DIE FEE DER FREIHEIT II
Es wird von unserer Zeit so viel Schlechtes gesagt, dass ich vorweg bemerken möchte: mir kommt es so vor, als lebten wir in einer ganz herrlichen Zeit. Gibt es etwas Frischeres als den Frühlingssturm oder die breit strömenden Tauwasser im Lenz? In der Natur draußen öffnet sich jede Pflanze beizeiten dem Lenz und hält sich bereit, die Säfte zu empfangen, wenn sie aus dem Grunde emporsteigen. Der Mensch aber ist ein seltsam querköpfiges Wesen, er scheint nie zu wissen, wann die Zeit seiner Heimsuchung da ist. Er feiert seine längst abgeschiedenen Fortschrittsmänner und trauert über das Schicksal, das sie erlitten haben, aber gleichzeitig schleift er die Fortschrittsmänner von heute auf den Scheiterhaufen. Unsere Zeit ist eine Zeit der Umwälzung, vielleicht der tiefstgreifenden, die unsere Geschichte aufzuweisen hat; wir stehen mitten in der Weltrevolution, ständig schreitet es unter unseren Füßen fort. Wir selber aber ahnen nicht viel von dem, was vor sich geht; die meisten fühlen es nur als eine Art Unbehagen, vielleicht Unsicherheit: das Bett steht nicht mehr so festgemauert an seinem Platz wie früher, der Jahre hindurch ausgetretene Pfad zum Futtertrog wird hin und wieder durch die von der Umwälzung herrührenden Verlagerungen im Erdreich gesperrt und muss neu ausgetreten werden. Richtig gemein ist das! Und auf welchem Friedhof wird man wohl zur Ruhe kommen? Nicht einmal das weiß man noch mit Bestimmtheit.
Deshalb ist es albern zu sagen, dass die Menschen Revolution machen. Die vollzieht sich unvermeidlich und sehr gegen unseren Willen, und unser Verhältnis dazu besteht im wesentlichen darin, auf sie zu schimpfen und sie überall ans Kreuz zu schlagen, wo wir die eine oder andere ihrer Verkörperungen zu fassen kriegen. So sind wir nun einmal, die meisten von uns! In hundert Jahren - ja dann! Dann werden unsere Nachkommen friedlich und gemütlich von der großen Naturkatastrophe lesen, die ihrem Dasein die Grundlage gab. Und sie werden uns beneiden, dass es uns vergönnt war, die große Zeit mitzuerleben — ohne zu ahnen, dass es unser größter Wunsch gewesen war, in Ruhe essen, trinken und schlafen zu dürfen.
Geistig gehört der Mensch zu den Aaskäfern. Nur solange er Kind ist, steht er dem Leben frei und frisch als Empfangender gegenüber; deshalb ist es das Kind, das einen stets aufs neue mit dem Dasein versöhnen muss - das Kind und jene vereinzelten anderen, die es vermögen, das Kind in sich zu bewahren und das ganze Leben hindurch alles, was ihnen begegnet, frisch und offen anzusehen.
So seltsam verkehrt ist der Mensch eingerichtet, dass er alle wirklichkeitsfremde Utopisten nennt, die die Heimsuchungszeit der Menschheit erkennen und sich dem großen Gedanken der Zeit verschrieben haben. Große Kinder werden sie nachsichtig genannt, naive Idealisten! Wenn sie überhaupt Nachsicht erfahren; die meisten machen freudig mit, sie aufzuhängen und zu verbrennen. Wenn wir in Berichten über die Vergangenheit von ihnen lesen, ja, dann wissen wir sehr gut, dass sie es waren, die den Zeitgedanken richtig erfasst hatten; aber wenn wir ihnen auf der Straße begegnen, erkennen wir sie nicht wieder.
Von der Begegnung mit zweien solcher Naivlinge, mit zweien von den Geschöpfen, die dem Herzen des Lebens am nächsten sind, will ich heute erzählen.
Mein Erlebnis beginnt in Konstanz. Ich war von München dorthinunter gefahren, um den schönen und uns Nordländern ziemlich unbekannten Bodensee kennenzulernen. Ich ging umher und fühlte mich recht wohl in den engen, ruhigen Straßen der alten Konzilstadt, wo die Gegenwart die Waffen gestreckt zu haben schien, während dafür die Vergangenheit um so lebendiger Zeugnis ablegte: von Johann Hus, der hier den Scheiterhaufen besteigen musste; von Barbarossa; von den Kämpfen und Umwälzungen des Mittelalters. Es tat geradezu wohl, das Gemüt ein wenig zu recken und sorglos zu atmen nach dem monatelangen Aufenthalt in dem nervenbebenden München, wo alt und neu bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüberstanden und die Luft Tag und Nacht vor Hochspannung zitterte. Hier in Konstanz, wo vor einem halben Jahrtausend das Neue gebraten wurde wie man Gänse brät, schien man heute ketzerischen Anschauungen gegenüber völlig gleichgültig zu sein. Man begnügte sich damit festzustellen, dass sich der Ausländer sicherlich dazu hier aufhielte, um zwei Kisten russisches Gold in die Schweiz zu bringen — und überließ ihn im Übrigen sich selbst. Oh, dieses mystische russische Gold! Wie gut hätte man damals für ein paar Handvoll davon Verwendung gehabt!
Eines Tages ging ich in ein Parfümeriegeschäft an der Marktstätte, um mir ein Stück Seife zu kaufen. Es war schon ein Kunde im Laden — was damals eine Seltenheit war; der Weltkrieg und die Revolution hatten alles Geschäft zum Stillstand gebracht.
Es war eine junge Frau; sie stand über den Ladentisch gebeugt und sah sich Parfüme an. Sie war recht ärmlich gekleidet — wie hier unten alle zu damaliger Zeit, unterernährt und von grauem Teint. Die von Not und Entbehrung geschärften Gesichtszüge verliehen ihrer Schönheit einen phantastischen, überirdischen Zug; es war, als wollte ihre Seele aus dem misshandelten Gehäuse heraustreten, um von ungeahnten Tiefen des Leidens und Grauens zu zeugen. Es ist viel über den Weltkrieg geschrieben und gesagt worden, nur die deutsche Frau hat bis jetzt geschwiegen. An dem Tag aber, wo sie von dem allem so weit Abstand genommen hat, dass sie daran zu denken vermag, wird die Welt eine Vorstellung davon erhalten, was Gräuel und Seelengröße sind.
Um jene Zeit begannen wieder Waren aufzutauchen, und man konnte die Menschen scharenweise von einem Ladenfenster zum anderen schlendern sehen; sie genossen den Anblick der Waren, zum Kaufen hatte keiner Geld. Die Frau hier hatte den Weg bis an den Tresen gewagt und sich ordentlich auftischen lassen; alles, was der Laden an Parfümen besaß, lag ausgebreitet vor ihr.
Sie genoss es, einen Flakon in die Hand zu nehmen, seinen Duft einzuschnuppern und ihn wieder hinzulegen; sie schwelgte förmlich in dem Anblick der merkwürdig geformten Fläschchen. Doch irgendetwas sagte mir, dass auch sie kein Geld zum Kaufen besäße, und die Ungeduld der Bedienung deutete darauf hin, dass sie derselben Auffassung war. Das störte sie aber nicht, sie war von ihrer Sache völlig in Anspruch genommen.
Man hätte geglaubt, dieser jungen Frau wäre alles andere eher nötig gewesen als Parfüm. Ihre Stiefel waren ausgetreten und die Sohle entlang in der Naht gerissen — ein Paar richtige Trittlinge oder Kindersärge von der Sorte, worauf vor dem Kriege die Ritter der Landstraße ein Monopol hatten. Der Mantel war längst für den Lumpensammler reif. Seine Taschen gähnten gefräßig, ich konnte bis auf den Grund in sie hineinsehen, sie waren unheimlich leer. Nun, solche Kleidung fiel in diesem verheerten Lande niemandem auf, sie war für alle einigermaßen gleich. Was mochte sie sein, da sie mitten in der härtesten Wirklichkeit sich in Heliotrop und andere exotische Düfte weit fortträumte? Eine Tochter des Volkes, deren Vorstellungen die Revolution umgekrempelt hatte? Oder Kind einer der Hunderttausende von Oberklassefamilien, die die Entwicklung ins Lumpenproletariat hinabgestoßen hatte? Es war unmöglich zu entscheiden.
Ich hatte — vielleicht von ihrer Inbrunst angesteckt - auch angefangen, mir die Parfüme anzusehen, und ließ mir eins davon einpacken, ein sonderbar geformtes Fläschchen, das sie lange zögernd in der Hand gehalten hatte. Ich tat, als steckte ich es zu mir - und fand die Gelegenheit, es in ihre gähnende Manteltasche hinabgleiten zu lassen. Dann wählte ich meine Seife und verschiedene andere Sachen aus und wollte bezahlen. Der Verkäufer nahm seinen Block hervor und begann aufzuschreiben, bei dem Parfüm aber stockte er. „Ja, wie war denn nun der Preis?" sagte er nachdenklich. „Wir haben es nämlich gerade hereinbekommen. Würde der Herr so freundlich sein, mich die Kartonnummer sehen zu lassen?"
Da stand ich nun, ratlos und erschlagen! Was jetzt? Das Fläschchen aus der Manteltasche der fremden Dame wieder herausholen war ja nicht gut möglich. Glücklicherweise dauerte es nur einen Augenblick, bis ich wieder Herr der heiklen Lage war. „Die Ware wieder herausholen? — Nein, das tu ich weiß Gott nicht!" sagte ich lachend. „Sie ist eingepackt und in der Tasche, und da bleibt sie. Es ist Ihre Sache zu wissen, was die Dinge kosten."
Der Ladeninhaber kam herbeigesprungen. „Ja natürlich", sagte er hastig zu dem Verkäufer, „natürlich, Mann! Sie brauchen doch nur in der Rechnung nachzusehen." Die junge Frau richtete ein Paar tiefernste Augen auf den unhöflichen Ausländer, und ich sputete mich durch die Tür mit dem Gefühl, nicht besonders glücklich gewesen zu sein. Jedenfalls aber war die Situation gerettet.
Etwas besonders Merkwürdiges wäre ja an diesem Vorfall nicht gewesen, wenn nicht eben die Begegnung mit der jungen Frau angefangen hätte, in mir herumzuspuken. Überall wo ich ging und stand, fühlte ich die schönen Augen voller Verwunderung und Vorwurf auf mir ruhen. Nach und nach verwischte sich die Gestalt, ja, auch die Gesichtszüge verwischten sich; zurück blieb ein tief trauriger Blick, der mir aus Not und Elend entgegenstarrte, wohin ich mich auch wandte.
Schließlich verschwanden auch der Blick und der vage Traum, den er in mir nährte; die harte Wirklichkeit nahm den Tag wieder ganz in Besitz. Und als ich dann nach fast einem Jahr die Begegnung mit der jungen Frau ganz vergessen hatte, führte uns ein freundliches Geschick wieder zusammen.
Es geschieht einem allerhand zwischen Jahr und Tag. Ja, wenn ich zurückdenke, erscheint mir mein ganzes Leben häufig voll der merkwürdigsten Mystik. Es gibt Tage, wo einem alles, selbst das Atmen, seltsam rätselhaft ist. Die Wirklichkeit vermag märchenhaft zu sein, wunderbarer als das sonderbarste Märchen; und das Märchen zu erleben, kann einem hinwiederum so selbstverständlich erscheinen, als wäre es bloß aus dem Alltag herausgegriffen. Es ist oft schwer zu sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt; aber das ist im Übrigen kein Schade.
Ich war längst wieder nach München zurückgekehrt und wohnte in der weiteren Umgebung der Stadt, an dem herben Ammersee. Ich ging dort spazieren, flickte an meiner ziemlich ramponierten Gesundheit herum und kümmerte mich klüglicherweise nur um mich selbst. Nach München kam ich selten, und noch seltener kam jemand aus München zu mir. Es waren Zeiten, wo man in dem früher so freien Bayern vorsichtig sein musste; selbst die unschuldigste Handlung konnte für einen Fremden verhängnisvolle Folgen haben.
Aber ich besitze die glückliche Eigenschaft, das Gras wachsen zu hören, und wusste ziemlich genau, was los war. Es war eine schwere, eine spannende Zeit. Die Reaktion hatte gesiegt und setzte dem Volk den Fuß auf den Nacken; die Stadt stand unter der Diktatur von Söldnertruppen, Korpsstudenten und Gymnasiasten. In bewaffneten Banden zogen sie durch die Straßen, und wo zwei Arbeiter zusammenstanden und miteinander sprachen, wurden sie mit Gummiknüppeln auseinander getrieben. Sie wagten nicht, aufzumucken; ein Grünschnabel mit Studentenmütze genügte, die früher so festen, zielbewussten Münchener Arbeiter ins Mauseloch zu jagen.
Aber unter der Oberfläche entwickelte sich üppig die neue proletarische Jugend. War die organisierte alte Arbeiterschaft müde und mutlos geworden und beinahe bereit, ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht zu verkaufen — mit ihren Abkömmlingen geschahen Wunder. Diese Jugend, die während des Krieges und auf dem nackten Pflaster aufgewachsen war — ausgehungert, verwahrlost, vaterlos und ohne Schulunterricht, die sprang nun zu und stemmte der hinsinkenden Tradition die Schulter entgegen. In den Gewerkschaften war es der eine oder andere Halbstarke, kaum sehr ausgelernt, der sagte, was zu sagen war, während die erprobten alten Praktikusse ratlos dabeisaßen und die Schnauze hängen ließen. Von dieser Jugend wurde behauptet, dass sie ein richtiges Kriegsgezücht sei: zigarettenbesessen, tanzwütig, genusssüchtig — ruchlos. Diesen schlechten Ruf nutzte sie beherzt dazu aus, die so genannten „Vergnügungsvereine" zu gründen, denen die Polizei eine Zeitlang allerlei nachsah, weil sie meinte, es sei besser, dass sich die jungen Leute gegen das Lustbarkeitsverbot vergingen als dass sie sich mit Politik abgäben.
Ich hatte von dieser Jugend genug Gutes wie Schlechtes gehört, um Lust zu fühlen, selber ihre „Vergnügungen" kennenzulernen. Aber obgleich ich von dieser Seite zu wiederholten Malen kameradschaftliche Lebenszeichen erhielt, gelang es mir niemals, in ihre Versammlungen hineinzugelangen. Es war, als lege mir eine unsichtbare Hand freundlich, aber bestimmt Schwierigkeiten in den Weg. Da gab ich es auf — nicht wenig verärgert. Erst später wurde mir klar, wie fürsorglich man gehandelt hatte, indem man den Ausländer, der kurzen Prozess zu befürchten hatte, fernhielt.
An einem warmen Sonntag saß ich im Englischen Garten, dem großen Münchener Park, auf einer Bank und döste vor mich hin; ich saß auf der Bank, zeichnete mit meinem Stock im Sande und ließ mir so richtig die Sonne auf meinen gebrechlichen Rücken brennen. Jemand setzte sich neben mich auf die Bank, ohne dass ich weiter darauf achtete, weil mich andere Dinge beschäftigten. Plötzlich wurde mir ein Gegenstand unter die Nase gehalten — ein sonderbar geformter Flakon; ein Duft von Heliotrop umwehte mich.
Ich sah verwundert auf, mehr träumend als wachend. Der große forschende Blick — die Seele — die Seele! Ja, es war doch sie! Aber das Gesicht war voller und in der Farbe gesünder, auch die Kleidung war besser. Sie hatte die Fortschritte des vergangenen Jahres mitgemacht.
Sie lachte über meine Verblüffung. „Endlich!" sagte sie nur.
„Ja?" rief ich froh überrascht, „haben Sie also auch...? Sie haben also auch gehofft, dass wir uns wieder begegnen möchten?" Der alte Traum in mir war mit eins wieder zum Leben erwacht; er jagte mir in heftigen Stößen das Blut zum Herzen und wieder in den Leib, mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Sie lächelte still in die Ferne. „Ich weiß jemand, der sich sehr freuen wird, dich kennen zu lernen", sagte sie ruhig. Vielleicht spürte sie Enttäuschung in meinem Blick, denn sie fügte hinzu: „Nun, mir tut es ja auch nicht gerade leid, dich wieder zu sehen."
Das vertrauliche Du sagte mir, dass sie der Unterklasse angehörte und mich kannte — aber woher? Und wer war sie überhaupt, wessen Auftrag führte sie aus?
Ich bestürmte sie mit Fragen, aber sie antwortete nur mit einem warnenden Blick. „Es ist besser, wir gehen", sagte sie gedämpft:. „Es braucht niemand zu wissen, dass wir uns kennen. Begleite mich nach Hause! Mein Mann liegt krank — es wird ihn freuen, dich zu begrüßen." Sie stand auf, ihre Augen blickten unruhig.
Ich fuhr unwillkürlich zusammen, irgendwo in meinem Innern tat es weh. Er war also verheiratet, mein Traum! Ganz banal verheiratet, verheiratet recht und schlecht! Hatte vielleicht sogar das Nest voller Gören. „Haben Sie auch Kinder?" stammelte ich. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, das kameradschaftliche
Du anzuwenden.
„Ja, Genosse", antwortete sie und strahlte plötzlich auf, „einen Jungen!" Sie hatte mit einem mal alle Vorsicht vergessen. „Und rate mal, wie er heißt. Pelle heißt er — Glückspeter! Aber jetzt müssen wir nach Hause — Jakob wartet auf uns. Geh zum Haupteingang und nimm die Linie II, ich steige dann weiter unten auf. Und wenn du mich abspringen siehst, dann steigst du an der nächsten Haltestelle aus."
Ich tat, wie sie sagte, begriff aber nicht sehr viel von alledem. Froh war mir auch nicht dabei, irgendetwas wurmte mich. Wir fuhren lange, durch den Arbeitervorort Schwabing und noch weiter hinaus, an Bauplätzen und Feldern vorbei. Zwischen letzter Haltestelle und Endstation sprang sie während der Fahrt ab. Der Schaffner schimpfte ihr in heftiger Bauernsprache hinterher.
Sie war zwischen Feldern, die mit Küchenkräutern bepflanzt waren, in einen Pfad eingebogen, und ich folgte ihr mit Abstand. Jung, von vollendeter Figur und bezaubernd schön lief sie vor mir her, ohne sich ein einziges Mal umzusehen; setzte über einen Graben, verschwand in einen unfertigen Mietskasernenblock, lief in einen Torweg hinein und weiter durch zwei, drei Hinterhöfe.
Ich hielt mich in gebührendem Abstand, folgte ihr fast widerwillig nach und verlor sie im Wirrwarr des Hinterhofes mehrmals aus den Augen.
Auf einem düsteren Treppenflur, ganz oben unter dem Dach einer ungeheuren Mietskaserne blieb sie endlich stehen und wartete auf mich. „So, jetzt sind wir im trocknen", sagte sie leise, „jetzt brauchen wir nur noch über den Boden." Sie reichte mir eine weiche, warme Hand und leitete mich an dunklen Polterkammern vorbei--ah, diese Hand!
Am Ende des Ganges war eine Tür mit einem Hängeschloss davor, eine richtige Polterkammer, aber hinter der Tür verbarg sich die herrlichste Dachstube, hell, ja voll des Himmelslichts, wie nur eine Dachstube es sein kann, und mit einer Aussicht über die Großstadt hin wie von einem Gebirgsgipfel. Es war ein Giebelzimmer, nach beiden Seiten hin schräg; unter der einen Schrägwand stand ein Bett, unter der anderen ein Diwan; und auf dem Diwan lag ein vierzig-, fünfzigjähriger Mann und starrte uns gespannt entgegen. Er war halb angezogen und ausgezehrt; sein Blick brannte wie verzehrendes Feuer aus dem totenbleichen Gesicht; es sah aus, als fresse sich die Glut der Augen langsam durch seinen Kopf; so tief lagen sie.
„Hier bringe ich ihn dir endlich, Jakob", sagte meine Begleiterin und umfasste ihn mit einem Blick voll grenzenloser Liebe.
Der Kranke lag auf den Ellbogen gestützt, die Hand in seiner schwarzen Mähne begraben; er betrachtete mich lange, unverwandt, als stünde ihm eine weite Reise bevor und müsste er sich meine Züge genau einprägen. Dann nahm er meine rechte Hand zwischen seine mageren heißen Hände und hielt sie fest. „Danke, dass du gekommen bist", sagte er leise und eindringlich. Es war eine Liebkosung, bis in die Herzwurzeln drang sie mir. Ich hatte das herrlichste Gefühl von allen: unbewusst einem anderen Menschen etwas gewesen zu sein.
Die junge Frau hatte mit dem Ausdruck tiefsten Glücks dabeigestanden; mit einem verliebten Lächeln, das uns beiden galt, genoss sie unsere Begegnung. Jetzt trat sie herzu, nahm meine freie
Hand in die ihrige und strich mit der andern dem Kranken übers Haar. „Das ist also mein Mann", sagte sie mit besonderer Betonung und sah mich an mit Augen, die vor Stolz leuchteten.
„Und der Junge?" fragte ich und sah mich in dem Zimmer um.
Mit einer unsäglich schönen Geste legte sie die Hand auf ihren Leib. Einen kurzen Augenblick stand sie mit geschlossenen Augen da, als hätte sie sich plötzlich von uns beiden weggeträumt -dann riss sie sich los. „Nun, ich will gehen und euch allein lassen", sagte sie rasch. „Ich muss hinunter und einige Besorgungen machen."
Die Augen des Kranken hingen an ihr, bis sie aus der Tür war. Dann drehte er sich mit einem Seufzer zu mir her, entdeckte aber etwas Bestimmtes in meinem Ausdruck und musste lächeln. „Ja", sagte er leise, „wir sind alle in sie verliebt, alle, die... Und ist es ein Wunder? Wer möchte nicht im Licht ihres Wesens leben!" Er strich sich übers Gesicht, als wollte er etwas wegwischen. „Komm, setz dich her."
Er räumte die Zeitungen von dem Stuhl am Kopfende und lag still und hielt meine Hand. „Ihr seid einander schon früher begegnet", flüsterte er in leiser Freude; „weißt du, wie wir das entdeckt haben? Durch das Bild in einem deiner Bücher. Und durch die Genossen erfuhren wir, dass du dich in München aufhieltest. Es ist schön, dass du nun hier bist."
„Ja, es war in Konstanz, in einem Parfümeriegeschäft; eine seltsame Begegnung übrigens."
„Wieso?" fragte er mit einem Ausdruck, als sei ihm nichts in der Welt seltsam.
„Ja, sie - sie ist kein gewöhnliches Proletarierkind."
Er lachte über den Ausdruck.
„Nein, in der Unterklasse geboren ist sie nicht - sie ist sogar aus altem Adel. Aber Proletarier ist sie mehr als einer von uns beiden. Das ist doch gerade das Schöne an unserer Bewegung, dass sie nicht mehr Ausdruck einer einzigen Klasse ist, sondern ins Allgemeinmenschliche emporgehoben ist - dass die Entwicklung sie zur führenden Weltanschauung gemacht hat."
„Aus altem Adel?" fragte ich verwundert.
„Ja, sie ist die Tochter des Generals S. — eines der hohen Herren, die den Weltkrieg verloren und sich hinterher an uns revanchiert haben. Du kennst ihn bestimmt."
„General S. der Henker?"
„Jawohl, Hochverehrter! Sie ist der beste Mensch auf dieser geschändeten Erde und dabei die Tochter des schlimmsten aller Teufel; muss man da nicht Optimist werden? Übrigens war er es, der in Anwendung auf die Unterklassebewegung den Begriff Säuberung erfunden hat und in die Verfolgung System brachte. Der Plan läuft schlechtweg darauf hinaus, das revolutionäre Proletariat zu köpfen. Ich war einer der ersten, die an der Reihe waren, als man sich von dem Revolutionsschreck wieder erholt hatte; irgend etwas Handgreifliches, mich um die Ecke zu bringen, lag eigentlich nicht vor, ich war im allgemeinen gefährlich. Einer schönen Nacht wurde ich also aus dem Bett geholt, der Apparat wurde auf mich losgelassen. Die Prozessverhandlungen an sich waren nicht besonders gefährlich, ich hatte verhältnismäßig anständige Richter; es bestand sogar die Möglichkeit, dass ich freigesprochen würde. Aber gerade hierin lag die Gefahr; die Reaktion war hinter mir her — ich sollte unschädlich gemacht werden. Wie gern hätte ich nicht eine Verurteilung zu zwei, drei Jahren hingenommen; nun musste ich darauf gefasst sein, in aller Stille um die Ecke gebracht zu werden, auf der Flucht, wie man es nannte, oder auf ähnliche Weise erschossen zu werden. Wir hatten ja rein faschistische Zustände hier, und jede Nacht erwartete ich, dass traditionsgemäß Offiziere in meine Zelle eindringen und meine Auslieferung fordern würden — um dann bei Nacht und Nebel kurzen Prozess mit mir zu machen.
Wartezeiten sind immer lang, und besonders in einem Fall wie dem meinen. Deshalb empfand ich es beinahe als eine Befreiung, als sie eines Nachts endlich kamen, die Wächter mit dem Revolver bedrohten und mich ausgeliefert erhielten. Ich wurde in ein Automobil geschleppt und weit hinaus vor die Stadt gefahren. Ich war mir klar darüber, dass es nun mit mir vorbei wäre, ohne dass ich es mir im übrigen besonders zu Herzen nahm. Wir Revolutionäre sind ja Tote auf Urlaub, wie Leviné so schön sagt. Aber anstatt mich zu ermorden, übergaben sie mich einer jungen Dame und verschwanden.
Das war nun nicht das angenehmste, was mir passieren konnte; ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht vorgezogen hätte, Angesicht zu Angesicht ein paar Söldlingen mit scharfgeladenen Revolvern gegenüberzustehen. Wie merkwürdig es mir heute vorkommt, so hatte ich mich damals trotz meiner vierzig Jahre noch nie besonders für Frauen interessiert; die Bewegung hatte alle Kräfte und Fähigkeiten in mir mit Beschlag belegt. Und da stand ich denn nun." Er hielt inne und rang nach Atem.
„Und dann?" Ich war so gespannt, dass ich gar nicht merkte, wie erschöpft er war.
„Ja, wie du siehst. Jetzt teilen Johanna und ich das Leben miteinander und sind die glücklichsten Menschen von der Welt."
„Ja, eben! Aber wie ging das eigentlich zu? Ich versteh nicht richtig..."
„Das war ganz einfach, du! Johanna hatte - vor allem wohl aus Neugier — den Wunsch geäußert, mal so einen richtig ruchlosen Gesellschaftsfeind zu sehen und zu hören, und ihr Vater, der General, nahm sie denn mit in den Gerichtssaal, an dem Tag, wo ich meine Verteidigungsrede hielt; die ging natürlich nicht darauf aus, mich zu verteidigen, sondern die gesellschaftlichen Zustände anzuprangern. Und da - ja, da sah sie denn hinterher die Dinge mit anderen Augen an. Und konsequent wie sie ist, entschloss sie sich sogleich, mich zu befreien. Sie stahl ein paar von Vaters Mänteln und bestach zwei seiner Landsknechte, ins Gefängnis einzudringen und mich unter dem Vorwand, ich solle nächtlicherweile zum Verhör, herauszuholen. Sie traten ja auch als Offiziere auf - und machten es im übrigen gut."
„Und seitdem hast du dich verbergen können?"
„Bisher ist es erstaunlich gut gegangen, obwohl wir nicht viel Rücksicht auf uns genommen haben; bei den Behörden und bei den Schwarzen hat man wirklich geglaubt, ich wäre aus dem
Dasein hinausspediert worden. Aber jetzt sind auf irgendwelche Weise Zweifel aufgetaucht, und die Jagd nach mir ist von neuem im Gange. Lange wird es nicht dauern, bis man mir auf der Spur ist, und heute hat auch die legale Gerechtigkeit genug, woran sie sich halten kann."
„Du musst so rasch wie möglich über die Grenze. Kann ich nicht..."
„Ja, siehst du", er trommelte verlegen auf dem Keilkissen, „das war es gerade, worüber ich mit dir sprechen wollte. Reisen und umherirren, das kann ich nicht mehr — ich habe Unterleibskrebs. Und zurück ins Gefängnis kann ich ebenso wenig nach dem schönen Jahr, das ich hinter mir habe."
„Du willst sterben?" Ich fürchte, ich sagte es ziemlich erschreckt.
Er nickte. „Johanna und ich sind uns einig, dass es so am schönsten wäre — auch für den Jungen. Den Tod habe ich nie gefürchtet, und mein Leben ist reich genug gewesen, dass ich es jetzt abschließen kann. Es ist eine harte Zeit, worin wir leben; sie verbraucht ihre Menschen rasch. Ich bin müde — das macht wohl die Krankheit - und sterbe gern, nur nicht durch Henkershände. Willst du mir einen großen Dienst erweisen?"
„Ja", antwortete ich ein bisschen kleinlaut.
Er lächelte. „Nein, daran denke ich nicht; das werde ich schon allein ordnen. Warum übrigens diese Angst vor dem Blut? Das Blut aller Revolutionen ist doch nichts gegenüber dem Blut, das in diesem Weltkrieg vergossen wurde. Und das Blut dieses Krieges war Blut des Brudermordes, während das der Revolution Blut ist, das bei jeder Geburt fließen muss."
Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn; man sah es ihm an, dass er große Schmerzen hatte.
„Nein, aber wovon ich abkam: willst du dich Johannas und des Kindes annehmen, das sie trägt?"
Ich nickte, es war mir nicht möglich, ein Wort hervorzubringen.
Er nahm meine Hände.
„Weißt du auch, was ich dir mit ihnen anvertraue? Es ist das Teuerste, was du und ich und wir alle besitzen - es ist die Fee der Freiheit selbst! Als wir in der dunklen Nacht über die Felder gingen, die Generalstochter und ich, sagte sie zu mir: ,Nein, ich habe nicht dich gerettet; du hast mir das Leben gerettet! In acht Tagen soll ich mich mit einem dieser blutbesudelten Säbelrassler, mit einem Grafen verheiraten; ich will ihm aber nicht mein Bestes geben. Nimm mich, du! Nimm mich und mach mir einen Jungen - dann können die anderen den Rest gern haben!' - Sie stand vor mir, flammend und desperat, und ich begriff, dass es nicht eine gewöhnliche Frau war, die verzweifelt an ihren Ketten zerrte, sondern dass die Göttin der Revolution selber zu mir auf die Erde herabgestiegen war. Und als sie dann hinterher in den Reichtum und in die sterile Gesellschaft nicht zurückkehren
konnte - lieber, lieber Freund!--Ich habe mein Leben mehr
unter als über der Erde gelebt, und auf meinem Wege bin ich im Ernst nur einer einzigen Frau begegnet. Aber dort unten eröffnete sich mir eine neue Welt; es wächst da unten, Genosse - oft auf seltsame Weise. Die Mysterien sind dort zu Haus - und das verborgene Werden. Dort in der Tiefe, unter dem klopfenden Herzen des Lebens, liegt die Zukunft, wohlig sich dehnend wie die träumende warme Frucht im Mutterleib.
Und sieh, wie sie sich begegnen, meine unterirdische Welt und meine Johanna! Deshalb gebe ich sie und den Jungen in deine Hände! - Und jetzt geh, ich bin müde!"
Er ließ meine Hand fahren und drehte sich zur Wand.
1925
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