BROT
Eine Geschichte aus Granada und von überall
An anderen Orten war es schon längst Tag, aber die Sonne steht spät auf in Granada — die Berge sind ihr im Wege. Endlich lugte sie über die Gletscher der Sierra Nevada, und La Granadina erwachte und streckte sich, kroch von dem hohen Bett auf einen Stuhl, von da auf den Fußboden — und machte sich daran, ihre Locken neu aufzudrehen und das Gesicht mit frischem Mehl zu bepudern. Und bevor die Stadt dort wieder anfing, wo sie gestern aufgehört hatte, waren die Schatten schon ganz kurz.
Als die gähnenden Frauen und unordentlich frisierten Mädchen zum Marktplatz hinaufschlenderten, um für den ganzen Tag einzukaufen, waren die Bauern mit ihren Eseln schon dagewesen und hatten den Händlerinnen die Früchte der Vega und den Schlächtern Fleisch abgeliefert und waren mit dem Frühzug aus Malaga Tintenfische, kleine Haie, Tangflöhe, die als Garnelen gelten, Flundern, Muscheln und andere „Meeresfrüchte" — alles zusammen unter dem Namen Fisch — eingetroffen. Wo die Morgensonne zwischen die Pfosten der Buden eindrang, beglänzte sie schimmernde Schuppen und Perlmuscheln, strahlte sie auf Pyramiden von gelben und grünen Melonen, purpurfarbenen Tomaten, Granatäpfeln und Pfefferschoten, auf goldne Apfelsinen und bleiche Zitronen! Und auf Trauben — manche klar wie Alabaster, andere dunkelglänzend wie ein nackter Neger.
Es war Mitte Januar, Nachtfrost, und es fror die Menschen. Die Händler waren langsam und unwillig, die wenigen Käufer gingen träge herum und fragten nach Neuigkeiten. Die Sonne war den Menschen noch nicht in den Leib gedrungen. Eine einzelne Senorita schwärmte über den großen Platz, die wachsame Mutter oder Amme dicht auf den Fersen; arme Frauen lagen die
Gassen entlang auf den Knien und fächelten das Feuer in den Kohlenbecken an.
Aber die Sonne stieg, und bald steigerte sich das Gedränge auf dem Marktplatz, und Rufe erfüllten die Luft — das Leben meldete sich. Die Verkäufer schrieen und die Käufer feilschten; man wurde geschoben und stieß und drängte einander, rief sich über die Köpfe der anderen hinweg gegenseitig zu und erhielt ebenso Antwort.
Zwei Frauen begegneten sich in dem Menschenstrom und küssten sich — nach andalusischer Sitte. „Jesus Maria!" rief ein Fischverkäufer. „Kriege ich nicht auch einen?"
„Ja, wenn du uns sagst, wie alt dein Fisch ist!" schrie die eine Frau zurück.
„Caramba! Punjeta! Nicht so alt wie deine Hässlichkeit, Weib!"
„Scher dich, du Mannsstück —und lass deinen Fisch vom Armenamt begraben. Er stinkt!"
Barfüßige Jungen liefen in dem Gewimmel herum und riefen: „Zwanzig Zwiebeln für einen kleinen Schilling!" „Drei Zitronen für einen großen!" fiel das Obstweib ein.
Sonne und blauer Himmel — und ein Reichtum von Obst: frisch, saftig, farbenprächtig! Und ein Chaos von zerlumpten Gestalten, die sich einen ganzen Tag lang wie hungrige Hunde drängen und kämpfen, um einen Groschen für ein Brot zu verdienen. Diese unglücklich in das Leben Verliebten klammern sich saugend daran fest — doch wie eine kostspielige Kokotte wendet es sich von ihnen ab; sie verfolgen sie, aber sie verschwindet unter höhnischem Gelächter. Die Mehrzahl dieser Armen sind nicht zum Kaufen hier; sie kamen, um zu sehen, ob nicht eine kleine Kleinigkeit auch für sie abfallen würde. Und sie kommen jeden Tag wieder: grau vor Kälte, knochendürr vor Hunger, aber mit demselben unsterblichen Funken im Auge — Hoffnung! Und die Hoffnung trügt.
Am Eingang zum Marktplatz steht ein Bettler und streckt den Passanten einige schlechte Zitronen hin. Er zupft eine gutgekleidete Dame am Rock. „Ach, kaufen Sie, bitte", sagt er flehentlich „dann habe ich Geld für ein Brot. Ich bin so hungrig!"
„Sie brauchen mich nicht am Rock zu zupfen", antwortet sie „Ich werde schon selber kaufen, was ich brauche!" Sie rafft beleidigt ihre Röcke zusammen und geht weiter.
Wo die Fischbuden aufhören, stand unmittelbar neben dem Tintenfischverkäufer ein Mann mit zwei großen Körben Brot. Er hatte auf dem nackten Bürgersteig einige Brote einladend zur Schau gelegt und sah vergnügt drein. In kurzen Abständen ergriff er zwei Brote, sprang ins Gedränge hinein und rief mit den Broten wie Siegesfahnen hoch über seinem Kopf: „Brot! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot! Wer will..."
„...Band kaufen!" fiel der Bandverkäufer oben in der Gasse ein. „Fünfzehn Ellen Band für einen Spottpreis! Hallo, Mädchen!" — an zwei alte Frauen gewendet —, „fesselt eure Liebsten mit bunten Bändern! Band ist gut!"
„Brot ist besser! Der Segen der Armen! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot!"
Eine Frau glitt mit dem Strom zwischen die Buden und strich direkt an dem Brotverkäufer vorbei. Er winkte mit den Broten und rief: „Hallo, Senora Beppa, Maestra!"
Sie ging zu ihm zurück: „Wie froh du heute aussiehst, Don Rafael! Hast du in der Lotterie gewonnen?"
„Ja, beinahe!" Er zeigte strahlend auf die Brotkörbe.
„Das hätte ich nicht erwartet, dich hier anzutreffen. Und die Frau — und die Kinder — geht es ihnen gut?"
„Sie werden es besser haben, wenn ich das hier verkauft habe!" Er zeigte wieder auf die Körbe.
Senora Beppa bekreuzigte sich, und der Brotverkäufer gleichfalls. Sie dachten dasselbe dabei, aber dass sie die Last nicht trug, war leicht zu erkennen. Sie besaß die Wohlbeleibtheit einer teilnahmsvollen Frau, er dagegen war spindeldürr. Es war aber ein anderes Gefühl, ebenso stark und ursprünglich wie Teilnahme — und ebenso menschlich —, das sie in diesem Augenblick beherrschte;
und er musste sich herbeilassen, ihr Aufklärung zu geben. „Ich verkaufe nicht für einen Bäcker", sagte er. „Es ist mein eigenes Brot - auf gewisse Weise, heißt das."
„Leihhaus?" warf Senora Beppa fragend ein.
Er nickte.
„Es war schwer, soweit zu kommen, aber jetzt ist man über das Schlimmste hinweg. Heute wird es sich machen!" Er lachte hoffnungsvoll ins Blaue hinein.
„So Gott will", sagte Beppa, aber sie meinte nichts damit. Es ist nur eine Redensart, die im Volke üblich ist. Sie nahm zwei Brote und reichte ihm das Geld.
„Weibsleute sind gute Menschen; es gibt keine besseren", sagte er schelmisch und warf das Geld in einen schwarzen Krug.
„Ja, nach den Mannsleuten", lachte Beppa. „Gott behüte dich", sagte sie gleich danach und ging weiter.
„Geh mit Gott!" antwortete er und stand wieder auf der Gasse mit den Broten hoch in der Luft, so dass alle sie sehen mussten: „Brot! Brot! Der Segen der Armen! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot!"
Seine Frau brachte ihm das Essen in einem kleinen Tontopf. Sie reichte ihm einen Blechlöffel, und er setzte sich auf den Rand des einen Brotkorbs, den Topf zwischen den Knien, und begann zu essen, Reis und Pfefferschoten zusammengekocht. Die Frau kauerte sich vor ihm hin.
Er zog aus seiner roten Schärpe ein Messer hervor, griff nach einem Brot und sah sie fragend an. Sie nickte. Er schnitt das Brot mitten durch und gab ihr die Hälfte.
„Es ist süß", sagte er. „Ich glaube, nun haben wir es geschafft."
„Ojala — Gott gebe es! Es sind schwere Zeiten." „Nicht für den, der will! Wir sind jetzt über das Schlimmste hinaus."
„Es macht Freude, sein eigenes Brot zu essen — findest du nicht auch?" fragte sie etwas später.
„Ja — und es obendrein selber gebacken zu haben. Es ist gleichsam das Brot selbst, das einem sein Brot verschafft", fügte er mit einem unsicheren Anflug von Philosophie hinzu.
Dann war er fertig. „Dank für das Essen", sagte er zu der Frau und strich das Messer auf der Handfläche ab.
„Dank Gott, der Kraft und Gesundheit gegeben hat", antwortete sie.
Und wieder war er draußen im Gedränge und rief sein: „Brot! Brot!" noch lauter als zuvor.
Zwei Polizisten kamen zu ihnen hin; der eine zog eine Waage aus der Tasche. „Hat das Brot volles Gewicht?" fragte er.
Der Brotverkäufer macht einem der Polizisten Platz, der nachlässig ein Brot auf die Waage legte. Doch plötzlich stutzte er, sah Mann und Frau scharf an — und wog das Brot aufs neue, aber diesmal ganz genau und sorgfältig. Es fehlten mehrere Quint (Anm.: 1 Quint = 5 Gramm. Die Red.). Er wog weiter, ein Brot nach dem anderen, mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß.
Der Brotverkäufer starrte ihn an, erst verständnislos, dann aber wie vor Schreck gelähmt.
Die Brote hatten alle Untergewicht.
„Wie viele haben Sie verkauft?" fragte der Polizist mit einer Stimme, die die Frau zum Weinen brachte.
Der Brotverkäufer reichte ihm mit zitternden Händen den Geldkrug; der Polizist zählte den Inhalt und steckte das Geld in die Tasche. Die verkauften Brote konnte man ja nicht wieder herbeiholen, aber die Gerechtigkeit musste ihren Gang gehen. Er rief einen Eseltreiber herbei und befahl ihm, die Brotkörbe auf seinen Esel zu laden.
Der Brotverkäufer stand wehrlos dabei, wie erstarrt, und ließ alles geschehen. Er rührte sich nicht mit einem Glied, sondern stand vornübergebeugt da und starrte mit leeren, erloschenen Augen den Polizisten und dem Eseltreiber nach. Es sah aus, als wäre ihm mit dem kostbaren Brot auch seine Seele entschwunden. „Jesus Maria!" sagten die Leute und bekreuzigten sich. „Gott hat ihn angerührt und ihm zur Strafe den Verstand genommen!
Komm doch wieder zu dir, Don Rafaél!" Sie packten ihn an den Schultern und schüttelten ihn, aber er spürte es nicht, sondern starrte nur mit erloschenen Augen ins Leere.
Doch dann erreichte ihn die Klage seiner Frau, und langsam kehrte das Leben in ihn zurück. Er begann mit ihr zu klagen, leise und von Tränen unterbrochen, wie sie.
Wie ein Wechselgesang klang es, ein Trauerlied, das niemand anhörte, weil es allzu bekannt war — von Entbehrung und Hunger und Hoffnung! Lieber Gott, es war ja das alte Lied: für kräftige Arme hat niemand Verwendung — am allerwenigsten im Winter; dann hatte er gebettelt, und die Kinder hatten gebettelt — und die Frau natürlich auch. Und das war ja nichts Böses — man gab bloß nichts! Es übten zu viele diesen Beruf aus! Dann hatten sie noch eine Zeitlang weitergehungert, und diese Kunst machen ihnen viele nach — so lange, bis sie daran sterben! Diese beiden aber hatten nicht stillehalten und sich vom Tode aussaugen lassen wollen, sondern waren auf eine Idee verfallen. Sie hatten ihre letzten Brocken versetzt und dafür eine Arroba Mehl gekauft. Ganze dreiundzwanzig Pfund hatten sie gekauft und aus Mauerbrocken einen kleinen Ofen zusammengebaut, den sie mit Holz, das der Fluss ans Ufer spülte, heizten. Aber den Schwund zu berechnen hatten sie vergessen — oder vielleicht hatte es dazu nicht gelangt. Und jetzt kam die Obrigkeit und nahm ihnen alles ab. Dazu war nicht viel zu sagen!
Er machte ja auch keine große Geschichte daraus, sondern stand bloß da und weinte sich vor der Frau seine Not von der Seele. Und sie antwortete ihm, wiederholte die Klage und fügte das Ihre hinzu — aus übervollem Herzen. Es war Grund genug zur Klage!
Aber plötzlich schrie er auf, dass es über den ganzen Marktplatz ballte. Er schüttelte die geballten Fäuste in der Luft, berief sich auf seine Unschuld und seine Armut, erbot sich, das Brot nach Gewicht zu verkaufen und allen, die zu kurz gekommen waren, Ersatz zu geben — schwur, dass er die Stadt anzünden werde, wenn er sein Brot nicht wieder bekäme! Und auf einmal fiel er um - wie vom Schlage getroffen. Die Frau warf sich mit lautem
Gejammer über ihn. Die Leute liefen herbei. „Was ist denn los?"
fragten sie wieder und wieder.
„Ach, da hat einer versucht, den Armen unterwichtiges Brot
zu verkaufen, und da haben sich Polizei und Herrgott seiner ein
bisschen angenommen", wurde geantwortet.
„Ihm ist ganz recht geschehen — pfui!" rief ein altes Weib, das für einen Bäcker verkaufte. „Was muss so einer uns ins Handwerk pfuschen?" Und sie begann über den Marktplatz hinweg zu rufen: „Brot! Brot! Zwei kleine Schilling für ein großes Brot! der Segen der Armen--vollwichtiges Brot!"
1896
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