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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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TOTENTANZ

Es ist der letzte Tag des Jahres, ein Tag, der die Wahrheit verkündet; man lügt doch nicht, wenn man mit einem Bein im Grabe steht! Die Sonne ist rot untergegangen, in einem Pfuhl von Blut, und nun kommt wie aus ewig nässender Wunde die Dunkelheit herein gesickert.
Der Tag ist peinlich genug gewesen — eine unerfreuliche, verdrießliche Aufzählung! Was hat der Kleine nicht alles an Unglück und Gram ans Licht gezogen, dreihundertfünfundsechzig Tage voller Leiden — ein durch und durch schlimmes Jahr, wohl das böseste, das die Menschheit bis jetzt erlebt hat. Nur gut, dass er nicht mehr weiter kann! Schon um vier Uhr bricht er unter der Last zusammen und schließt sich das Dunkel über ihm.
Ist aber die Dunkelheit schonsamer? Im Gegenteil, sie ist durchsichtiger als das Tageslicht! Das wenige, was Licht und Lärm den Gemütern fernhielten, vermag sie nun ebenfalls ungehindert in Besitz zu nehmen. Es ist, als ob das Dunkel die Herzen der unbarmherzigen Kälte des Weltenraumes öffnete.
Die Menschen sind während dieses Jahres noch mehr zusammengeschrumpft; es ist, als wären sie gleichsam zu klein für das, was geschieht, zu klein, es zu tragen, und zu klein, sich selbst und die Welt davon zu befreien. Tagsüber stellen sie sich, soweit es möglich ist, tot; aber jetzt, in der Dunkelheit, geistern sie herum wie Wesen, die tief unter der Erde zu Hause sind, streifen wie Ratten durch die tiefe Finsternis zwischen den Reihen der Häuser.
Irgendwo fallen Schüsse; die Wesen pfeifen und schreien, das Dunkel beginnt sich wimmernd zu beleben. Ach, Unsinn, nichts weiter als ein Galgenvogel, der ein bisschen Feuerwerk abbrannte— es ist ja Silvester! Aber hätte man ihn hier, würde er trotzdem gelyncht werden! Hat es einen Sinn, zu schießen? — das Jahr ist schlimm genug gewesen, wenn man zurückblickt! Lasst es bloß still und ruhig ins Grab sinken, so dass wir es mit Erde bedecken können. Ein neues Jahr soll eingeschossen werden? — das kommt auf eins heraus! Möchte Gott oder Satan, wer von beiden nun damit zu tun hat, den Schoß der Zeiten verfluchen, dass er niemals wieder zu gebären vermag; möchte die Erde in dieser letzten Nacht des Jahres in die Tiefe versinken und niemals wieder zu einem neuen Jahr und einem neuen Tag emporsteigen!---
Ich bin in einem der Arbeitervororte gewesen und habe zwei polnischen Alten von ihrem Sohn, der an der roten Front kämpft, Grüße bestellt, zwei zittrigen Alten, deren Gesichter der vom Krieg verwüsteten Erde glichen: erst aufgewühlt, dann erstarrt und erloschen. Sie saßen in einer öden Dachkammer unter dem Fenster und nagten an nackten Kohlstrünken, die sie auf den Feldern am Rande der Vorstadt aus dem Schnee hervor gegraben hatten. Mit Gaumen und Zahnstumpfen bemühten sie sich, von den erfrorenen Pflanzenstängeln noch ein wenig Essbares abzuknabbern; ihre Hände, verkrüppelt durch die Plackerei eines ganzen langen Lebens, lagen wie unbelebte Tatzen um die Kohlstrünke, blaugefroren und ohne festen Griff. Erst als ich den Namen des Sohnes nannte, kroch mir ihr Blick aus fleckigen Augen langsam entgegen und gaben sie sich blinzelnd Mühe, mich ganz zu erfassen. Es dauerte eine Weile, dann lebte in ihrem Blick etwas auf, nur in ihrem Blick. Alles andere war abgetötet, damit es nicht auch an den Kräften zehre.
Ich hatte ihnen ein wenig Geld mitgebracht und sollte vom Sohn bestellen, dass er bald mehr schicken würde. Ein Gespräch war aber nicht in Gang zu bringen, einen ganzen Satz aufzufassen, war keiner von den beiden fähig. „Trommelfeuer", sagten sie und zitterten mit den gebrechlichen Köpfen — „Trommelfeuer".
Eine jüngere Frau kam die Treppe herauf, zornig riss sie den beiden Alten die Kohlstrünke aus den Händen, schimpfend trocknete sie sie an ihrer Schürze ab: „Dazusitzen und alles vollzusabbern!" Von mir nahm sie gar keine Notiz.
„Soll davon Suppe gekocht werden?" fragte ich, nur um etwas zu sagen.
„Jawohl — immer noch besser als gar nichts", antwortete sie herausfordernd.
Der Gruß vom Bruder machte ihr keinen Eindruck; ich hatte das Gefühl, als hielte sie ihn für verloren. Als sie aber hörte, dass auch Geld von ihm da war, belebte sich ihr Blick. „Wenn von der Seite Geld kommt", sagte sie mit rauer Stimme, „steht die Welt bestimmt nicht mehr lange!" Erst als ich auf der Treppe stand, sah sie mich ein wenig freundlicher an. „Haben Sie sich den beiden Alten verständlich machen können?" fragte sie. „Nicht besonders. Sie sind wohl beide ziemlich schwerhörig." „Es ist der verfluchte Hunger und die Kälte, was ihnen ständig in den Köpfen spektakelt — wie uns anderen allen auch. Sie glauben, es wäre das Trommelfeuer von der Front, das man bis hierher in Leipzig hörte." Sie lachte spöttisch wie eine, die besser Bescheid weiß.
Öde ist es da draußen in den Vororten. Von dort aus wird heute der Krieg genährt wie vorher der Friede. Alle diese ausgehungerten alten und verbitterten grauen weiblichen Wesen sind es, die die Rüstungsindustrie in Gang halten und — oftmals mit Hilfe von Kinderhänden — ihre Männer, Brüder und Väter mit Material versorgen. Es ist ein eigenartiger Sprengstoff, den sie aus der Leere hier nach draußen schicken; der Rückschlag ist das einzige sichere dabei! Was nützt es, zu kämpfen, wenn jede Handgranate, die man schleudert, einen selbst ins Herze trifft, da sie doch mit dem Hunger, den Tränen und Verwünschungen der Lieben daheim gefüllt ist! Es heißt, dass die Front wackelt; es ist die Leere hier, die sie eindrückt.
Öde ist es hier - unheimlich leer! Nichts in den Läden - nicht einmal Scheiben — und nichts in den Haushaltungen, kein Essen, kaum noch Bekleidung. Vor den Ohren dieser Geschöpfe braust der leere Raum schlimmer noch als irgendein Trommelfeuer,
Hunger, Kälte und zehrende Entbehrung lärmen teuflisch im Blut, schlagen wie Brandung gegen die Trommelfelle. Es ist hier nicht auszuhalten, der Anblick der Menschen schneidet einem noch mehr ins Herz als der Kahlfrost, der das Straßenpflaster eisig trocken fegt.
Im Stadtzentrum, innerhalb des Ringes, brennt hier und da eine Bogenlampe und erwärmt die Nacht. Hier fällt es einem gleichsam leichter, in der Stadt zu sein. Die Not hat die besondere Eigenheit, alles schwerer zu machen.
Es gibt aber auch anderes, was einen in der Innenstadt aufheitert — Menschen, die mit dem Jahr neunzehnhundertsiebzehn sehr zufrieden gewesen sind! Hier und dort sprüht und knallt es zu keines Nutzen; zur Feier des Tages zeigt sich die Munitionsindustrie freigiebig — trotz des Verbots. Es gibt eben auch andere Arten, Sprengstoffe zu verwenden, als gerade die eine draußen an der Front! Ab und zu stiehlt sich aus einer Munitionsfabrik eine Rakete in die Höhe — als ein Dank an die Götter
für das gute Jahr!
Ich habe mir für die Silvesterfeier im Ratskeller eine Eintrittskarte besorgt und gehe zeitig hin; obwohl es erst sieben Uhr ist, ist alles besetzt. Meine Karte weist mich zu meinem Platz an einem großen Tisch; neben mir sitzt eine Kriegerwitwe, ganz in Schwarz. Die übrige Tischgesellschaft besteht aus der Familie eines Rauchwarenhändlers vom Brühl: Großeltern, Kinder und Kindeskinder, im Ganzen mehr als zwanzig Personen. Die Kellner tragen ihnen massenhaft zu essen auf, gutes Essen, leckeres Essen; in den Restaurants der Innenstadt herrscht kein Mangel. Nur Brot bringt man am besten selber mit. Jedes der Familienmitglieder hat seine Flasche Wein vor sich stehen, man plaudert und lacht. Auch mich und die Kriegerwitwe versuchen sie am Gespräch zu beteiligen; sie merken, dass wir einsame Vögel sind, und haben Mitleid mit uns.
An einigen Tischen beginnt die Stimmung ausgelassen zu werden, hier und dort hat sie einen Anflug von Galgenhumor. An einem großen Stammtisch unter einem der Seitengewölbe sitzen lauter junge Männer, kurzgeschoren und mit roten Köpfen; sie lärmen und singen Kriegslieder und trinken alle Augenblicke auf das Wohl des Vaterlandes. Das ist eine Gesellschaft von Drückebergern: Männer, die eigentlich an der Front sein müssten, es aber auf irgendeine Art verstanden haben, sich davor zu drücken.
Die Kriegerwitwe hat ihr mitgebrachtes Essen ausgepackt, zwei zusammengelegte Scheiben Brot mit Kartoffelmus dazwischen, und sich eine halbe Flasche Rheinwein bestellt. Sie hat sich von uns anderen halb abgewendet und kaut, während ihr eine Träne nach der anderen die spitze Nase entlang läuft und ihr in den Schoß fällt. Deutschland allein hat Millionen ihresgleichen aufzuweisen, schwarzgekleidete abgezehrte Frauen mit grauer Haut und vom Kummer roten Nasen, mit Augen, die vom Weinen entzündet sind. Sie ist hier hergekommen, um für eine kurze Weile alles zu vergessen — vielleicht aber auch, um sich zu erinnern. Vielleicht pflegten er und sie hier ihr Silvester zu feiern, und sie hat gehofft, ihm hier wiederzubegegnen — in einer schönen Erinnerung. Aber die Fröhlichkeit der anderen bedrückt sie noch mehr; ihr stilles Weinen sticht von dem fröhlichen Gelächter der anderen seltsam ab.
Dann auf einmal trocknet sie sich die Augen. Sie fasst einen heroischen Entschluss; eifrig und unverdrossen ergibt sie sich der Ausgelassenheit und dem Gesang. Ich kann ihre Stimme hoch über den anderen heraushören, wie ein flatternder Vogel steigt sie zu dem Gewölbe auf. Ihr Hals, der wie der Hals eines gerupften Huhnes ist, reckt sich in Ekstase; die mageren Arme, nackt bis zu den Ellenbogen und durch Kummer und schlechte Ernährung voller Sehnen, fechten in der Luft umher. Am Schluss einer Strophe will sie die anderen übersteigen, aber ihre Stimme schlägt um in einen Schrei; sie wird von plötzlichem lautem Weinen überwältigt und beeilt sich, hinauszukommen.
Niemand achtet auf sie — wo sollte das auch hinführen? Sie sind ja überall, diese Frauen in Schwarz: auf der Straße, im Theater, in den Zügen; überall begegnet das Auge diesen blutleeren weißen Gesichtern unter den langen Trauerschleiern — den schwarzen Vögeln. Es gibt nur ein Mittel, das Weinen zu übertäuben: singen, singen! Und der Gesang steigt gewaltig zu den Kreuzgewölben empor, als wäre er ein Dank an den ernsten Spender aller Leiden. Draußen im Alltag ist man ihm hilflos preisgegeben, da dringt das Weinen aus allen Mauern: aus gelöschten Feuerstätten, kalten Ehebetten und leeren Kinderzimmern! Der Tod hat sein Kreuz an alle Türen geheftet, durch alle Herzen hat er seinen schwarzen Strich gezogen, ein gähnendes Loch hinterlassen, aus dem die Leere herausstarrt. Lasst ihn nicht herein — zu diesem Begräbnisschmaus! Jetzt wird der Sarg mit dem schlimmen Jahr zugenagelt, mit dem schlimmsten Jahr, das die Kinder der Menschheit erlebt haben — Prosit Neujahr!
Hier soll vergessen werden, und der Gesang trägt gut dazu bei, er betäubt. Und mehr als das: er vertreibt das Jetzt und bringt eine andere Zeit ins Gedächtnis, die gute, alte Zeit, wo rastlose Arbeit und anspruchslose Freuden den gesunden Inhalt der Jahre bildeten. Und es kann geschehen, dass er noch weiter zurückführt, in Zeiten, die kein einziger erlebt hat und die doch in den Seelen vorhanden sind als ein heimliches Gerüst, das auch dem heutigen Tag Stütze ist. Ein Choral wogt unter den Gewölben hervor, aus allen Krypten kommt er herangebraust, von mehr
als tausend Stimmen empor getragen: Ein feste Burg. Er
knüpft das Gegenwärtige an die Vergangenheit und koppelt uns alle an den heutigen Tag. Auf solche Weise haben sich die ersten Christen in dem Labyrinth der Katakombengänge näher zueinander gesungen und hat das mittelalterliche Deutschland seine Herdfeuer bewahrt, in Gruben und Krypten halb unter der Erde, während sich alle Horden Europas oben auf seinen Feldern tummelten. Dort wurde der Deutsche heimisch wie kein anderer; von der Krypta unter schweren Gewölben aus muss auch die heutige Gegenwart gesehen werden. Sitzen sie nicht alle da und schwingen sich auf dem Gesang über die Grenzen des Reiches hinaus zu den Schützengräben und bombensicheren Räumen und anderen Höhlen unter der Erde, wo allein dies: zu leben, ebenfalls ein unfassbar großes Geschenk ist und deshalb die Zuversicht aus denselben Quellen rinnt wie hier? Die Burg ist überall, daheim und draußen, mit Wällen, Gräben und Gesang; man kann unter die Erde kriechen, dort wie hier, sich zusammendrängen und singen: Ein feste Burg — und sich „geborgen" fühlen. Hört, wie sie während des Gesanges an Kraft gewinnen! Der treuherzige alte Choral ist einer raschen Beendigung des Weltkrieges ein größeres Hindernis als Deutschland, Deutschland über alles!
Es ist, als hätte der alte Choral die Gemüter von allen Hemmungen befreit. An einem Tisch weiter weg wird Die Wacht am Rhein angestimmt, und im Nu flutet das Vaterlandslied aus allen Nischen des ungeheuren Kellers hervor. Kriegslieder, Kampflieder! Die Gesichter werden blutrot vor Eifer, die Stimmen heiser. Und plötzlich ist es zwölf Uhr, gewaltige Schläge auf einen Gong kündigen den Jahreswechsel an. Prosit und Hochrufe, auf den Sieg und auf den Frieden. Die Musik fällt ein, fegt das böseste aller Jahre ins Grab und bläst dem neuen den Präsentiermarsch. Sektpfropfen knallen und springen von einem Kreuzbogen zum anderen, Glückwünsche überkreuzen sich, Rufen und Gesang! Die schweren Gewölbe beben unter dem Brausen eines alles überwältigenden, irrsinnigen Optimismus.
Draußen ist die Nacht still und schwer von Schnee. Die Glocken der Thomaskirche läuten über der Stadt das neue Jahr ein, die nach dem Lärm dort unten unheimlich still wirkt — beinahe, als wäre sie ausgestorben.
Die Stille ist wohltuend, die kalte Nacht fällt einem labend aufs Gemüt. Was nützt es, mit vielen in festlicher Gesellschaft zusammen zu sein, wenn man nicht dieselbe Wellenlänge wie die anderen hat, vielleicht gar nicht darauf eingestellt werden kann? Nirgendwo ist man so einsam wie unter Menschen, deren Festrausch man nicht zu teilen vermag; ich hätte mich von dem Haus der Bürger fernhalten sollen, sowohl aus Rücksicht auf die anderen als auch aus Rücksicht auf mich, der ich keinen Tropfen Bürgertugend in den Adern habe und deshalb weder mittrinken noch mitschreien kann.
Wiederum aber ist es eine gefährliche Sache, sich der Einsamkeit allzu sehr hinzugeben; es greift das Herz an. Was kann man überhaupt tun, wenn man nun einmal so gebaut ist, dass einem nichts in der Welt so sterbenslangweilig ist wie das Bürgerheim mit seiner Atmosphäre des geistigen Wiederkäuens und seinen künstlich gemästeten, schlachtreifen Bürgertöchtern? Sich das Dienstmädchen zur Tischdame erbitten, geht ja nicht gut; man muss sich damit begnügen, ihre Hand unter dem Tablett zu berühren, wenn sie einem serviert. Das ist dann, als berühre man die Erde; die Säfte steigen in einem hoch, man ist von neuem mit dem Dasein verbunden.
Im Schatten hinter einer Straßenecke stand eine junge Frau und spähte zu dem erleuchteten Eingang des Ratskellers hinüber; ein reines Kind schien sie noch zu sein mit dem neugierigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die Lichter vom Rathaus her brachen sich in ihrem offenen Blick, wie sich die Lichter des Weihnachtsbaums in Kinderaugen brechen. Vor Kälte und Hoffnungslosigkeit kroch sie in sich zusammen; ihre Augen suchten fragend zu mir herüber, als ich an ihr vorbeiging. Und da war sie mir so vertraut, als wäre sie meine Schwester.
„Du frierst ja", sagte ich und blieb stehen. „Warum gehst du nicht nach Hause? Hast du gar keine Angst vor der Dunkelheit und der Nachtkälte?"
„Warum sollte ich wohl?" fragte sie halb abwesend und mit drollig angespannter Miene, als quälte sie sich ab, mich einzuschätzen und herauszufinden, was und wie viel ich wäre. „Nach Hause kommt man früh genug, wenn man von meiner Sorte ist. Da erwartet einen bloß Jammer und Elend! Ich möchte lieber irgendwohin, wo es ein bisschen festlich zugeht. Nimm mich da drüben mit hin!" Sie rückte mir dicht auf den Leib und nickte zum Rathaus hinüber.
„Das kann ich nicht, so gerne ich möchte. Wir kommen nicht
hinein."
„Warum denn nicht? Du gehörst doch zu denen da unten, und es sind auch andere von — von der Straße dort!"
„Es ist da gleich Schluss. Ich bin hier fremd, und meine Eintrittskarte habe ich schon abgegeben. Aber komm - lass uns ein bisschen zusammen gehen!" Ich hakte sie ein.
Sie lehnte sich auf mich, voller Zutrauen, und lächelte zu mir herauf — eher war es ein schüchternes Verziehen des Gesichts. Im Schein einer Laterne sah ich, dass sie schwarze Schatten unter den Augen hatte — echte Schatten! — und dass die Augenränder dunkel waren, als wären sie ganz von innen her mit Finsternis durchtränkt. Sie hatte es nicht nötig, sich anzumalen, um von sich aus zum Geheimnis der Nacht beizutragen.
„Warum ist es so ungemütlich zu Hause?" fragte ich, während wir aufs Geratewohl dahin schlenderten.
„Ach! Wenn Vater im Kriege gefallen ist und mein ältester
Bruder ist in russischer Gefangenschaft---die beiden würden
uns versorgen!" Das kam unwillig, beinah mürrisch heraus.
„Wer versorgt euch denn? Denn dieses hier — die Straße--
ich---ich meine--"
Sie lachte plötzlich, laut und glockenrein; ich hatte ihr solch ein befreites Lachen gar nicht zugetraut, so heruntergekommen, wie sie wirkte.
„Ja, es stimmt, ich versorge uns!" Sie sah mich herausfordernd an, mit einem Ausdruck, der alles Mögliche bedeuten konnte. Mit eins wurde sie ernst, todernst.
„Ich gehe in die Fabrik und verdiene sechzehn Mark die Woche; davon und von der elenden Kriegsunterstützung leben wir." Sie sagte es leise und beinahe ganz ohne Ausdruck.
„Sechzehn Mark! Kind, das ist ja gar nichts in diesen Zeiten!" Mir schauderte bei dem Gedanken an die hohen Preise, die alles kostete. Sechzehn Mark!
„Wir haben auch alle Krach gemacht und dem Fabrikanten gesagt, dass wir damit überhaupt nicht auskommen könnten. Aber er sagte: ,Seid ihr verrückt? Das sollt ihr doch auch gar nicht! Warum, zum Teufel, meint ihr denn, hat euch der liebe Gott als Weiber geschaffen? Ihr müsst dem Vaterland auch ein kleines Opfer bringen und es euren Vätern und Brüdern an der Front
nicht noch schwerer machen, indem ihr herkommt und unbillige Lohnforderungen stellt!'"
Du arbeitest in der Rüstungsindustrie? Im Allgemeinen heißt es doch, dass das allerhand abwirft."
Ursprünglich war es eine Orgelfabrik, jetzt aber machen wir Handgranatenschäfte und so 'n Zeugs. Wir jedenfalls merken nichts davon, dass das allerhand abwirft."
„Und deshalb bist du dem Rat des Fabrikanten gefolgt und verdienst dir etwas nebenbei?" Sie schüttelte den Kopf.
„Nein? Warum hast du denn da im Schatten gestanden?"
Sie sah lachend zu mir auf, antwortete aber nicht. Unbarmherzig wiederholte ich meine Frage.
„Ich habe da auf dich gewartet!" sagte sie und flammte mit einem mal auf, heiß und ausgelassen. Heftig drückte sie meinen Arm an ihre Brust.
„Gewartet hast du auf alle Fälle — und dann schickte dir die Vorsehung mich. Die Vorsehung, das ist etwas, was für einen sorgt; siehst du, Kind, du hast auch einen Versorger! Ist das nicht tröstlich zu wissen? Er hat es nur nicht übers Herz gebracht, dir einen Goldfisch zu schicken."
Sie war wieder grau und unschön geworden, ein unbarmherziger Zeuge der Wahrheit.
„Ja, natürlich habe ich gewartet", antwortete sie herausfordernd. „Was denn sonst? Das heißt, ich habe Wünsche gehabt — und die Leute beneidet; die da, die schaffen es!" schrie sie plötzlich heiser auf und zeigte auf ein paar aufgedonnerte Nachtvögel. „Die verdienen einen Haufen Geld!"
„Beneidest du sie wirklich? Du armes Wurm!"
„Sollte ich das etwa nicht? Die können sich satt essen, sooft sie wollen. Ich bin seit zwei Jahren nicht satt gewesen — nicht mal von Kartoffeln, und unser Brot haben wir immer schon einen Monat im Voraus aufgegessen. Meine kleinen Geschwister kriegen das meiste, sie können die Kohlrüben nicht vertragen. — Mutter sagt: ,Mach was du willst, wir haben kein Recht, mit Steinen zu werfen; warum sollten wir uns für irgendetwas für zu fein halten? Kommst du aber krank nach Hause, kriegst du Dresche und setze ich dich vor die Tür.' Und dann..." „Ja, und dann überlegt man es sich ja."
„Was ist dabei zu überlegen? Wenn Vater und mein Bruder das Leben riskierten, kann ich wohl auch etwas riskieren. Aber ihr Mannsleute bestimmt ja darüber, und ich bin nicht mehr hübsch; ich bin zu mager und meine Kleidung ist zu simpel. Die anderen johlten und zeigten mit Fingern auf mich, als sie an mir vorbeikamen; deshalb stellte ich mich ganz in den Schatten — und schämte mich." Ihre Stimme zitterte vor Zorn über das Verschmähtsein, sie war nahe daran, zu weinen. „Wenn du nicht gekommen wärest, dann..."; sie fasste meine Hand mit beiden ihren Händen und sah mich mit rührender, beinahe hündischer Dankbarkeit an.
„Wenn du nur nicht wieder enttäuscht wirst. Ich bin ein ebenso armer Schlucker wie du."
„Das weiß ich wohl; meinst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du da drüben nicht hingehörst? Wenn nur Mutter keinen Krach macht."
„Und dein Freund?"
„Mein Freund?" Sie schien es gar nicht zu verstehen und sah mich forschend an.
„Ja, dein Liebster. In deinem Alter hat man doch einen Liebsten."
„Ach, du meinst einen, mit dem man geht, mit dem man sich später vielleicht verheiratet, wenn man sich immer noch mag? Mit wem sollte ich denn gehen? Alle Freunde meines Bruders sind doch im Felde. Wirf dich nicht weg, hat Vater immer geschrieben, dann kriegst du schon einen guten Mann! Das möchte ich auch gern, aber man kommt um vor Hunger und Kälte, das ist es. Für ein armes Mädchen wie mich gibt's keinen Mann zum Heiraten! Die einzigen jungen Leute, die zu Hause sind, sind ja die Feinen, und die sehen mich nicht einmal an, wenn es dunkel ist." Sie begann zu weinen, laut und hemmungslos.
Ich versuchte sie zu beruhigen; aus Angst, dass wir Aufsehen erregen könnten, zog ich sie in eine Türnische. Ich nahm ihren Kopf zwischen meine Hände und sagte ihr gute Worte, dass sie jung und schön wäre und was man sonst wohl einem unglücklichen kleinen Wesen sagen mag, das einem der Zufall in die Arme geworfen hat. Armes Kind! So jung sie war, hatte sie noch nie etwas davon gehabt.
„Nein, die feinen Herren haben mich stehen lassen", schluchzte sie. „Glaub mir, es ist kein Vergnügen, wie eine Aussätzige dazustehen und anzusehen, wie die anderen jede mit ihrem losziehen! Erst aus Verzweiflung weinen, dass man dazu gezwungen ist, und dann aus Gram, weil es fehlschlägt. Und zu Hause — die Kleinen! Das Gesicht von Mutter, wenn ich ohne wen nach Hause komme! Nein, es ist nicht zum Aushalten!" Sie schmiegte sich an
meine Brust und weinte dicke Tränen.---
Wir waren lange gegangen, auffällig lange im Verhältnis zur Entfernung von dem Stadtteil, wo sie angeblich wohnen wollte. Hier draußen, in den engen Nebenstraßen, rührte sich ein sonderbares Nachtleben. Invaliden, die der Krieg so zugerichtet hatte, dass sie sich am Tage nicht zeigen mochten — und auch nicht durften -, waren jetzt auf der Straße, um frische Luft zu schöpfen. Abgezehrte Frauen jeden Alters streiften durch die Gassen. Hamsterer mit schweren Lasten schlichen sich die Häuserwände entlang, beim geringsten Laut verschwanden sie in einen Torweg — und rannten dann wieder ein Stück weiter. „Das sind Gastwirte", sagte meine Begleiterin, „sie sind auf dem Lande gewesen und haben Esswaren gehamstert. Wenn die Polizei sie erwischt, verlieren sie alles." Sie hatte sich längst wieder beruhigt, hing schwer an meinem Arm und summte ab und zu vor sich hin. Ich spürte die Wärme ihres Leibes.
„Bist du nicht bald zu Hause?" fragte ich ungeduldig. Sie blieb stehen, streckte sich auf die Zehen, um meinen Mund mit dem ihren zu erreichen, und sah mich bittend an. „Du darfst mir nicht böse sein", flüsterte sie und legte mir mit einer entzückenden Bewegung ihre kleine Hand über die Augen. „Ich
wohne gar nicht in dieser Richtung. Aber es ist so schön, so Arm in Arm zu gehen, und so richtig weit zu gehen. Dann mache ich die Augen zu und tue, als wärst du mein Mann." Sie lachte und bohrte ihr Gesicht in meines.
Wie warm ihre dünne kleine Hand doch war — und wie lieb und zutraulich ihre Stimme! Sie hatte mich gern, das unglückliche kleine Wesen! Deshalb vielleicht, weil ich ihr erster Erfolg war und sie vor dem schmählichsten von allem, Mauerblümchen zu sein, gerettet hatte? Nein, darüber war sie hinweg; sie hatte keine Ziele mehr, die erreicht werden mussten, sie hatte alles bei sich. Sie hing an meinem Arm und erschien vollauf glücklich; keuscher als ihre Freude konnte keine andere sein.
„Du hast doch nie einem Manne angehört", sagte ich und drehte ihr Gesicht zu mir her.
Sie sah mich an, mit großen, ruhigen Augen. „Nein", antwortete sie mit einem so offenen Ausdruck, als gälte es, eine Wahrheit für das ganze Leben zu sagen. Oh, wie sie mich liebte! Es durchschauerte mich bei dem Gedanken — vor Angst und Glücksgefühl.
Hier war sie, unberührt und unschuldig, ein Kind, das bereit war, sich um etwas zu essen für sie und die Ihrigen dem erstbesten hinzugeben. Der Kriegsgewinnler hatte ja recht, das Vaterland verlangte es von ihr — das Vaterland der Armen! Weshalb, zum Teufel, hätte der liebe Gott denn sonst die Fabrikarbeiterin als Frau erschaffen!
„Du bist so merkwürdig", sagte sie plötzlich und rüttelte mich sanft am Arm. „Bist du mir böse deswegen? Magst du mich überhaupt nicht leiden?"
„Ich denke daran, dass du hungrig bist. Und dass es nicht einmal ein Lokal gibt, wo wir nachts um diese Zeit etwas essen könnten."
„Ich bin gar nicht hungrig. Ich möchte viel lieber Spazierengehen."
Mir fiel ein Lokal in einer Nebenstraße des Ringes ein, wo wir wahrscheinlich noch hineinkommen würden, ein heimliches Nachtlokal für die Halbwelt und jungen Lebemänner der Stadt. Der
Portier, ein prächtig ausstaffierter Schweizer mit goldnem Stab und die eine Hand mit Handfläche nach oben auf dem Rücken, sah meine Begleiterin scheel an und wollte uns in den Weg treten; eine Münze in die hohle Hand ließ ihn automatisch Platz machen. Meine Freundin schmiegte sich eng an mich an, eingeschüchtert von dem starken Licht, von der Stuckpracht und dem Aufsehen, das wir erregten.
Jetzt erst sah ich sie genauer. Arm sah sie aus, blutig arm, abgenutzt die Kleidung wie die ganze Gestalt — ein Kind von siebzehn Jahren, das einem abgezehrten, armen alten Weiblein glich.
Wir fanden eine Ecke, wo uns die neugierigen Blicke nicht allzu sehr belästigten, und bekamen die Speisekarte vorgelegt. Sie brauchte lange Zeit, sich zu entschließen — das Wurm; sie hatte die größte Lust auf alles zusammen. Immer wieder machte sie beim Gänsebraten halt, glitt aber gleich weiter, als hätte sie sich verbrannt. Als ich ihr vorschlug, den zu wählen, rückte sie erschreckt zurück. „Er kostet zehn Goldmark", flüsterte sie und legte ihre Hand überredend auf meine. „Sei lieb und bestell etwas anderes." Sie war meinetwegen ganz unglücklich.
Aber als die Bestellung erst aufgegeben war, war sie ganz glücklich; sie hatte sich aufgerichtet, ihr Blick glitt spähend im Lokal umher. Sie musterte die aufgedonnerten Mädchen mit einem Blick, der recht wohl bedeuten konnte: Wartet nur ab! Plötzlich fasste sie mich am Ärmel. „Man kann hier richtige Schokolade bekommen", flüsterte sie eifrig und zeigte auf ein Schild. „Ich möchte lieber Schokolade haben."
„Davon wirst du aber nicht satt", wandte ich ein. „Du brauchst etwas Solides."
„Ich bin gar nicht hungrig — und Schokolade ist viel festlicher." Sie sah mich bittend an.
Da bekam sie beides, und die Götter sollen wissen, dass sie
hungrig war!
Als wir hinauskamen, fasste ich sie um den Kopf und sagte ihr Lebewohl. Sie starrte mich aus großen schwarzen Pupillen erschrocken an. „Du magst mich also doch nicht leiden?" fragte sie leise.
Ob ich sie leiden mochte? War es wohl möglich, ein Geschöpf nicht reizend zu finden, das nach vierjährigem Hunger doch Schokolade dem Gänsebraten vorzog? Das Zusammensein mit diesem kleinen Geschöpf hatte mich bis ins Innerste erschüttert und so viel in mir zerbrochen, dass ich nicht ein noch aus wusste. Ob ich sie leiden mochte? Es war, als wollte mein Herz aus mir hervorbrechen, alles in mir strömte ihr entgegen, zitternd und anbetend. Und deshalb — vielleicht deshalb? „Es ist festlicher so", sagte ich und versuchte zu lächeln. Ich hatte das Gefühl zu taumeln, so sehr schwankte ihre Gestalt vor meinen Augen hin und her.
Sie warf sich weinend an meine Brust. Alles Junge und Schöne flammte zugleich in ihr auf — sie war unsagbar lieblich zu umfangen. Dann riss sie sich los und lief fort.
In der bergab führenden Straße konnte ich ihrer kleinen Gestalt lange hinterher sehen. Ihre Haltung während des Laufes sagte mir, dass sie heftig weinte. Ein Nachtwanderer schoss wie ein Hai aus dem Dunkel einer Seitenstraße heraus und auf sie zu; sie schrie auf und flüchtete.
Ganz unten, am Ende der Straße, sah ich schließlich meine schwer geprüfte kleine Begleiterin verschwinden--wohin?
1918


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