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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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LOHNTAG
Idyll aus der Vergangenheit

Auf den Bergen steht der Wald weiß und unförmig im Schlafe, verschwenderisch in sauberen weichen Winterschnee gehüllt; nur wo ein Vogel sich gesetzt und den Schnee abgeschüttelt hat, ragt ein kahler Zweig hervor, schwarz, nackt und unheimlich. Die tiefen Klüfte sind gleichfalls zugeschneit, die ebene Heide und die nackten blauen Felsenflächen. Der zypressenhafte schlanke Wacholder beugt sich unter einem Berg weißer Kristalle, und der Schlehenstrauch bringt seine Früchte in der sanften Kälte des Polsters langsam zur Reife.
In dem tiefen Steinbruch unterhalb des Grates liegt der Schnee so hoch, dass ihn die Arbeiter in Karren schaufeln und wegfahren müssen, um an den Felsen heranzukommen, und von den Tannenwurzeln, die am oberen Rand des Steinbruches nackt hervorstechen, hängen lange Eiszapfen herab.
Auch über dem Lande liegt Schnee — so weit man sehen kann an dem Gebüsch am Fuße des Felsens vorbei, über die Wiesen, wo die Jungen Schlittschuh laufen, und über die Stadt hinweg bis ganz ans Meer hinunter, das eine halbe Meile von dem Berg entfernt und mit Treibeis bedeckt ist. Und auf das alles scheint die Sonne herab, so mild und bläulich weiß, so matt und kraftlos wie das Lächeln einer alten Frau.
In der Meeresbucht liegt ein kleines Dorf. Es verdankt dem Felsen sein Dasein, und wie wachsame Augen wenden die Häuser ihre vielen kleinen Fenster dem Steinbruch zu, wo die Ernährer am Werke sind. Der Boden ist ein magerer Boden, meist nur Stein, aber eben dieser Stein wird zu Brot und gibt einem von Woche zu Woche, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist: manchmal weniger, niemals mehr. In der Regel reicht es gerade aus.
Die Dächer des kleinen Dorfes leuchten rot vor dem weißen Schnee. Rot und weiß — man könnte annehmen, es wäre zu Ehren der Armut die Flagge gehisst.
Tief geht die Sonne unter, das weiße Land nimmt leichten Rosenschimmer an. Von jedem Herd des Dorfes steigt Rauch, blauer Rauch säulengerade in die Luft — als hätten die launischen Götter das anspruchslose Opfer von Tang, Grassoden und Kuhdung in Gnaden aufgenommen.
Die Kuhfladen krümmen sich, der Tang knistert; das Samstagsfeuer flammt auf, bereitet in Voraussicht dessen, was der Ernährer auf dem Heimweg eingekauft haben wird. Die Kinder stecken ihre Gesichter tief in die Flammen hinein, die ihre großen Augen und tropfenden Nasen mit Glanz überziehen. Die Mütter laufen unruhig ans Küchenfenster und wieder zurück. Jetzt ist die Sonne fort, sie dürften schon unterwegs sein!
Die Windungen des Weges lassen sich bis fast ganz zum Werk hinauf übersehen, aber die wandernde Reihe, die sich sonst um diese Tageszeit den Weg herunterschlängelt — wo bleibt sie? Sie sind doch wohl nicht unterwegs irgendwo eingekehrt? Gott verhüte das!
Hier und da faltet eine Frau in jäh aufsteigender Sorge die Hände oder stößt eine erbitterte Verwünschung aus, hier und da weint ein Kind vor Hunger, dass es weit weg zu hören ist.
Die Arbeiter haben die Sonne in den Bergen verschwinden und den Rauch von ihren Hütten aufsteigen sehen. Sie haben aufgeräumt und das Werkzeug beiseite gelegt; jetzt stehen sie in kleinen Gruppen beisammen und warten auf den Steinbruchbesitzer. Dort drüben, am Ende des Grates, liegt der Haupthof, von daher muss er kommen. Zum Teufel auch, dass man seine sauer verdienten Pfennige nicht einmal zur rechten Zeit bekommt! Wenn er nur nicht verreist ist, wie neulich samstags.
Endlich kommt er, sein großer Hund hinterher. Er trägt den Lederbeutel in der Hand, also ist heut Geld auf dem Markt! In einer guten halben Stunde kann man mit dem Wochenlohn zu Hause sein; der Weg geht bergab, und mit acht Kronen in der Tasche ist man leicht zu Fuß.
Der Steinbruchbesitzer und die Arbeiter gehen herum und nehmen auf, was während der Woche gearbeitet worden ist: Pflastersteine, Schotter, Treppensteine. Der hohe Herr schilt über eine Klafter Schotter, die nicht auf ebenen Boden gelegt worden ist; das gäbe unehrliches Maß, sagt er. Schweden-Anders lässt gesenkten Hauptes die Schelte über sich ergehen und hofft, auf diese Art einigermaßen glimpflich über seinen missglückten kleinen Kniff hinwegzukommen, denn nun hat der Steinbruchbesitzer ja das Recht, nach Augenmaß zu schätzen, anstatt das ehrliche, redliche Klaftermaß anzuwenden.
Der Steinbruchbesitzer sieht ihn grübelnd an. „Na ja, für diesmal mag es hingehen! Wegen der paar Pfennige, um die du mich betrügen kannst, werde ich wohl nicht gleich pleite gehen, Anders!" sagt er gutmütig und beginnt, den Beutel zu öffnen.
Da klingt Geläute den Berg entlang, und ein kleiner Schlitten mit einem kräftigen Pferd davor kommt auf dem Weg vom Haupthof herangejagt. Ein flotter Bursche in Pelzmantel und Pelzmütze, der Sohn des Steinbruchbesitzers, springt aus dem Schlitten und kommt zu ihnen her.
„Willst du mit in die Stadt, Vater? Große Lomberpartie im Hotel!"
„Kein Geld heute Abend", antwortet der Steinbruchbesitzer.
Der Sohn deutet mit der Stiefelspitze auf den Lederbeutel, aber der Vater schüttelt den Kopf und sieht seine Arbeiter der Reihe nach an, als wolle er die Entscheidung in ihre Hände legen.
„Ach, Unsinn, Alter — die Arbeiter warten bis Montag! Heute Abend ist Geld zu verdienen, du, der Schlächtermeister — schon ein bisschen angelaufen — und ein ganz neuer Mann, Großkaufmann! Du hast doch von dem Schlächter Revanche zu fordern."
Der Steinbruchbesitzer steht einen Augenblick zweifelnd da. Dann steckt er die Hand in den Beutel, um den ersten zu entlohnen. Aber im selben Moment bemerkt er die beinahe drohende Ängstlichkeit, womit alle ihn ansehen, und plötzlich setzt er eine barsche Miene auf und sagt: „Wir warten bis Montag mit der Auszahlung, Leute!" Und er steigt in den Schlitten, der unter Geläute zum Haupthof zurückfährt.
Die lange Reihe der Arbeiter bewegt sich die Windungen der Landstraße zu den Häusern am Meer hinunter, aus denen jetzt die Lampen schimmern. Eine Gestalt hinter der anderen schleicht langsam vorwärts, müde, gebückt, und wie traurige Illustrationen des Satzes, dass das Gehen ein ständig unterbrochenes Fallen sei.
Hinter ihnen erklingt von neuem Schellengeläut, das rasch näher kommt; der große Hund des Steinbruchbesitzers jagt bellend vorüber. Einer nach dem anderen nehmen sie stumpfsinnig und langsam die Mütze ab, noch ehe der Schlitten sie erreicht hat — sie erkennen den Herrn am Hunde.
Und einer nach dem anderen richten sie sich langsam wieder auf, bedecken den Kopf und senden dem Schlitten einen müden, gleichgültigen Blick nach, während dieser wie an einem Spalier gebeugter Nacken entlangfährt. Nur der unterste in der Reihe, der als erster geht, macht keine Miene, das Haupt zu entblößen.
„Er ist ein Krakeeler", sagt der Steinbruchbesitzer zu seinem Sohn. „Er gehört zu diesen Sozialisten, von denen sie drüben so viele haben. Aber er kriegt bald seine Kündigung — sobald wir ihn entbehren können."
Der Sohn schwingt die Peitsche, knallt damit lustig über den Kopf des Arbeiters hin und reißt ihm mit der Schnur die Mütze herunter, so dass sie in den Straßengraben rollt.
1897


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