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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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TREU BIS IN DEN TOD
Erinnerung vom Ufer der Kindheit

Man hört so oft sagen, dass in der heutigen Zeit ein jeder vorankommen könne, sofern er nur Talent habe; man soll sich geradezu darum reißen, die Begabungen aus ihrer Unbekanntheit ans Licht zu ziehen und sie zur Entfaltung zu bringen. Es ist beinah zur wichtigsten Rechtfertigung des Bestehenden — ja, kurz gesagt, zu ihrer Daseinsberechtigung selber — geworden, dass unsere Gesellschaft so vollkommen sei, dass jeder nach seinem Verdienst vorankomme.
Jedes Mal, wenn ich das höre, muss ich an alle die armen Menschenseelen denken, die ich bei ihrem hoffnungslosen Kampf um den Aufstieg ans Licht habe verkommen und zugrunde gehen sehen. Wenn sich nur ein Bruchteil der außergewöhnlichen Begabungen, die im Laufe der Zeit im Volke vorhanden waren, aber nie ans Tageslicht gekommen sind, voll entfaltet hätten, würde die Welt von heute anders aussehen.
Nun besteht ja das alte Wort zu Recht, das da besagt, es wäre sinnlos, über ungeborene Kinder Tränen zu vergießen, aber traurig ist es doch, wenn man ansehen muss, wie sich eine Begabung ans Licht ringt und einen heroischen Kampf kämpft, sich zu behaupten — und unter der Erbarmungslosigkeit des Alltags zusammenbricht.
Als Kind hörte ich die Erwachsenen oft von dem Musikgenie Bohn erzählen, einem Häusler oben in Nordbornholm; alle auf der Insel schienen über ihn und sein Schicksal Bescheid zu wissen. Er konnte ein Instrument spielen, sobald es ihm in die Hand fiel, ja, er vermochte sogar anscheinend toten Dingen Melodien zu entlocken: einer Tischplatte, einer Fensterscheibe, einer leeren Flasche. Die Notenschrift hatte er sich selber beigebracht, und er konnte eine Melodie ebenso rasch niederschreiben, wie sie gespielt wurde. Er komponierte viele Musikstücke und orchestrierte sie auch; er schuf und dirigierte selbst ein großes Orchester, das auf der ganzen Insel berühmt war. Und alles das, während er bei den Bauern auf Arbeit ging und seinen kleinen Besitz versorgte, eine Häuslerstelle mit einigen Kühen.
An und für sich war er ganz glücklich dabei, wollte ja aber auch gern, dass seine Arbeiten in weitere Kreise kämen; und als der Pfarrer einige seiner Kompositionen an sachverständige Leute in der Hauptstadt sandte, war er nicht gerade böse darüber. Im Gegenteil, Häusler Bohn wurde immer gespannter, als es erst einmal geschehen war; es war die große Schlacht, worauf er sich hier eingelassen hatte! Aber man hörte nichts mehr von der Sache, da mussten seine Arbeiten also doch wohl nichts Richtiges gewesen sein; allmählich fand er wieder in die Ruhe seines alltäglichen Daseins zurück.
Aber als er einmal in der Stadt war — es waren Jahr und Tag darüber hingegangen — fielen ihm einige neuerschienene Musikstücke in die Hände, und in denen erkannte er seine eingesandten Arbeiten wieder. Der angesehene Komponist hatte sie bloß „eingerahmt", ehe er sie als seine eigenen herausgab.
Bohn ging nach Hause und schlug seine und seiner Jungen Musikinstrumente in Trümmer, verbrannte alles, was an Noten und Aufzeichnungen vorhanden war, und verbot den Jungen unter schweren Drohungen, jemals ein Musikinstrument anzurühren oder an Musik zu denken. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er ihnen am liebsten das schon Erlernte wieder ausgeprügelt.
Von dem Tage an hasste er die Musik. Sein Gesicht verzerrte sich, wenn er nur einen Laut vernahm, der an einen Klang erinnerte; wenn oben auf der Landstraße musizierende Spielleute vorbeizogen, wurde er wild und suchte etwas zum Kaputtschlagen. Obwohl er sehr fromm war, ging er nicht mehr in die Kirche. Er hatte Angst vor dem Gesang und konnte wie ein kranker Hund zu heulen anfangen, wenn die Orgel einsetzte.
Acht Söhne hatte er. Wie ein Satz Orgelpfeifen waren sie tripp, trapp, Holzschuh —, der eine noch wohltönender als der andere, bis hinunter zum jüngsten, dem kleinen Janus, der mit seinen vier, fünf Jahren das reinste Wunder von einem Musikgenie war. Sie waren bereits gut aufeinander eingespielt, der Häusler Bohn und seine Jungen, und waren bei mehreren großen Festlichkeiten mit viel Erfolg aufgetreten. Sein Traum war, ein Orchester zu bilden, desgleichen die Welt womöglich noch nie gesehen hätte.
Jetzt folgte eine böse Zeit für die Jungen. Es war, als ob es die Natur nicht zulassen wollte, dass so schöne Begabungen zugrunde gingen — als ließe sie den Fehlschlag des Vaters als verstärkte Triebkraft in den Kindern wiedererstehen. In vielfältigen Formen brach das Musikalische aus ihnen heraus, aber der Vater erkannte den Teufel trotz aller Verkleidung und war unbarmherzig mit dem Stock hinter ihm her. Der kleine Janus hatte eine Flöte vor der Vernichtung gerettet, er versteckte sie draußen auf dem Weideplatz und zog sie nur hervor, wenn er sich ganz allein wusste. Er hatte sich unten in den Abhang eine Höhle gegraben; dort versteckte er sich, wenn er spielte — um ganz sicher zu sein. Aber eines Tages erwischte ihn der Vater doch; er zertrat die Flöte unter seinem Holzschuh und hätte in seinem unversöhnlichen Ausrottungskrieg beinahe auch den Jungen zuschanden geschlagen.
Er hatte zu trinken angefangen und war dem Hause nach und nach ein wahrer Teufel geworden. Nur wenn er den Punkt erreicht hatte, wo andere sinnlos betrunken sind, tauchte der frühere Mensch wieder in ihm auf; dann fing er zu prahlen an und musikalische Kunststücke zu machen.
Die Söhne rückten aus, sobald sie konnten. Und draußen fanden sie zu sich und begannen wieder Musik zu machen — mit dem Ergebnis, dass sie sich daheim nicht mehr zeigen durften; sie blieben Steinhauer oder Landarbeiter. Sobald Janus, der jüngste, herangewachsen war, bildeten sie unter seiner Leitung ein Orchester. Sie wurden bekannt, sie mussten manchmal ganz hinunter in den Süden der Insel, um bei größeren Festlichkeiten aufzuspielen. Da habe ich sie als Junge selber gesehen. Sie gingen die vier, fünf Meilen immer zu Fuß, und für den einsamen Hütejungen war es jedes Mal ein Fest, wenn das Sonnenlicht plötzlich zu tönen begann und zu Hornmusik wurde und die acht jungen Brüder mit lustig in den Tag geschmetterten Melodien anmarschiert kamen.
Eines Morgens fand man den alten Bohn im Grase vor den Saalfenstern eines großen Bauernhofes, wo die Söhne in der Nacht zu einem Fest gespielt hatten, tot auf — um sie zu hören, hatte er sich dahin geschlichen. Einige meinten, er hätte vor Zorn den Schlag gekriegt, andere hielten dafür, dass er vor Gemütsbewegung gestorben wäre.
Ich hatte alles das vergessen. Es lag wie eine geologische Schicht irgendwo tief in meinem Innern, begraben unter so viel anderem, was das Leben später darauf abgelagert hatte.
Letzten Winter war ich eines Sonntags bei einem Landsmann zu Besuch, der in der Schweiz verheiratet und ansässig ist. Wir hatten zu Mittag gegessen, dem Gast zu Ehren gute dänische Fleischbrühe mit zwei Sorten Klöße und Meerrettichsoße zum Fleisch. Jetzt saßen wir im Arbeitszimmer des Hausherrn, rauchten Schweizer Stumpen und waren so recht in gemütlicher Heimatsstimmung.
„Ein kleiner Geisteshauch von zu Hause könnte uns jetzt ganz passend kommen", meinte der Hausherr und fing an, an dem Radio zu pusseln. „Leider ist das liebe Vaterland am Tage gar nicht leicht hereinzubekommen — seltsam genug, wir Dänen sind doch sonst kein lichtscheuer Menschenschlag." Er sagte das so verdrossen, dass ich lachen musste.
„Versuch einmal die kurzen Wellen", schlug seine Frau neckend vor. „Damit kriegt man euch wahrscheinlich leichter — ihr seid ja nun einmal ein Häuslervolk!"
Er saß da und drehte den Einstellknopf probierend hin und zurück. Merkwürdige Laute schlüpften während seines Suchens aus dem Apparat: ein Stückchen Jazz aus London, einige Nasallaute aus Königswusterhausen. Ab und zu hatte er das Pech, an den Weltenraum selber zu geraten, und Heultöne drangen heraus, dass es mir kalt den Rücken herauf- und herunterlief. Da plötzlich floss ein sanfter Tanzrhythmus heraus, schmiegte sich einem zärtlich ins Gemüt — und war im selben Nu verschwunden.
„Da hatte ich tatsächlich Dänemark", sagte mein Gastgeber und wurde ganz nervös. Er suchte umständlich an der Stelle, wo die Melodie aufgetaucht war, und noch ein paar Mal fingen wir den sanften Walzer wie im Vorüberhuschen ein — zwei, drei abgerissene Takte, wiegend, gleitend. Dann war es aus, und während mein Gastgeber vergebens weiter suchte — leise fluchend, wie nur ein Däne das kann —, wurde ich von den paar Takten unmerklich in die Zeiten zurückgewiegt und landete sanft daheim, am Ufer der Kindheit.
Ich saß in der Scheune an der Wand und machte mich ganz klein — damit man den Hütejungen nicht entdeckte und ihn ins Bett schickte. Es war doch Erntefest, und die Scheune war der Tanzboden. Auf einem Tisch saß ein junger Steinhauer und spielte die Geige, und auf dem Boden tanzten sie, dass mir alles in eins verschwamm. Der Bauer tanzte mit Karoline, dem drallen kleinen Stubenmädchen, die immerzu das Gesicht voller Lachgrübchen hatte, und der Großknecht tanzte mit der jungen Frau des Bauern — dass er es wagte! Er ließ sie nicht vom Tanzboden weg, und als die Musik endlich aufhörte, zog er die Jacke vom Leibe und wrang sie aus, dass das Wasser auf die Erde troff.
„Spiel uns den Liebeswalzer", rief jemand. „Ja, deinen eigenen Walzer!" riefen sie wie aus einem Munde und klatschten in die Hände. Und der Steinhauer begann von neuem zu spielen, legte das Kinn behutsam an die Geige und wiegte sich mit geschlossenen Augen hin und her, als träumte er die zärtlich sanften Töne ins Leben. Der Bauer tanzte mit seiner jungen Hausfrau, sie legte den Kopf an seine Schulter und nahm damit eine schwere Last von meinem Jungenherzen — sie liebte ihn also doch! Und der Großknecht tanzte mit Karoline, seiner Herzallerliebsten! Es war ja der Liebeswalzer, und deshalb war alles, wie es sein sollte. Wie sie über den Boden schwebten, die beiden Paare — alle! Die Frauen mit geschlossenen Augen, selig, selig; die Männer mit herausforderndem Gestampfe auf die Dielen.
Ich bekam nicht viel Schlaf in jener Nacht, und am nächsten Tag saß ich draußen auf dem Weideplatz unter dem Dornbusch. Der Regen nieselte den ganzen Tag einförmig herab, und die Kühe hielten sich dicht bei meinem Platze auf, als suchten sie bei mir Schutz. Mit krummen Buckeln und den Schwanz in die Höhe standen sie grämlich da und käuten wieder, während ihnen die Nässe aus dem Fell troff.
Ich hatte einen alten Fahrmantel des Bauern über dem Kopf. Es tropfte von dem Dornbusch herunter, aber ich saß gut geschützt, den ganzen Tag inwendig schlafend. Durch die schwach geöffneten Augen konnte ich gerade die ausgerichtete Kuhherde wahrnehmen. In meinem Innern drehte es sich wie ein Karussell: der Tanzboden, die Paare, der süße Walzer. Der saß im Rauschen des Blutes, schlug mit in den hörbaren Schlägen des übernächtigten Herzens, pumpte, wiegte, und dazu das Stampfen, das zärtliche Kreischen der Frauen, der lichte Staubnebel rund um die Laterne. Schließlich saß es mir wie Lebensangst an der Kehle, so dass ich vor Entsetzen wiederum laut aufschreien musste — wie die Nacht zuvor, als starke Hände mich kleinen Knirps unter der Bank hervorgezogen und ins Bett gelegt hatten.
Auch jetzt war ich drauf und dran zu schreien, mit einem schweren Atemzug wachte ich auf, als mein Gastfreund sein Suchen einstellte und abdrehte — länger hatte mein Flug an den Strand der Heimat nicht gedauert. Aber wie damals war ich in Schweiß gebadet und krank vor innerer Aufregung, und im Munde hatte ich einen Geschmack wie von warmem Blut. Jetzt erinnerte ich mich! Schweden-Anders, der Tagelöhner, hatte Karolines wegen das Messer gegen den Großknecht gezückt — der Liebeswalzer hatte ihn verrückt gemacht. Das war es ja, weshalb ich damals von der Bank auf den Boden hinuntergefallen war! — Verwirrt wie nach einem schweren Traum nahm ich das Programm und schlug nach: Walzer von Häusler Janus Bohn stand da.
Der jüngste von den Söhnen des alten Bohn war also doch weitergekommen als der Vater, auf alle Fälle wurde er unter seinem eigenen Namen gespielt! Aber was war sonst aus ihm geworden? Ich ließ mir von meinem Gastfreund das Programm geben, damit ich mit ihm als Grundlage nachforschen könnte; ich musste es herausbekommen.
Im letzten Sommer erfuhr ich zu Hause auf Bornholm das Folgende über ihn:
Er war ebenso musikbegabt wie der Vater und wiederholte ihn in vielen Dingen. Er spielte wie selbstverständlich alle Instrumente, komponierte und orchestrierte seine Kompositionen selber. Aber darüber hinaus vertiefte er sich in das Wesen der Musikinstrumente und fing an, Harmoniums zu bauen und Klaviere zu stimmen. Janus Bohn war der erste auf Bornholm, der dieses Handwerk ausübte; bis dahin hatte man jedes Jahr einmal einen Klavierstimmer herüberkommen lassen. Das fiel nun weg, aber die Leute mussten sich damit abfinden, dass ihre Klaviere in der Nacht gestimmt wurden, denn am Tage ging Janus seiner Arbeit als Steinhauer nach. Für zwei Kronen ging er die vier Meilen quer über die Insel, stimmte ein Klavier und war morgens bei Arbeitsbeginn wieder zu Hause. Feilschten die Leute um den Preis mit ihm, pflegte er überhaupt kein Geld zu nehmen.
Auch darin war er dem Vater ähnlich, dass er nach und nach viele Kinder bekam — im Ganzen zwölf.
Als er hoch in den Vierzigern war, gab er die Steinhauerei auf und bekam eine Anstellung als Landbriefträger. Er konnte nun das eine tun, ohne das andere zu versäumen; er komponierte, während er über Land ging, und setzte sich auf den Grabenrand und schrieb mit der Brieftasche als Pult das Ersonnene nieder. Ein kleineres Instrument trug er stets in der Tasche bei sich, um die verschiedenen Stimmen auch mit dem äußeren Ohr ausprobieren zu können.
Um diese Zeit baut er seine erste Orgel — für seine eigene Gemeindekirche. Er spielt sie selbst, und die Filialgemeinde verlangt ebenfalls eine Orgel, so starke Wirkung übt sein Spiel. Es ist, als wäre unter dem Gottesdienst der Herrgott selber bei einem", sagt eine alte Frau. Janus Bohn spielt beide Orgeln jeden Sonn- und Feiertag und bekommt dafür fünfundzwanzig Kronen das Jahr. Er ist nun ein glücklicher Mensch, Beamter mit festem Gehalt! Die sieben Brüder sehen zu ihm, dem Benjamin, wie zu dem Ältesten der Familie auf; alle Menschen sprechen kopfschüttelnd von seinem Genie, sie bewundern ihn.
Er bleibt aber weiter dabei, an den Wochentagen die Post auszutragen, an den Sonntagen in der Kirche zu spielen und in den Nächten Orgeln zu bauen. Siebzehn hat er im Ganzen gebaut, als er sechzig Jahre alt wird. Sie stehen rundum in den Kirchen und Missionshäusern der Insel und zeugen von seinem Fleiß, seiner Treue und Geschicklichkeit. Janus Bohn ist ein glücklicher Mensch: worunter der Vater so kläglich zusammenbrach, ist ihm gelungen; im Ganzen genommen haben sie gesiegt. Und so sieht es Janus Bohn auch an.
Ja, Janus Bohn war gut daran! Als er sechzig Jahre alt geworden war, wurde sein Organistengehalt auf das Doppelte erhöht, und leise wurde davon gesprochen, dass nunmehr für ihn gesorgt werden müsste, damit er nicht mehr jeden Tag mit der schweren Posttasche auf dem Rücken seine vier, fünf Meilen zu traben brauchte, sondern sich hinsetzen und seiner Kunst in Ruhe widmen könnte. Der Reichstagsabgeordnete sollte dafür interessiert werden und sich dafür einsetzen, dass er vom Staat eine kleine Rente bekäme — irgendetwas musste getan werden!
Aber das Schicksal hatte seine eigene erhabene Absicht mit ihm und sorgte dafür, dass es zuerst an die Reihe kam. Während des Sommers war eine Zentralheizung in die Gemeindekirche eingebaut worden, und als die Anlage in Betrieb gesetzt wurde, machte Janus Bohns Orgel nicht mit und wollte ihrem eigenen Baumeister nicht gehorchen. Es wurde immer schlimmer mit ihr, und Janus kam zu dem Ergebnis, dass sie ganz und gar umgestimmt werden müsste. Der alte Musiker machte sich getrost an die Arbeit. Tagsüber trug er wie sonst auch die Post aus, und in der Nacht lag er oben auf dem kalten Dachboden der Kirche und arbeitete an seinem geliebten Instrument.
Es war ein strenger Dezember mit Schneestürmen und starkem Frost, und die Leute wurden langsam bedenklich wegen des Unterfangens des Alten — er könnte ja erfrieren da oben. Anderseits aber fiel es der Gemeinde schwer, das herrliche Orgelspiel zu entbehren, besonders jetzt, wo Weihnachten herankam; der Alte hatte versprochen, dass die Orgel zum Heiligabend fertig wäre.
Das war sie auch. Drei Wochen hintereinander lag er jede Nacht auf dem Boden und bastelte und mühte sich ab, um dann bei Tagesanbruch die Posttasche über die Schulter zu schnallen und in die Schneelandschaft hinauszuwaten. Ob ihn denn nicht fröre da oben auf dem Kirchenboden? Nein, er konnte die Wärme schon halten!
Als die Orgel aber fertig war, begann ihn zu frieren — und zwar so sehr, dass er zitterte. Er musste von der Kirche gleich nach Hause gehen und sich ins Bett legen — mit einer heftigen Lungenentzündung.
Aber seine geliebte Orgel hatte er wieder zum Spielen gebracht, schöner denn je zuvor. Man konnte ihm den Sieg aus den Augen lesen, bis der Fieberwahn ihn packte und seinen Blick verschleierte. Dann lag er da und arbeitete, weit in das Fieber hinein verfolgte ihn seine Aufgabe.
Den letzten Tag seines Lebens war er wieder klar; er wollte aufstehen und prüfen, ob sich die Stimmung gehalten hätte.
„Das brauchst du nicht, Vater", sagte die Frau, „der neue Lehrer ist drüben in der Kirche und übt. Er hat versprochen, für dich zu spielen."
Und so ging Janus Bohn beruhigt in den Tod.
um 1928


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