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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DIE SCHWARZEN VÖGEL

Der alte Liebenz, Schwarzwaldbauer, war unsolide geworden!
Er saß mit einem etwas säuerlichen Zug um den Mund auf dem Mitteldeck des Bodenseedampfers und tat, als ob er die Zeitung läse. Alle Reisenden kauften Zeitungen, das war die einzige sichere Erfahrung, die er auf dem Ausflug gemacht hatte; die Zeitungen quollen ihnen förmlich aus den Ulstertaschen heraus. Und der alte Liebenz war gleichfalls ein Reisender, Tourist durfte man wohl beinahe sagen; er hatte nichts dagegen, es auch andere wissen zu lassen. Die Zeitung hatte ihm auf der ganzen Fahrt so prächtig aus der Manteltasche gehangen, dass sie deswegen schon die zehn Pfennige wert war, die sie gekostet hatte — selbst wenn man sie nicht las! Es war auch gar nicht, weil er auf seine Rechnung kommen wollte, dass er jetzt dasaß und in sie hineinstarrte, sondern eher, weil er etwas in sich betäuben wollte, ein merkwürdiges Gefühl, das sich ihm im Zwerchfell regte. Ehrlich gesagt: es drehte sich da drinnen, als ob man ein Kalb kriegen sollte!
Es ist misslich, allein auf der Welt zu sein; der alte Liebenz hatte das erkannt, und deshalb schaukelte er nun hier herum. Sein Leben lang hatte er auf seinen Äckern oben an den Hängen des Schwarzwaldes die weitgedehnte Fläche des Bodensees mit dem Riesen Säntis dahinter vor Augen gehabt. Manchmal, wenn es dem Wetter so passte, traten auch die anderen Berge hervor: die Schweizer Alpen, die norditalienischen Alpen, Vorarlberg und ganz drüben an der österreichischen Grenze die Zugspitze. Eine Kette leuchtender Zinnen über gewaltigen Bergmassen, die der Welt eine geheimnisvoll erregende Grenze setzten und den Gedanken zu tun gaben- und sich plötzlich in Alpenglühen oder Irrsinnsdunkel auflösten. Der Säntis war allerdings immer da, außer
die Welt in Nebel versank. Als ein Turm Gottes stand er da und zeigte an, was für ein Gesicht der Herrgott morgen machen würde - damit seine Gemütsstimmung den Bauern nicht ganz und gar über den Hals käme. Säntis, der einsame Riese, wusste Bescheid über kommende Dinge, über Regen und Sonnenschein und verheerendes Ungewitter; er schien in alle Launen des Herrgottes eingeweiht zu sein und fürchtete sich nicht, sie preiszugeben.
In so gewaltigem Rahmen lag der Bodensee tief unten im Lande. Sein Leben lang hatte ihn der alte Liebenz vor Augen gehabt; er war ihm eine Anspannung des Gemüts gewesen, eine Verheißung und ein Schrecken. Und jetzt hatte er sich in einem Anfall von Verzweiflung herausgewagt und schaukelte nun auf dem See herum - zum ersten Male!
Es war ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, auf etwas so Unsolidem und Treulosem wie dem Wasser auf und ab zu wiegen und einem hohlen Eisengebilde, das allen Naturgesetzen zum Trotz auf den Wellen zu schwimmen vermochte, Leib und Leben anzuvertrauen! Darauf hätte er sich in früheren Zeiten bestimmt nicht eingelassen, aber es war geradezu, als ob für ihn das Leben seinen Wert verloren hätte. Er empfand keine rechte Freude mehr, weder am Bett noch am geräucherten Speck - es fehlte wohl die Sünde dabei! So jedenfalls fasste es der Pfarrer auf. „Du solltest zur Beichte kommen, Liebenz", sagte er stets, „dann würdest du schon wieder froh werden." - Ja, danke! Wenn er nur etwas zu beichten gehabt hätte! Etwas Handfestes, etwas, was dem Leben Schwung gegeben hätte - wie in der Jugendzeit!
So war es gekommen, dass er in seiner Pfeif-aufs-Ganze-Stimmung alles auf eine Karte setzte, dem treulosen Element Leben und Gesundheit anvertraute, das Schicksal herausforderte sozusagen. Er hatte den Bodensee der ganzen Länge nach befahren — und auf ausländischem Boden übernachtet! In Bregenz hatte er die Madonna besucht und war vor ihr hingekniet - ebenso vor der in Arbon auf der Schweizer Seite, die sich jedes Mal, wenn er zugefroren ist, über den Bodensee tragen lässt. Da dies nicht allzu häufig vorkommt, muss sie das eine Jahrhundert in Deutschland, das nächste in der Schweiz verbringen.
Wie viel er erlebt hatte! Und trotzdem war ihm noch nichts Gescheites passiert!
Aber was bedeuteten denn auch seine Erlebnisse gegenüber denen der Söhne, die jahrelang im fremden Land herumgelegen und Krieg geführt hatten und sogar über die feindlichen Linien waren! Ihnen war nun wieder ein bisschen zu viel passiert — sie waren an der Front geblieben. Das Weltengewitter hatte sie aufgesaugt und bei sich behalten; eine Uhr und ein Schlüsselbund waren alles, was von ihnen übrig geblieben war. Das hatte ihnen die Heeresleitung geschickt, zusammen mit einem rührenden Schreiben über ihre Tapferkeit und ihre Treue zum Vaterland.
Der alte Liebenz hatte allerdings gemeint, wenn ihm das Vaterland seine beiden prächtigen Söhne nähme, könnte es diesen Püttjerkram auch noch behalten. Mutter Liebenz hingegen sah es anders an; sie weinte von früh bis spät über den Kleinigkeiten und hatte sie nachts bei sich im Bett. So sind sie ja nun einmal, die Weibsleute, sie müssen immer etwas haben, was sie in die Hand nehmen und mit ihren Tränen befühlen können! Sie konnte über die Geschichte mit ihren beiden großen Jungen, die in fremder Erde ruhen mussten, durchaus nicht hinwegkommen und verlangte nach nichts anderem, als über den Reliquien zu hocken, wollte weder arbeiten noch Nahrung zu sich nehmen. Liebenz hatte den Eindruck, dass sie nur noch nach den Soldatengräbern an der Somme Sehnsucht hatte, und eines Tages trug man sie denn auch mit den Füßen voran aus dem Hause hinaus. Nun, das war zu ertragen! Jener, der so eifrig hinter denen her gewesen war, die ihm als Trost und Stütze seiner alten Tage anvertraut waren, mochte die Mutter dreist auch noch nehmen. Es war lange her, dass sie einem trostbedürftigen Gemüt Wärme gespendet hatte, und eifersüchtig war sie gewesen wie das wahre Unglück -bis ganz zum Schluss. Vielleicht hatte gerade dies ihre Kräfte aufgezehrt, denn eine tüchtige Arbeiterin war sie nie gewesen. Er hatte sich seine Suppe oft genug selber kochen müssen, auch zu der Zeit, wo sie noch hier auf Erden weilte. Der Verlust war also zu ertragen!
Dies war überhaupt sein Trost geworden: wenn das eine in die Binsen ging, mochte das andere ruhig denselben Weg gehen - bis es ihm eines Tages einfiel, dass es ein verzweifelter Trost wäre; 'e mehr man hatte abgeben müssen, desto weniger konnte man doch entbehren! Der Alte entdeckte plötzlich, dass er mutterseelenallein in der Welt stand; er ging herum und entbehrte etwas, ohne doch recht zu wissen, was er entbehrte. Und dies Gefühl der Entbehrung hatte ihn schließlich auf diesen unsoliden, schwankenden Boden getrieben. Er musste ausprobieren, wie es war, der Unsicherheit mit ihrer Entscheidungsmöglichkeit so oder so ausgeliefert zu sein. Draußen im Unbekannten wartete vielleicht etwas auf ihn — auf die eine oder andere Weise!
Er saß auf dem Mitteldeck und döste über seiner Zeitung, ermüdet von den vielen Eindrücken und innerlich schlecht zumute von der schwankenden Unsicherheit und dem Öldunst der Maschine. Mit einem plötzlichen Rudi lebte er auf, erwachte zu fast übernatürlichem Bewusstsein. Er spürte einen heißen Atem auf seinem Hals, es kitzelte ihn in den Nackenhaaren und durchfuhr ihn bis ganz hinunter in die große Zehe voll holdseliger Erinnerung an weit zurückliegende Jugendtage, da man über einen Anhauch so in Wonne geriet, dass es einem geradezu in den Haarwurzeln kribbelte.
Der alte Liebenz drehte nicht den Kopf, kroch vielmehr in sich zusammen. Aber er wusste trotzdem, dass jemand seine Zeitung mitlas! Und eine junge Frau war es, denn ihr Atem umschmeichelte ihn! Er hüllte ihn ein — wie der Frühjahrsduft der Apfelblüten auf den grünen Hängen des Schwarzwaldes.
Als sie nun merkte, dass sie entdeckt worden war, steckte sie das Gesicht ganz über seine Schulter herein und zeigte mit dem Finger eifrig auf eine kleingedruckte Notiz in der Zeitung - eine Mitteilung über vier junge Frauen, die in einem See in der Umgebung Berlins gemeinsam den Tod gesucht hatten. Das Motiv wäre unbekannt, und die Tat um so unbegreiflicher, als alle vier in guter Stellung gewesen seien, schrieb die Zeitung. Man müsste den Vorfall wahrscheinlich als Niederschlag einer Seuche auffassen, einer Selbstmordepidemie, die gerade jetzt im Lande grassiere und ihre Opfer vorzugsweise unter jungen Frauen suche.
Der alte Liebenz drehte den Kopf und sah der fremden Frau unsicher in die Augen; es war ganz merkwürdig, wieder einmal einem jungen Frauenantlitz so nahe zu sein, dass man seine Wärmeausstrahlung gleich Tau auf den Augenlidern spürte!
„Ja, das ist doch sonderbar — sich einfach so das Leben zu nehmen — in so jungen Jahren", sagte er langsam. „Ganz merkwürdig ist das — ja, das ist es wahrhaftig", wiederholte er, als wäre er nicht richtig im Bilde. „Es kann doch auch so was wie Liebeskummer gewesen sein?" sagte er endlich, voll aufgewacht.
Die junge Frau lehnte die Wange an seine Schulter, so war sie von der Notiz gepackt! Sie nickte nachdenklich.
„Es gibt viele, denen es ebenso geht: dass wir uns das, was uns zukommt, auf den Friedhöfen der Schlachtfelder im Ausland suchen müssen. Sie haben sicher zu ihren Bräutigamen gewollt, die da!" Sie sah vor sich hin, erbittert und vergrämt.
„Ist er vielleicht gefallen?" fragte der alte Liebenz und sah ihr teilnehmend gerade ins Gesicht.
Sie lachte hart: „Ja, das ist er wohl — ich habe ihn jedenfalls nie gefunden."
„Ach, so ist das zu verstehen! Ich glaubte wirklich, du wärest verlobt oder vielleicht verheiratet gewesen, und dass er dann..." Er tastete sich vor, um nicht ein Wort zu gebrauchen, das unnötigerweise Wunden aufrisse.
Die junge Frau lachte ausgelassen in die Luft hinein: „Sehe ich so alt aus? Nein, ich gehöre nicht zu denen, die erst tödliche Angst hatten, er könnte auf dem Schlachtfeld bleiben, und sich später grauten bei dem Gedanken, er könnte wiederkommen. Ich war damals erst Kind - dem Gemüte nach jedenfalls. Und als ich erwachte und auch wissen wollte, wie es ist, im Traum umherzugehen und in einen anderen vernarrt zu sein, da ging es
mir wie diesen vieren und wie uns allen — es war keiner da für
Herold: ein berühmter dänischer Opernsänger. „Na, der eine oder andere ist wohl immer zu haben — wenn man nicht allzu wählerisch ist, heißt das." Der alte Liebenz sah sie verlegen an.
Nein, ist es nicht! Wir sind drei Millionen meines Alters, die keinen anderen Ausweg haben, als sich ihren Liebsten im Niemandsland zu suchen — so wie die da!" Sie stieß an die Zeitung. Man nennt uns die geborenen Witwen; weißt du das gar nicht?"
Doch, an und für sich wusste das Liebenz wohl. „Aber man hat sich nie vorgestellt, dass es so schlimm damit wäre. Bei uns oben im Schwarzwald wohnen nicht so viele Menschen; da verteilt sich das Leid, ein wenig diesem und ein wenig dem anderen, wohin es gerade trifft. Ja, einem selbst ist übrigens noch nichts über den Hals gekommen!" Er schlug ein Galgengelächter auf. Dann saß er eine Weile und überlegte. „Es muss schlimm genug sein, sich seinen Herzallerliebsten unter Soldatengräbern suchen zu müssen. Sie sollen sich nicht gut auseinander halten lassen, wird gesagt."
„Das wollen wir auch gar nicht mehr, du! Wir haben ja den Krieg nicht erfunden."
„Na, und was wollt ihr also tun?" Der alte Liebenz sah sie freundlich an, er hatte in diesem Augenblick mehr Mitleid mit ihr als mit sich selber. Sie war mager und von grauer Haut, als ob sie von innen her nicht genug Wärme bekäme, aber sie sah keck und entschlossen, desperat beinahe drein.
„Was wir wollen?" Sie lachte unnatürlich laut und grell. „Ja, wenn du das wüsstest, Alter, säßest du nicht so ruhig hier auf der Bank! Wir wollen das Recht haben, unsere ehrliche christliche Haut abzutun und uns selber unser Recht zu nehmen — die Lebenden für die Toten entgelten lassen. Wir lehnen es ab, jung zu sterben — und wollen ebenso wenig geborene Witwen sein, die ihr Ehebett auf dem Friedhof suchen müssen. Wir wollen auch nicht unfruchtbar bleiben und alte Jungfern werden. — Aufgepasst, alter Mann, jetzt brechen wir durch den Zaun!" Sie legte ihm die Hand aufs Knie und sah ihn eigentümlich an; ihr Blick verhieß nichts Gutes.
Der alte Liebenz lächelte sie unsicher an, es war nicht ausgeschlossen, dass ihm vor ihrem Blick schwindlig wurde. Aber dann lachte er laut und ausgelassen.
„Heiliges Sakrament, Herrgott noch mal! Dann wird es hoch hergehen im Lande!" rief er und fuhr sich in die Haare, dass ihm der Hut ganz auf eine Seite rutschte. Er sah geradezu jungenhaft aus.
Aber sie spürte und hörte im Augenblick nur sich selbst. Es war, als wäre etwas lange Aufgestautem plötzlich freie Bahn gegeben worden; wie wenn das Schützentor vor einem Wehr geöffnet wird, so brach es aus ihr hervor, schneller und schneller, ein ganzer Wirbel, so dass der Alte gar nicht folgen konnte: was sie gelitten hatten, sie und alle ihre Mitschwestern; ihre Wüstenwanderung durch ein Dasein, das für alle anderen reich und üppig war, für sie aber ein abgesteckter langweiliger Pfad mit auf beiden Seiten hohen Zäunen, über die man nicht hinwegsetzen durfte — um Gottes willen nicht! Sie lachte heiser. Ihre Jahrgänge lagen ja da draußen in ihren Gräbern, ein Teil von ihnen jedenfalls; und jene, die zurückgekehrt waren, ließen ihre Bräute sitzen und nahmen sich die ganz jungen, bis zu den eben Konfirmierten hin, die schamlos die Brüste rausstreckten und sich nicht genierten, sich auszustopfen, wenn es damit haperte. Aber jetzt sollte damit Schluss sein, es musste ein Ende haben!
Es war, als ob alle Schranken in ihr niederbrächen; sie dehnte sich aus — als wäre sie explodiert, so schnell —, bis sie eins ward mit den drei Millionen Sitzen gebliebenen, mit deren Gram, deren Raserei und verzweifeltem Aufruhr. Als eine ganze Horde saß sie da — oder als himmlische Heerschar vielleicht? — und überströmte alles. Der alte Liebenz wurde aus der einen Stimmung in die andere gerissen, schwang hin und her zwischen Angst und Übermut. Sie sprach ihm ins Gesicht hinein und mit einem Blick, der ihn vor Schwindelgefühl in die Tiefe fallen ließ und dann irr empor riss — bis in seine Jugendjahre hinein. Die Hand lag immer noch auf seinem Knie und goss ihm Wärme ins Herz und alle Glieder; sein ganzer Leib hatte teil daran, und Liebenz schien es, dass sich so etwa eine Verjüngung anfühlen müsste.
Ja, und nun hatten sie es endlich satt bekommen, eiferte sie ihm ins Gesicht hinein und verbrannte ihn fast mit ihrem Atem; jetzt mochte Gesetz Gesetz und Tugend Tugend sein, jetzt setzten sie über den Zaun, geradenwegs in die Ehe hinein, schlugen die wohlgedienten alten Frauen aus dem Felde oder richteten sich als Nebenfrauen ein, krochen unter und boten über und stachen auch die ganz jungen aus — kraft der angehäuften Spannung und überströmenden Lebenslust, die von ihnen ausstrahlten. „Wir sind froh und siegesgewiss, wir haben den Schicksalsspuk von uns abgeschüttelt. Zu keiner Zeit hat die Welt so etwas erlebt! Als ein riesengroßes Herz kommen wir daher und klopfen an — ein Herz von drei Millionen! Sind wir vielleicht nicht wie der liebe Gott selbst? Wir vermögen die ganze Welt zu lieben und alles Erschaffene in die Arme zu schließen — wie Er schließen wir alles darin ein!" Sie lachte übermütig.
Und Liebenz, der erledigte alte Liebenz, lachte mit. Das Dasein war plötzlich so leicht geworden, schien es ihm; es war gar keine schwierige Sache mehr, am Leben zu sein! Es war häufig mühselig genug gewesen, alt und allein zu sein; wie oft hatte er nicht die Reichen beneidet, die hinfahren und sich neue Jugend kaufen konnten — wenn es auch nur ein Affe war, der sie hergeben musste. Was schadete es denn, das Weibervolk merkte den Unterschied ja doch nicht! Aber nun war es, als hätte ihn das Leben angehaucht und die Säfte in ihm von neuem zum Steigen gebracht — gleich wie die Lenzsonne die Säfte in den Obstbäumen daheim auf den Berghängen des Schwarzwaldes zum Steigen brachte. Er war von Herzen froh, lachte aus tiefer Kehle wie eine Amsel zur Frühlingszeit und verspürte Lust, etwas ganz Verrücktes zu tun, die junge Frau zum Abendessen in Konstanz einzuladen und hinterher mit ihr ins Kino zu gehen — irgend etwas Halsbrecherisches!
Während er dasaß und überlegte, wie es sich am besten über die Stränge schlagen ließe, war sie von ihrem Feldstuhl aufgestanden; und ehe es ihm richtig klar geworden war, stand sie in Meersburg auf dem Kai und winkte und legte das Schiff schon wieder ab. Und das war ein großes Glück, denn sonst wäre der alte Liebenz auch ausgestiegen — zu Narrenstreichen aufgelegt, wie er es im Augenblicke war. Und was hätte er dann mit dem Nachbarn daheim getan, der seine paar Kühe und die Ferkel versorgte, während er fort war? Man erwartete ihn für heute Abend bestimmt zurück, und wenn er nicht rechtzeitig nach Hause kam, könnte es ihnen sehr wohl einfallen, zur Polizei zu laufen und Nachforschungen anstellen zu lassen — so übertrieben pünktlich, wie er nach dem Mund der Leute stets gewesen war!
Der alte Liebenz fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken, als er dasaß und seine Morgenmahlzeit verzehrte: Suppe mit eingebrocktem Brot. Der Napf stand mitten auf dem Tisch, noch von der Zeit her, wo sie zu mehreren um die Schüssel saßen, und eine nasse Spur führte von der Schüssel über den Tisch und die Weste hinauf bis in seinen Bart, so sehr zitterte ihm die Hand bei der Schießerei. Ärgerlich warf er den Löffel hin und stolperte hinaus. Von der Hütte aus senkte sich die Landschaft abwärts, über einen Bergrücken hinter dem anderen, über weite Wiesen und waldbedeckte Wogenkämme eins unter dem anderen hinweg, bis weit draußen im Süden der Bodensee hervorblinkte. Und hinter dem wiederum stieg das grüne Schweizer Vorland zu den schneebedeckten Alpen empor, die sich unruhig in die Föhnluft pressten, als scheuerten sie den juckenden Rücken am Himmelsblau.
Schossen etwa die da drüben? Wollten die anfangen, mit uns Krieg zu spielen - das „Hirtenvolk" da drüben? Hier war nichts zu holen — da hätten sie ein bisschen früher kommen müssen! Die Söhne waren weg, seine Söhne wie die der Nachbarn — und Mutters goldener Kopfschmuck dazu! Auch die Trauringe waren eingeschmolzen und dem Weltungeheuer in den Rachen geworfen
worden — und die Sparpfennige waren durch die Inflation draufgegangen. Hier war nichts zu holen!
Nun wurde von neuem geschossen, und zwar dermaßen, dass er geradezu in die Luft ging. Wenn geschossen wurde, war es ihm unmöglich, die Herrschaft über sich zu bewahren; es hatte sich ihm in den Nerven zu fest gesetzt!
Und dabei war es nichts weiter als Böllerschießen; er musste laut lachen, als es ihm klar wurde. Es kam aus den Dörfern rundum--ja natürlich! Es war der Gedenktag für die Gefallenen!
Jetzt ging es mit einem Male erst richtig los, auch die Kirchenglocken setzten ein. Eigentlich hätte er wohl mitmachen müssen, aber er hatte keine Lust, für seine gefallenen Söhne Schießpulver abzubrennen; die hatten sicherlich an dem, was sie bekommen hatten, genug! Und hinterher den ganzen Tag im Wirtshaus herumhocken, Most und Kirschwasser trinken und über die Söhne
plärren--und den Schluckauf kriegen! In finsterer Nacht nach
Hause torkeln und frühmorgens auf der Türschwelle aufwachen — mit pochendem Kopf und weinendem Herzen! Nein, daran war ihm nichts mehr gelegen!
„Du wirst alt, Liebenz!" sagten die anderen. Alt — ja, vielleicht. Oder war er nicht eher zu jung? Er war der Jugend begegnet, das war sicher, und gleich so, dass er sich daran verbrannt hatte. Es kam ihm noch jetzt so vor, als spüre er das Blut ganz oben in den Ohren sieden!
Oder war es die Einsamkeit, die ihm wiederum ihr verzehrendes Lied sang? Er fühlte sie in sich als eine entsetzliche Leere, die kochte und wallte — und allen Dingen das Mark aussaugte, so dass alles Leben um ihn herum tot und gleichgültig wurde. War es das Reich der Toten, was die Herrschaft über ihn gewonnen hatte? Die Söhne traten jedenfalls darin auf, Mutter Liebenz jedoch erkannte er nur am Schritt. Und das war im Übrigen ganz gut so!
Er setzte sich auf einen Baumstumpf; mit dem Blick dem Lande zugewandt, saß er gedankenverloren da. Wo hing der Nebel,
draußen über der Landschaft oder in seinem eigenen Innern? In ihm ging es um — so sonderbar, als ob die Engel Gottes zu spuken begonnen hätten. Aber auch Mutter Liebenz war dabei, er hörte deutlich ihren Tritt. Genauso war sie ein langes Leben hindurch in kaltem Brodem um ihn herum gegangen und hatte getreten und geschuftet und mit bösen Augen ihren Gifttrank gebraut!
Dem alten Liebenz wurde jetzt noch schwindlig, er spürte wieder einmal wie einen Griff ums Herz die alte Angst; niemals hatte er es geschafft, sich bei Mutter Liebenz geborgen zu fühlen. Aber sie, die zu Lebzeiten so zu zaubern verstanden hatte, dass aus herzensguten schönen Frauen Teufel und die reinsten Ungeheuer wurden, musste jetzt die Dinge am falschen Ende erwischt haben, denn der große Vogel, der lange auf der Mauer drüben am Wege gesessen und zu ihm herübergestarrt hatte — so lange, bis er überzeugt gewesen war, es wäre der böse Wiedergänger der Mutter Liebenz! —, der war auf einmal gar kein Vogel. Er war eine junge Frau mit schwarzem Tuch um Kopf und Schultern — auf ihrem Weg hinunter ins Dorf, um mitzuweinen über die gefallene junge Mannschaft. Nun saß sie dort und starrte durchdringend zu ihm her, anstatt zu den anderen hinunterzugehen — sie wollte ihn haben an Stelle seiner beiden Söhne! Ja, es war die vom Schiff, er erkannte sie wieder an dem bleichen Gesicht. Sie war unterwegs, um ihr Recht zu fordern!
Und gerade, als er sie wieder erkannte, machte sie mit ihrer Drohung Ernst und ließ den Strom frei. Von seinem Sitz aus konnte er den ganzen Schwarzwald übersehen, und am besten, wenn er die Augen schloss; er war ja hier geboren und aufgewachsen. Aus allen Waldrändern lugten junge Wesen hervor, verschwanden und tauchten von neuem auf. Und auf einmal traten sie aus den Wäldern heraus und schwärmten die grünen Hänge hinab, warfen sich hin und suchten Deckung, als wären sie Soldaten bei einem Sturmangriff, und stürmten wieder weiter. Wie Fetzen von Sturmwolken fegten sie den Berghang hinunter. Nein, Vögeln waren sie zu vergleichen, die rannten anstatt zu fliegen.
Ja, ein Schwarm Vögel auf dem Zuge, so viele waren sie! Ein Zug Vögel, dessen Flügel weit nach Ost und West sich dehnten und die ganze Welt umspannten. Jetzt vernahm er auch Gesang aus der Höhe! Eine Engelshymne war es gerade nicht, dazu war er zu schrill; es klang wie Verwünschungen und Flüche! Heute aber war dem alten Liebenz ganz und gar nicht bange; es machte ihm nichts aus, einen von den schwarzen Vögeln einzufangen und in den Bauer zu setzen. Gut behandeln würde er ihn schon!
In einer endlosen Front, deren Flügel sich rascher bewegen mussten als das Zentrum, rückten die Heere der geborenen Witwen vor und nahmen alles in sich auf. Unglaublich war es, was sie alles vor sich her trieben und verschlangen! Wählerisch waren sie wahrhaftig nicht. Mit einer gewissen stillen Freude stellte es der alte Liebenz fest, zog sich aber doch vorsichtigerweise hinter die Tür der Hütte zurück; es war nicht ratsam, sich überrumpeln zu lassen. Er sah die Männer über den Berg von der Gefallenengedenkfeier zurückkehren: den Pfarrer, den Bürgermeister, den Vorsitzenden des Kriegervereins — lauter achtbare Männer. Sie wurden eingekreist und widerstandslos in den Wirbel hineingezogen. Selbst der ehrbare Dorfpfarrer konnte sich nicht aufrecht erhalten, sondern wurde gleichfalls hineingerissen. Seine dicke Figur drehte sich wie ein Kreisel, er lachte und verlor die Brille, so dass er nicht mehr Gut von Böse zu unterscheiden vermochte.
Und nun kam der schwarze Vogel über den Zaun gesetzt und stracks auf die Hütte zu! Es drehte sich um Liebenz, der alte Mann schloss die Augen und überließ sich mit gefalteten Händen seinem Schicksal.
Es folgte eine seltsame Zeit für den alten Liebenz; er lebte in einem Zustand zwischen Traum und Halbschlaf und war sich nur Mariles, seines schwarzen Vogels bewusst. Mutter Liebenz hatte immer behauptet, dass schwarze Vögel Unglücksvögel seien, aber obgleich dieser hier alle Schrecken des Weltkriegs in seinen Schwingen barg, wollte er ihn doch um alles in der Welt nicht hergeben. Vor die Hütte kam er selten; er hatte Angst, das Glück könne davonfliegen, wenn er die Tür öffnete. Die Welt draußen mochte ihren Gang gehen, ja, auch seine geliebten Äcker mochten mit sich selber fertig werden, wenn er nur seinen Glücksvogel behalten durfte. Wenn der ab und zu ins Dorf hinunterflog, um mit den schwarzen Mitschwestern zu plaudern oder etwas zum Essen einzuholen, saß er wartend am Fenster, voller Furcht, dass er nicht zurückkommen würde.
Dort unten sah es nicht zum besten aus; Marile, sein kleiner schwarzer Vogel, zwitscherte davon, wenn sie wiederkam. Der Pfarrer hatte seine ältliche Schwester, die viele Jahre als Wirtschafterin bei ihm gewesen war und seine Schwelle wie sein Zölibat treulich gehütet hatte, weggeschickt, um für die zwei schwarzen Vögel, die er eingefangen hatte, Platz zu schaffen. Beim Bürgermeister sah es nicht besser aus; überall in Hof und Haus hatten die geborenen Witwen Trauer und Verwirrung hineingetragen. Die wohlgedienten Ehefrauen gingen den ganzen Tag mit der Schürze vor den Augen schluchzend umher, die jungen Bräute schrieen und machten Szenen. Eines Tages bewaffneten sie sich mit Knüppeln, um das Unglücksheer wegzuscheuchen, hatten aber die Männer mit Pfarrer und Obrigkeit an der Spitze gegen sich. Den Vögeln Gottes musste man wohlwollend entgegentreten, wenn die Ernte nicht fehlschlagen sollte! Jeden Sonntag nannte der Pfarrer von der Kanzel herab dieses Jahr das Gnadenjahr der geborenen Witwen und eiferte gegen die Verworfenen, die mit Gott rechteten, weil er seinen Segen über das Land breitete. War es denn nicht, als ob ihm ein Wunder widerfahren sei? Greise wurden wieder jung und traten dreist in den Kreis der Männer, Taugenichtse und Idioten fanden zum Leben zurück, und eben konfirmierte Jungen bekamen raue Erwachsenenstimmen. Sie trafen sich im Krug und schlugen vor den Älteren die Faust auf den Tisch.
Marile erzählte es zwitschernd, aufrichtig gekränkt, wie viel Unglück diese Mistvögel über die Gegend brachten. Der alte Liebenz hörte dem allen verwundert zu, wie etwas weit Entferntem, das ihn nicht besonders anginge. Wenn er nur seinen schwarzen Vogel behalten durfte!
Und das durfte er — Marile wurde zahmer und zahmer. Sie aß ihm aus der Hand und trank aus seinem Becher; und wenn es die Gicht war, sie zauberte sie ihm aus dem Leibe. Es gehörte eben Sonne dazu; sie hatten recht, die neumodischen Bestrahlungspropheten — Sonne und Wärme! So gut hatte er es seit den fernen Tagen, da Mutter Liebenz mehr Lebenswärme als Barschheit besaß, mit seinem Reißen nie gehabt.
Wenn sich bloß der Nebel verziehen wollte, damit er klar erkennen könnte, wo er eigentlich war! Oftmals war es ihm, als trüge ihn sein schwarzer Vogel im Flug über die Wälder und Klüfte des Schwarzwalds. Dann erhielt das Schwindelgefühl eine geradezu handgreifliche Ursache, und die unbestimmte Angst wurde zu einer Angst, dass sie ihn fallen lassen würde.
Zum Glück war es ein lichter Nebel, worin er sich bewegte, und in dem Maße, wie er sich tiefer in ihn verirrte, verspürte er weniger das Bedürfnis, sich zu orientieren. Alles Äußere war im Grunde so gleichgültig geworden; das Dasein war auf eine frühe Entwicklungsstufe zurückgeführt, wo die Wärme das ein und alles ist. Besser als der alte Liebenz konnte das Kind im Mutterleibe nicht aufgehoben sein; selbst das Aufstehen wurde nach und nach zu etwas Umständlichem und Sinnlosem.
Eines Tages schlug er die Augen auf und war bei klarer Besinnung — zum ersten Mal seit ewig langen Zeiten, meinte er selber. Wie lange Zeit vergangen sein mochte, seitdem sich die schwarzen Vögel in der Gegend niedergelassen hatten - er hatte keine Vorstellung davon. Er sah sich unruhig um — lag er zu Bett? Ja, aber sie saß tatsächlich an seinem Bett, die Marile, saß obendrein da wie eine, die ihm näher als alle anderen stand. Dann war es doch kein Traum gewesen — Gott sei Dank!
„Es ist nur gut, dass du wieder zu dir gekommen bist", sagte sie und sah ihn mit Augen an, aus denen die Güte leuchtete. „Ich hatte schon Angst, dass ich dich zuschanden geflogen hätte. Wie geht es dir, Väterchen?"
Der alte Liebenz lächelte matt. „Mir ist, als wäre ich durch ein zerstörendes Feuer gegangen und nur noch ein Häufchen Asche", flüsterte er und bemühte sich, ihre schmale Hand zu drücken, die so lieb und selbstverständlich in der seinen lag.
„Das bist du auch — du bist für deine beiden Söhne tüchtig im Feuer gewesen! Und wie du dich mit ihnen unterhalten und nach ihnen gerufen — und phantasiert hast!"
Sie nahm die Bilder der Jungen von der Kommode und sah sie lange nachdenklich an. „Arme Burschen!" sagte sie endlich, mit einem Zittern in der Stimme, als wäre sie Mutter Liebenz selber. Dem Alten wurde es dabei ganz still ums Herz.
„Und wenn du nun noch einen Jungen bekämest?" sagte sie plötzlich und legte ihren Kopf neben ihm aufs Kissen. „Ich glaube bestimmt, ich habe heute früh den Storch gesehen." Sie lachte schelmisch.
„Dann — dann soll er den Hof hier haben", flüsterte der Alte und drehte verlegen das Gesicht weg, als genierte er sich zu zeigen, wie froh und verwirrt er war.
„Aber dann müssten wir wirklich nach Pfarrer und Bürgermeister schicken, damit ich deine richtige kleine Frau werde", sagte Marile und stand energisch auf. „Nein — sieh doch nur, da kommen sie wahrhaftig schon von selber! Das ist doch ein komischer Zufall!" Sie streckte den Hals und lugte lange durchs Fenster, mit Augen, die vor Verwunderung viel zu groß waren. „Nein, bestimmt ein komischer Zufall!" musste sie schließlich wiederholen.
Aber der alte Liebenz lächelte. Er dachte, es wäre von seinem kleinen schwarzen Vogel klug und resolut gehandelt - der Hof kam in gute Hände!
Dann traute der Bürgermeister sie, und der Pfarrer gab ihnen den kirchlichen Segen. Und es war alles beides die höchste Zeit.
„Es sind nicht viele Fälle, die wir auf so schöne Weise ordnen können", meinte der Pfarrer, als die beiden Männer wieder gehen wollten — ob er nun an seine eigenen Verhältnisse dachte oder die des Bürgermeisters oder auch nur an die Gemeinde überhaupt. Der Bürgermeister jedenfalls zwinkerte mit den Augen.
Der alte Liebenz aber ließ sich durch nichts stören, er war schon dabei, hinwegzugleiten, die Hand seiner jungen Frau in der seinen. Die Einsamkeit war aus seiner Seele gewichen und hatte der süßen Todesermattung am Leben Platz gemacht, die aus dem Unendlichen nach ihm griff und ihn an sich zog. Es war, als schöbe ihn Mariles sanfte Hand immer tiefer in dieses selige Glücksland, wo unendliche Ruhe ihn erwartete; und tief drinnen begegnete er, ohne den Übergang zu merken, Mutter Liebenz mit den rauen Händen.
Zusammen gingen sie weiter und weiter, und der Alte wusste nicht, dass es nicht mehr Mariles schmale Hand war, die ihn, führte.
1930


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