. Die Red.) Heideland waren im Lauf der Jahre unter den Pflug gekommen, und jetzt waren sie so weit, dass sie bei großer Umsicht gerade hinkamen. Von der Landwirtschaftsgesellschaft hatten sie für musterhafte Bodennutzung eine Prämie bekommen, die Zeitungen hatten von ihnen geschrieben und sie Eroberer neuen Bodens genannt — ob ich es denn nicht gelesen hätte?
Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich das nicht getan hätte. „Und jetzt gehen Sie auch noch auf Reisen", sagte ich.
„Ja, und ich arbeite nicht - ich darf nicht den kleinsten Finger rühren!" sagte sie und feierte ihren armseligen Triumph, indem sie sich nach hinten lehnte und unter der eingesunkenen Brust die Arme kreuzte. „Der Doktor hat gesagt, sie müssten gut auf mich Acht geben, sonst könnte es leicht passieren, dass ich ihnen wegbliebe. Sie sollen mir nicht mal widersprechen, sondern mir in allen Dingen meinen Willen lassen. Ich kann auch nur leichte Kost vertragen!" Sie lächelte mich an: begeistert, dass sie denn doch auf die Sonnenseite gekommen war. Das Leben war über ihr Kindergemüt hinweggegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, und hatte sich als tiefer Todesschatten unter ihren brennenden Augen eingegraben.
Ich hätte sie beinahe gar nicht auf die Fähre bekommen; sie hängte sich krampfhaft an meinen Arm und wollte den Fuß nicht auf die Schiffsplanken setzen. „Es bewegt sich unter mir", wiederholte sie jammernd und fuhr bei jedem Laut der Maschine entsetzt zusammen.
Erst als wir von neuem im Zuge saßen, fühlte sie sich wieder sicher. Der Rhythmus der Fahrt hatte etwas Belebendes für sie; diese Reise hatte als eine holde Verheißung des Blutes aus der Jugendzeit hinter ihrem ganzen mühseligen Dasein gegeistert, und die sanften Luftsprünge des Zuges über die Schienenstöße erfüllten nun ihren Traum vom Fliegen. „Ich fliege, ich fliege!" Immer wieder kehrte sie zu der gleichen Redewendung zurück.
Ann-Mari flog endlich — aber allein — fort von allen beschwerlichen Anforderungen des Jahres und hinaus ins Unbekannte. Das Land Fünen huschte in der Dunkelheit an den Fenstern vorüber; der Name bekam auf ihren Lippen einen feierlichen Klang; jetzt lag das Wasser zwischen ihr und der Heimat, sie war in der Fremde! Das Land Fünen! Hier war es, wo die Erde so freigiebig war und die Frauen so weiche Hände hatten; wenn man nur einen trockenen Span in die Erde steckte, wurde ein Baum daraus. Hier pflückte man zwei Liespfund (Anm.: Etwa 16 Kilo. Die Red.) Johannisbeeren von
einem Strauch, und es wurde erzählt, dass die Frauen nichts weiter zu tun hätten, als gegen ihren Herzallerliebsten gut zu sein.
Aber Ann-Mari flog weiter, dem Zuge voraus, weg von dem Üppigen Fünen. Sie hatte schweigend, mit einem Ausdruck der Verständnislosigkeit angehört, dass ich in den Süden wollte; jetzt aber flog sie plötzlich kühn voraus. Es schmerzte mich ein wenig, dass sie so allein flog, ihre Gedanken waren nicht bei denen daheim; mit denen hatte sie sich während ihrer langen Krankheit offenbar gründlich auseinandergesetzt, hatte Abschied genommen und alles geordnet, da nicht einmal die allerkleinste Pflicht sie zurückrief.
Ihre Gedanken strebten nur hinaus, merkwürdig umherirrend nach immer lichteren Gegenden. Es schien mir, dass ihre Augen klarer und klarer glühten; bei all ihrer Lebhaftigkeit hatte ich das dumpfe Gefühl, jeden Augenblick könnte eine Katastrophe eintreten. Wir waren allein im Abteil, aber beim nächsten Halt wollte ich einen Schaffner herbeirufen, um nicht mit ihr allein zu sein, falls etwas geschähe. Im nächsten Augenblick aber verwarf ich das als töricht; in Wirklichkeit hatte ich ja gar keinen Grund, außer dass sie Krebs hatte und in die Hauptstadt fuhr, um operiert zu werden; sie hatte nicht einmal Müdigkeit gezeigt, während ich...
Ich war sehr müde und lehnte mich mit geschlossenen Augen zurück, um ein wenig Ruhe zu haben. Sie schwieg sofort, und kurz darauf spürte ich eine Hand, die mir ein Kissen unter den Nacken schob. „Du bist schläfrig", sagte sie, als ich die Augen aufschlug; „die Jugend darf auch ihre Nachtruhe nicht an ein altes Weibsbild verschwenden."
Ich erkannte an ihrem betrübten Gesicht, dass sie mit mir ihre große Reise machte und dass ich im Begriff gewesen war, sie im Stich zu lassen. Ach, sie liebte mich ja! Und seltsam genug, es stieß mich nicht ab. Sie hatte sich all die mühevollen Jahre hindurch etwas Jungfräuliches bewahrt, einen stillen Glauben an die Märchenwunder einer Reise, der aus ihren Augen leuchtete und ihr ewige Schönheit verlieh. „Wollen wir nicht die Reise in den
Süden gemeinsam machen, wir zwei?" fragte ich scherzend und fasste sie um den vom Tod gezeichneten Kopf. Und aus Furcht, der armseligen Person auch noch ihre Reise zu etwas Armseligen zu machen, erzählte ich von dem Sonnenland ohne Sorgen und stellte es noch schöner dar, als es ist — so schön, wie es einem nur in der Sehnsucht ist.
Ann-Mari lächelte, und als ich schwieg, stellte sie kindliche Fragen, die zeigten, wie grotesk sich die Fremde in ihrem Hirn gestaltete. „Es muss schön sein, so nach unbekannten Stranden auszuziehen", sagte sie schließlich mit einer volkstümlichen schönen Redewendung. „Wenn ich jung wäre — ja, da wäre ich mit dir gefahren. Und ich hätte dir bestimmt Freude geschenkt. — Aber deshalb brauchst du nicht traurig zu sein, denn jung und rot leidet keine Not — es gibt weiche Hände genug, die in weichem Haar spielen wollen."
Es war, als ob sie in ihrer Herzensreinheit die eigenen peinlichen Spuren verwischen und mich mit der Liebe der Jugend als Schmuck an diese zurücksenden wollte. „Ich glaube, am anderen Ende der Reise erwartet dich etwas Schönes — als Dank dafür, dass du ein altes Weib auf ihrem letzten Stück Weg begleitet hast!" sagte sie und sah mich auf einmal schalkhaft an, so schalkhaft, wie es ein Gesicht nur dann fertig bringt, wenn die Erschlaffung der Haut die Erfahrung des Todes darüber gebreitet hat. Die tiefen Furchen auf ihren Wangen vertieften sich, als wollten sie auch das Spiel mitmachen — sie waren einmal sanfte Lachgrübchen gewesen.
Dann fiel sie schließlich doch zusammen. Wir waren im großen Ganzen mit gutem Ertrag durch die Finsternis gereist; das Unbekannte hatte sich für sie mit Spannung erfüllt. Jetzt, da weit draußen über den Türmen der Hauptstadt die Sonne aufging, lag sie mit geschlossenen Augen still da und besaß keine Kraft, die Wirklichkeit in Besitz zu nehmen. Es war, als ob das Licht des Tages die Verzauberung löste. Man musste sie hinaustragen in den Wagen, der sie in die Klinik führen sollte, und sie erkannte mich nicht mehr.
Sie gelangte nicht auf den Operationstisch, sondern setzte ihre Reise weiter fort, tief ins Unbekannte, wie sie ging und stand. Es wunderte mich nicht, als ich in der Zeitung eine Notiz darüber las. Sie hatte sich viele Jahre auf diese Reise gefreut, und wenn sie weiter so verlief, wie sie begonnen hatte, dann macht es nicht sehr viel aus, dass es ihre einzige war.
1909
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