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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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EINE BEGEGNUNG

In den Gräben rieselt das Frühlingswasser, murmelt und verschwindet in die Erde. Wo es gewesen ist, bleibt brodelnder fetter Schlamm zurück, der in der Sonnenwärme lebendig wird. Es wälzt sich durcheinander in diesem Schlamm, kriecht und zieht schleimige Pfade drüber hin; die Erde liegt da wie ein nässender Schoß. Spür selber, wie sie sich sehnt! — sie ist abwechselnd warm und kalt. Nach allem zu urteilen, bekommen wir ein gutes Jahr!
Das ist auch nötig. Die Schweine haben sich im Winter eine Zeitlang mit der halben Körnerration begnügen müssen, und die armen Leute... nun, die werden ja nicht nach Gewicht und Fettgehalt verkauft und haben es also leichter, sich durch eine knappe Zeit hindurchzubeißen. Die brauchen doch nur in Winterschlaf zu gehen, die haben es im Grunde gut! Und außerdem gibt es die Wohltätigkeit.
Aber für jene, die den ganzen Betrieb in Gang halten, ist es eine schwere Zeit gewesen, mit Stilllegung von Fabriken — und Konkursen. Was ist ihnen in diesem Winter nicht alles zerschlagen worden: Reisen nach dem Süden, Winterbälle, Bankette nach den Premieren — lauter Lebensgüter, für die der arme Hans mit seinem ewigen Gejammer nach einer Brotrinde keinen Sinn hat. Übrigens hörte er zu jammern auf, als die anderen damit anfingen — denn so ist er nun einmal.
Ein seltsamer Winter ist es gewesen — der merkwürdigste seit Menschengedenken, sagen die alten Leute. Alles, worum sich der liebe Gott selber kümmert, ist gut durchgekommen — milde, wie die Witterung gewesen ist. Schon Anfang Februar sangen die Lerchen vom Frühling; vielleicht sind sie gar nicht fort gewesen. Die Erde bat fast keine Schneedecke getragen und war überhaupt
nicht gefroren; der Maulwurf hat sich diesmal um seinen Winterschlaf gedrückt, er konnte die ganze Zeit über oben in der Erdkruste auf Jagd gehen. Als Ende Januar der große Schneefall kam, nahm er dieses Ereignis hin. Ich erlebte das Außergewöhnliche, dass er seine frischen schwarzen Erdhügel auf die Oberfläche der ellenhohen Schneedecke warf.
Für die kleinen Vögel sind es lauter gute Tage gewesen — ein gesegneter Winter für alle kleinen Geschöpfe, denen vor der Kälte graut. Ausgenommen der arme Mann, der hat es gründlich zu fühlen bekommen, dass er außerhalb des Gesetzes steht. Während alle die anderen Kleinlebewesen — die, deren Wohl und Wehe weiterhin von der Natur abhängt — gut durchgekommen sind, ist für ihn nicht das Geringste zu picken gewesen. Sonst war es immer die Natur gewesen, die die Speisekammer zusperrte — sowohl dem armen Hans wie auch dem anderen Kleinvieh des lieben Gottes; aber diesmal war ihm die Erde — und nur ihm! — unbarmherziger verschlossen, als wenn sie bis auf den Grund zugefroren gewesen wäre. Er allein war auf die Abfälle auf den Futterbrettern angewiesen, die die Gesellschaft hinaushängt. Er empfindet es als eine Schande, derartig ausgeschlossen zu sein, und wird schwermütig und nachdenklich darüber. Soll jetzt die Arbeitslosigkeit eine Erscheinung sein, die sich auch in guten Zeiten einfindet? Gibt es auch andere Kräfte als die Kälte des Winters, die die Macht haben, den Schiffsverkehr stillzulegen und Erdarbeiten zu verhindern? Es entstehen schwerwiegende Konsequenzen aus dieser neuen Erscheinung — weit in die Zukunft hinein.
Ich kann es nicht unterlassen, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, wenn ich meinen Morgenspaziergang über das Land mache. So hat sich uns in meiner Kindheit das Leben nie gestaltet — so entgegen der Ordnung der Natur, möchte man sagen. Etwas Neues ist hinzugekommen — damals handelten die Feinde des Armen offen im Licht des Tages.
An den Giebelwänden der baufälligen Hütten schleichen die Männer lauernd herum, mager und blass von dem langen Müßiggang. Ringsumher liegt massenhaft die Arbeit und wartet auf sie; es gibt so viel zu tun, wie wohl nie zuvor, und alle Umstände sind zum Beginnen angetan. Aber jene, die die Arbeit gnädigst an die schaffenden Hände verteilen, wollen nicht; sie sind ins Winterlager gegangen, liegen im tiefen Schlaf und halten eine schwere, leblose Pranke ausgestreckt über das Dasein des armen Mannes!
Ist es denn nicht zu entfernen, dieses tote Gewicht? Vorläufig begreifen sie von dem allen nichts, sondern starren nur verwirrt aus Augen, die von Panik gezeichnet sind. „Krise" heißt es — und in schlechten Zeiten ist wohl die eine Bezeichnung so gut wie die andere! Arbeit und willige Hände — mehr hat die Welt noch nie gebraucht, um etwas zu erschaffen; und von beiden ist reichlich vorhanden, soviel sieht ein jeder. Aber eine selbstherrliche Gewalt, die irgendwo im Verborgenen haust, hat eingegriffen und zwingt sie, trotz allem müßig zu gehen. Das nächste wird sein, dass sich die tote Zeit mitten im Sommer einstellt — und wo wird es enden?
Die meisten der Hüttenbewohner kenne ich, aber heute wollen sie nichts mit mir zu tun haben. Wenn sie mich sehen, schleichen sie auf die andere Seite der Hütte.
Oben am Kongensvej hält ein mächtiges Luxusautomobil ganz neuen Typs. Es ist niemand dabei, aber ein Stück weiter unten, auf den Feldern, die sich in langem Zug nach Tibberup und Espergaerde hinabsenken und eine prächtige Aussicht über den Sund und die schwedische Küste gewähren, geht eine in Leder gekleidete Gestalt und schreitet den Boden ab. Die Arme hängen seltsam leblos von den Schultern herab, und die ganze Person erfüllt mich mit starkem Unbehagen, bevor ich noch das Gesicht gesehen habe.
Plötzlich — so plötzlich, dass es mir einen Ruck gibt — macht der Mann kehrt und kommt rasch auf mich zu: eine unheimliche Erscheinung! Das Gesicht ist fischgrau und ohne Wärme, die Arme hören kurz unterhalb der Ellbogen auf — er hat keine Hände! Ich hatte die arbeitslosen schweren Hände allzu deutlich
vor mir gesehen, und der Anblick eines Wesens ganz ohne Hände lässt mich entsetzt zusammenschaudern.
„Ein schöner Morgen!" nickt er. „Recht das Wetter für eine Landpartie."
„Sie sind wahrscheinlich herausgekommen, um sich ein Villengrundstück auszusuchen?" sage ich scherzend; „die Aussicht hier ist ja auch prachtvoll."
„Nein, ich bin nur herausgekommen, um vor dem Frühstück ein paar Bauernhöfe zu zerschlagen — zu Villengrundstücken nämlich."
„Daran ist sowieso kein Mangel. Das halbe Seeland ist ja parzelliert und trägt Disteln — anstatt dass Getreide darauf wächst." „Was für ein Zeugs?" Er sah mich verständnislos an. „Brotkorn!" sagte ich ein wenig schroff.
„Na ja, selbstverständlich, Brotkorn natürlich — was sollte denn sonst da wachsen. Entschudligen Sie, dass ich nicht gleich im Bilde war." Seine Stimme klang spöttisch. „Brotkorn — jawohl, was denn sonst! Etwas anderes darf ja gar nicht auf der Erde wachsen. Und trotzdem hört man ewig das Geschrei nach Brot. Ehrlich gesagt, Verehrtester, begreifen Sie, wer dies ganze Viehfutter verschlingt? Ich für mein Teil bin kein Brotesser, von mir aus könnte man dreist alles Brotkorn von der Erdoberfläche vertilgen."
„Na, dann geht es Sie ja nichts an!"
„Nein, nicht wahr? Und ich muss gestehen, ich habe mir auch nie einen Gedanken gemacht, was da wächst oder nicht wächst. Die nützliche Seite des Daseins interessiert mich überhaupt nicht — ich bin kein Utilitarist. Wenn ich eine Chance sehe, greife ich ohne Bedenken zu. Zweck und derartige Albernheiten überlasse ich den Idi—, Ide—, na, nennen wir sie in Gottes Namen Idealisten; Leuten Ihres Schlages also. Die müssen ja auch leben."
„Sie sind ein unverfälschter Kapitalist!"
Der Fremde lachte höhnisch: „Kapitalist - herrje! Eines dieser Individuen, die einige lumpige Tausend oder Millionen besitzen — was? Unverfälschter - na, meinetwegen! Ich bin aber doch ein bisschen mehr, wenn Sie es mit aller Gewalt wissen wollen. Ich bin der Geist des Kapitalismus, seine Idee! Ja, sehen Sie mich nur richtig an, wenn ich Ihnen nun einmal gerade in die Arme gelaufen bin; ich habe doch Ihnen und den anderen allerhand zu denken gegeben. Es ist mein Geist, von dem alle besessen sind, die an dem Wettlauf teilnehmen; in meinem Namen frisst der Starke den Schwachen und wird er von einem noch Stärkeren selber gefressen. Erkennen Sie die Konsequenz darin? Sie ist den Vielen nicht eben günstig — Gegenseitigkeit ist ein Gefühl der Unterklasse, nur dazu geeignet, einen niederzuhalten; aber sogar beim Rettungsschwimmen besteht der wichtigste Kunstgriff darin, den Ertrinkenden von sich wegzutreten. Deshalb sind Sie auf dem falschen Wege, junger Mann! Sie wollen, dass alle an den Gütern des Lebens Anteil haben — Sie zerstreuen sie! Mein Ziel ist es, alles in einer Hand zu vereinigen — in einer einzigen, verstehen Sie! — und die gesamte übrige Welt zu Proletariern zu machen. Das ist das Ideal des Kapitalismus — seine innerste Idee; und ich bin nahe daran, sie zu realisieren.
Nein, Sie hatten sich nicht vorgestellt, dass ich so aussähe — ein armseliger Krüppel, von Ihrem erhabenen Nützlichkeitsstandpunkt aus gesehen. Enttäusche ich Sie, Verehrtester? — Apropos Nutzen; Sie sind ja bewandert in diesen Dingen: wo steht es eigentlich geschrieben, dass man Nutzen tun soll? Und was ist Nutzen, mein guter Mann? Sie nennen es vermutlich Nutzen, viele am Leben zu erhalten! Ich nenne das Verschwendung, wenn wenige den Betrieb in Gang halten können. Ich sehe nicht ein, warum man diese Sorte Individuen am Leben erhalten soll — wenn man keinen Gebrauch für sie hat." Er zeigte mit dem Armstumpf zu einer der Hütten hinüber, wo ein abgerackerter Erdarbeiter herumlungerte.
„Das ist Jakob Fröhlich", sagte ich. „Ein armer Tropf ist er, aber gut zu Frau und Kindern. Er gehört zu den vielen, die nichts tun und nach besseren Zeiten seufzen!"
„Ich fürchte, er und die übrigen seufzen vergebens.,Krise' werden Sie wahrscheinlich sagen, genau wie alle anderen; aber wissen
Sie denn auch, was das ist? Ich bin dabei, mich zu konsolidieren; das ist es, was jetzt - unter uns gesagt - vor sich geht. Der Kapitalismus ist drauf und dran, sein Gebiet einzuengen -das alles umspannende Ungeheuer zieht sich wieder zusammen. Ich habe Wehen, verstehen Sie — Krisen; und mit jeder Wehe wird eine neue Gruppe Lebewesen aus dem Dasein hinausgesetzt. Mit dem Mittelstand und den Kleingewerbetreibenden bin ich längst fertig, jetzt sind die hier an der Reihe — die schaffenden Hände! Sollte es wider Erwarten nicht glatt genug gehen, helfe ich mit einem Schuss Großaussperrung nach. Ich überlege es mir gerade. Es ist wirklich an der Zeit, sie aus dem Dasein zu entfernen, diese veralteten primitiven Wesen, die mit ihren Frauen und Kindern bloß die Produktionskosten belasten und jetzt obendrein mit einer Seele angestiegen kommen, auf die man kostspieligerweise Rücksicht nehmen soll. Der Arbeiter, dieser Urtyp der Maschine, sollte wirklich ins Industriemuseum verwiesen werden; und damit bin ich im Gange. Wenn Sie ein einigermaßen feines Ohr haben, werden Sie die Maschinen durch die Arbeitslosigkeit hindurch gleichmäßig schnurren hören; die ist nämlich keineswegs mehr gleichbedeutend mit Stillstand in den Betrieben. Was hergestellt werden muss, wird es auch, mein Bester; es sind nicht viele, die berechtigten Anspruch auf Deckung ihrer Bedürfnisse haben, und es werden noch weniger werden. Anderseits werden die Maschinen immer vollkommener. Wir nähern uns der Lösung der sozialen Frage.
Übrigens wäre sie schon gelöst, wenn nicht Staat und Kommune für eine Unzahl von Individuen, die das private Unternehmertum längst abgeschrieben hat, künstlich Schutz geschaffen hätten. Ich denke an alle diese Beamten, Schaffner und dergleichen. Wenn das Privatkapital allein zu sagen hätte, würde es sehr rasch alles automatisch erledigen lassen; Maschinen funktionieren nun einmal besser — und stellen keine albernen Forderungen. --Die schaffenden Hände — wie sich das nur anhört, mein
Lieber! Wir wollen uns doch darüber einig sein, dass alle, die mit ihren Händen arbeiten, keine Menschen sind; der Mensch braucht nur das Gehirn. - Werden Sie mir das Vergnügen machen, Sie in meinem neuen Auto ein Stückchen spazierenzufahren? Es ist wirklich ein guter Wagen."
„Ihr Schofför ist doch nicht da!"
„Ich brauche keinen Schofför. Sehen Sie die Haube an der kleinen Stange dort? Wenn ich die aufsetze, nimmt das Auto meine Befehle unmittelbar aus meinem Gehirn entgegen; die Sache ist sehr einfach. Die Maschine ist auf bestem Wege, sich selber zu lenken. Mein Ziel ist, wie gesagt, alles in einer Hand zu vereinigen, und deshalb ist es nötig, sich von allen unabhängig zu machen. Und zuallererst von diesen besabberten schaffenden Händen, die die ganze Sentimentalität der Mitwelt auf sich ziehen.
Sie sehen mich so boshaft verständnisinnig an! Jawohl, ich selbst habe keine Hände! Ich bin so geboren — vermutlich ist der Mangel aus meiner tiefen Antipathie erstanden. Ach, ich missgönne bestimmt keinem diese fünffingrigen Grabepfoten, die den Menschen daran hindern, sich freizumachen.--Sie möchten nicht
fahren? Gut, dann gehen wir. Tun Sie mir nur den Gefallen, die kleine Drahtleitung dort an meiner Mütze zu befestigen — ja, so! Danke! Ganz kann ich die Hilfe der Hände doch noch nicht entbehren; ich bin noch nicht so weit, dass ich meine Gedanken drahtlos auf das Auto übertragen kann. Aber das kommt."
Wir schlenderten langsam die Straße entlang; die schwere Maschine folgte uns getreulich auf dem Fuße, wie ein Hund an dünner Leine geführt. Der Fremde starrte geradeaus, die weißen Zähne zu scharfem Grinsen entblößt.
„Gut, warum es leugnen — ich hasse diese dummen Hände, die obendrein zu drohen wagen. Der Müßiggang lässt in seinen unfreiwilligen Dienern finstere Gedanken aufkommen, behauptet man; vielleicht stürmen sie die Fabriken und schlagen die Maschinen in Stücke, um selber dranzukommen — und schrauben die Entwicklung zurück! Ich habe aber diese Möglichkeit vorausgesehen; bei dem geringsten Murren setze ich sie auf Minimalverpflegung — Hungersnot, verstehen Sie! Die ist eine meiner besten Bundesgenossen; es gibt überhaupt keine anderen Hungersnöte als jene, die ich in die Welt setze. Ich könnte sie töten wie die Fliegen und der Natur die Schuld daran zuschreiben, könnte die Erträgnisse des Bodens vernichten, so dass sie in wenigen Tagen zugrunde gingen — unterernährt, wie sie — unter uns gesagt — sind. Aber das passt mir nicht recht, denn wer soll sie beiseite schaffen? Sie sehen, sentimental bin ich nicht, ich lasse sie bloß sich selber um die Ecke bringen, hungere sie aus, dann erledigt sich alles Übrige von selbst. Mumien stinken bekanntlich nicht. Kleine Kinder haben ja die geringste Widerstandskraft — besonders, wenn sie keine Muttermilch bekommen. Deshalb lasse ich die Arbeitslosigkeit für Frauen mit Säuglingen auch nicht gelten.
Sie meinen also, dass ich ein Teufel wäre, Verehrtester? Ich schmeichle mir jedenfalls, Satans göttlich kaltes Gehirn zu besitzen! Kann man sich eine teuflischere großartige Erfindung vorstellen als meine? Geld, das heißt: der Menschheit Blut und Schweiß und Tränen — alles, was sie erschaffen und gewünscht und erträumt hat — eingeschmolzen in kaltes Metall. Wie bitte — Wertmesser? Glauben Sie tatsächlich auch an diesen Unsinn? Das war von mir aus nur als Witz gemeint gewesen! Nein, aber ein wundervoller Speicher für alle Werte ist es schon, das Geld — ein großartig einfaches Mittel, alles zu umfassen und die Welt zu beherrschen — das einzig mögliche Mittel. Mit dem Geld vermag ich, so lächerlich es klingt, den ganzen Betrieb am Leben zu erhalten oder zu töten, ganz wie ich will. Ich kann sämtliche Lebensnotwendigkeiten der Erde in meinem feuer- und einbruchsicheren Geldschrank verschließen — ist das nicht genial?
Meine Erfindung hat eine weitere vorzügliche Eigenschaft; es haftet ihr kein moralisches Vorurteil an — Geld riecht nicht! Jeder andere Erwerb verpflichtet seine Angehörigen in Richtung auf Schönheit oder Nutzen; ich aber lege mit Vergnügen die nützlichen Berufe still und setze dafür Albernheiten in Gang — wenn ich darin meinen Vorteil sehe. Und um die Wahrheit zu sagen: eine Fehlspekulation ist mir meistens mehr wert als eine richtige; ich gedeihe am besten da, wo etwas zusammenbricht. Die Misere ist mein Element!
Das halbe Nordseeland besteht aus öden Villengrundstücken und wird nicht bebaut — Sie waren so liebenswürdig, mich vorhin darauf aufmerksam zu machen. Ich wusste es übrigens, junger Mann, ich habe selber die Hand im Spiele gehabt. Nein, Brotkorn wächst nicht darauf — dafür wachsen Taler dort! Es gibt keinen Boden, worauf das Geld so gut gedeiht wie auf dem, der mit Betrug gedüngt ist. — Jawohl, ich lebe vom Gegenteil des Lebensstroms, mein Element ist das rückläufige, unreine Blut der Venen. Die Lösung des großen Ernährungsproblems ist nie meine Sache gewesen; im Gegenteil, Wohlbefinden der Vielen ist mir nicht günstig. Na, mein Ehrgeiz liegt glücklicherweise nicht auf diesem Gebiet. Ich habe zu meiner Zeit mehr Getreideäcker abgebrannt, als ich angesät habe.
Gerade jetzt feiere ich übrigens einen Triumph. Ich habe die Kunst erprobt, mich tot zu stellen, und habe festgestellt, dass das eine neue einträgliche Erwerbsform ist — absolut die vorteilhafteste, die ich bisher ausgeübt habe. Und die idealste auch: Unkosten und Arbeit auf Null herabgesenkt. Ich habe keine Veranlassung, über schlechte Zeiten zu klagen.
Ich bin mit allem sehr zufrieden; es gibt nichts, was sich nicht zu meinem Besten gewendet hätte. Man beklagt sich, dass es nicht mehr möglich sei, die Auswirkungen eines Gesetzes zu überblicken — ich muss sagen, ich begreife das nicht. Sehen Sie mal in meine linke Westentasche! Einige dreckige Millionen, die nach Kuhstall riechen, was? Das ist der Gewinn aus der Staatsanleihe für Kleinbauernparzellen. Und so ist es überall; es ist kein Gesetz so verrückt, dass ich nicht Seide daran spönne. Sogar an den Gesetzen, die das Eigentumsrecht beschneiden sollen, verdiene ich Geld.
Mit der Kirche habe ich mich immer gut gestanden. Es besteht ja allerdings das verbrecherische Wort, dass man allen Besitz verkaufen und den Ertrag den Armen schenken solle, aber die Pfarrer sind immer die ersten gewesen, es wegzuerklären. Sie haben mir überhaupt treu gedient — demütigere Verehrer habe ich nie gehabt. Jetzt scheint es allerdings, als wollten sie ein wenig Ab-
stand von mir nehmen. Aber das kann ich ertragen; ihr Diensteifer war allmählich etwas kompromittierend für mich geworden.
Und jetzt leben Sie wohl, junger Mann! Ich muss in die Stadt und als Stütze für die schlechten Zeiten einen Brottrust auf die Beine stellen. — Und Sie selber brennen natürlich vor Verlangen, mir richtig eins zu versetzen. Bitte sehr, legen Sie nur los, Tinte ist billig! Und grüßen Sie Ihre schaffenden Hände von mir!"
Er sprang in das Auto und winkte mir zum Abschied mit beiden Armstümpfen zu. Der Messingarm an der Stange senkte die Haube über seinen Kopf, das Auto machte einen Satz vorwärts — und war im nächsten Augenblick in einer Staubwolke verschwunden. Jakob Fröhlich stand vor seiner Hütte und glotzte mit hängendem Kinn.
„Das war doch eine verteufelte Geschwindigkeit, die der Kerl da anschlug", sagte er, „man möchte wahrhaftig glauben, das ewige Gericht wäre hinter ihm her. Dem solltest du doch wirklich eine Ladung Schrot hinterherfeuern — bevor er alles niederfährt!"
1910


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