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Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DER IDIOT

Am Tage nach meiner Konfirmation saß ich wieder hinter dem Strohschirm und schlug Schotter aus dem Ausschuss, während Vater etwas weiter weg stand und Blöcke zu Pflastersteinen spaltete. Heute war genau wie vorgestern, genau so. Ich spürte keinerlei Nachwirkungen, die Konfirmation war keine feierliche Einführung in eine neue Welt gewesen.
Plötzlich legte Vater den Fäustel hin und sagte:
„Das Beste ist, du gehst hin und suchst dir eine Stellung, denn von nun an musst du für dich selber sorgen."
Er nickte bedeutungsvoll zu den Worten, und obwohl ich für mich selber gesorgt hatte, fast seit ich kriechen konnte, klang es durchaus schicksalschwanger — als übertrüge er mir eine schwere, verantwortungsvolle Last und recke selber den Rücken. Ich packte das Werkzeug zusammen, legte den Schirm darüber und schlenderte aufs Geratewohl in den Herbstregen hinaus.
Weit drüben in Povlsker gelangte ich endlich zu einem Gehöft, wo man kein Aufhebens von meiner Schmächtigkeit machte, sondern mich als „Arbeitshure" dingte. Der Hof war ziemlich groß, und ich sollte für den ganzen Viehbestand sorgen und dafür das halbe Jahr zwanzig Kronen bekommen. Heutzutage braucht man erwachsene, ausgebildete Männer zu dieser Arbeit, sie gilt als besonders schwer und verantwortungsvoll und ist die bestbezahlte Arbeit in der ganzen Landwirtschaft. Es liegt eine Entwicklung zwischen damals und heute!
Ich war klein und schmächtig; mein Körper hatte sich früh darauf einrichten müssen, alles in Arbeit umzusetzen. Dafür war ich in guter Arbeitsverfassung, trainiert und zähe; ich wurde nicht leicht müde und scheute mich vor nichts. Aber dieses war mir doch zu viel! Von Wintermorgens drei, halb vier Uhr an bis gegen neun Uhr abends war ich ununterbrochen mit der Arbeit im Gange, die stets an der Grenze meiner Kräfte lag und oft weit darüber hinaus. Wenn nur eine Kleinigkeit schiefging oder ich für einen Augenblick in verzweifelter Selbstaufgabe zusammensank, häufte sich die Arbeit um mich auf wie ein Berg der Unüberwindlichkeit. Ich rackerte mich wie wahnsinnig ab, das Versäumte nachzuholen, aber die Tiere waren gestrenge Herren. Wurde ihre Essenszeit nur um fünf Minuten verspätet, erhoben sie ein anklagendes Gebrüll. Und dann verließ der Bauer seine junge Frau und sein warmes Bett und kam herbeigesprungen — halbnackt —, um Gericht zu halten.
Es war eine harte Zeit, aber ich fühlte eigentlich kein Mitleid mit mir. Ich ertrug sie, wie die Unterdrückten ihren Fluch nun einmal tragen. Die Verhältnisse lassen sich nicht sanfter machen, da muss man also versuchen, dem Leiden gegenüber gefühllos zu werden. Trotzdem erinnere ich mich an eine dumpfe Empörung dagegen: ich ging eines Tages mit einem Ende Strick im Futtergang umher und suchte nach einer Stelle, wo ich mich aufhängen könnte. Es kam etwas dazwischen — ich glaube, der Stier riss sich los; alles das hat damals keinen tieferen Eindruck auf mich gemacht — und ich musste, wie schon so oft, mein eigenes Wohl der Pflicht zum Opfer bringen.
Auf einem der Nachbarhöfe saß ein Bauer, der seine Leute nicht zu halten verstand. Er selber tat ungern einen Handschlag und liebte es desto mehr, gut zu essen und zu trinken; denen aber, die die Arbeit verrichteten, gönnte er weder Essen noch Lohn. Jetzt bewirtschaftete er den Hof mit Hilfe eines geistesschwachen armen Luders, für den ihm die Gemeinde noch ein Pflegegeld bezahlte.
Ich kannte diesen Unglücklichen recht gut; in meiner frühen Kindheit war er ein kräftiger junger Bursche gewesen, der zur See fuhr. Gelegentlich kam er zur Winterszeit nach Hause, fröhlich und übermütig, voll von der Frische des Auslands. Aber dann einmal erreichte uns nur ein Gerücht: er hatte während eines Sturms am Ruder gestanden, das Großsegel riss sich los und schlug
ihm einen Block an den Kopf. Er hätte das Rad fahren lassen und sich in Sicherheit bringen können - dann wäre wahrscheinlich das Schiff draufgegangen; er blieb auf seinem Posten und ließ sich zum Idioten schlagen! So ungefähr lautete das Gerücht, und so kam er auch aus Übersee nach Hause, wie ein Wickelkind von Ort zu Ort befördert. Er konnte nicht mehr für sich selber sorgen; deshalb gab ihn die Gemeinde an den Mindestfordernden ab.
Man sah ihm nichts Besonderes an, er glich dem gewöhnlichen abgestumpften Arbeiter. Man konnte sich auch ganz gut mit ihm unterhalten, aber er erinnerte sich an nichts aus seiner lichten Zeit vor dem Unglück und kümmerte sich um nichts weiter auf Erden als um Branntwein. Die Äcker der beiden Höfe stießen aneinander, und ich kam oft mit ihm in Berührung. „Hast du Branntwein?" fragte er jedes Mal, wenn er mich sah. Ich hätte mir für einen Schnaps seine Hilfeleistung erkaufen können, hatte damals aber gute Gründe, den Branntwein zu hassen.
Wenn er nüchtern war, gärte es in ihm boshaft und tückisch, dass einem bange wurde; selbst sein Dienstherr fürchtete sich dann vor ihm. Vielleicht regte sich eine unklare Forderung ans Dasein unter seiner Idiotie und gebrauchte er den Alkohol, um dieses Gefühl darin zu ertränken; der Bauer sorgte stets dafür, dass Schnaps für ihn vorhanden war. Sonst aber behandelte er ihn schlechter als ein Tier, gab ihm elendes Essen und ließ ihn in einem Winkel des Stalles schlafen.
Der Idiot fand sich gleichmütig darein, wenn er nur seinen Schnaps bekam. Er war ein stämmiger, breitschultriger Bursche und tat die Arbeit von zwei, drei Mann; es musste ihn nur jemand anstellen und in Gang bringen.
Eines Tages hatten wir einen jungen Stier auf dem Dampfschiff abzuliefern. Das Tier war ziemlich launenhaft, und weder der Bauer noch der Knecht hatten Lust, es zur Stadt zu bringen. Also musste ich es tun; ich war ja gewöhnt, mit dem Stier umzugehen. Der Bauer war großzügig und gab mir für den Rest des Tages frei.
Ich war noch nicht zu Hause gewesen und war über mein Glück unbändig froh. Alle meine Lieder grölte ich unterwegs, und ich hielt den Bullen in scharfem Galopp, damit er gar keine Zeit fände, auf Bosheiten zu verfallen. Ich war vor Heimweh ganz krank.
Ich lieferte den Stier ab und rannte nach Hause. Meine kleinste Schwester hing über das Ende der Bettstelle und heißte einen Schemel auf und nieder; sie starrte mich einen Augenblick an, dann verlor sie den Schemel und brüllte los. Mutter kam aus der Küche hereingestürzt.
„Herrgott, bist du es, mein lieber Junge", sagte sie — „wie mager du bist! Du siehst ja richtig böse aus. — Jaja, arme Leute müssen mit allem vorliebnehmen!" Sie ging um mich herum und befühlte mich liebkosend; ihren zarten Händen konnte ich anmerken, dass sie stolz auf mich war, und das machte mich tapfer.
Zum Feierabend kam Vater nicht nach Hause, und wir hatten es gemütlich miteinander. Mutter flickte meine Kleider und wir Kinder schnitten aus alten Spielkarten Schlitten, russische Schlitten mit feurig stürmenden Pferden davor — und mit einem Wolf, der dem Deichselpferd an die Kehle wollte. Weit hinten an der Tischkante tauchten weitere Wölfe auf, und bald würden sie den Mann im Schlitten und die Mutter mit dem kleinen Kinde auffressen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich nur auf Besuch zu Hause war — und den Ort der Qual hatte ich vergessen, der auf mich wartete.
Plötzlich stand Mutter erschrocken auf: „Aber Kind, die Uhr geht auf neun, du hast einen weiten Weg!" Sie sah fröstelnd zum Fenster hinaus; es war stockdunkle Nacht und stürmisch, vom Strande her brüllte die See.
Die Wirklichkeit mit allen ihren Schrecken stürzte gewaltig über mir herein. „Mutter!" flüsterte ich und sah sie flehentlich an. Sie begann zu zittern.
„Herrgott! Ist es so schlimm?" sagte sie verzweifelt und sah sich ratlos um, als suche sie eine Stelle, mich zu verbergen.
„Und dein Vater, Kind?" rief sie plötzlich verzagend; „bald...« Mehr brauchte sie nicht zu sagen, ich nahm still meine Sachen und sagte Lebewohl. Sie stand am Fenster, als ich zur Straße hinaustrabte, und lächelte mir aufmunternd zu — mit verzerrtem Gesicht.
Ich hatte nicht die Absicht, auf den Hof zurückzukehren — alles andere lieber als das! Ich lief nur ins Dunkel hinaus, um Mutter zu schonen. Aber irgend etwas trieb meine Schritte dennoch auf den Weg; es war wohl das verfluchte Pflichtgefühl, das den kleinen Leuten tief im Fleische sitzt und sie veranlasst, beständig die Lasten einer Welt auf sich zu nehmen, die nicht um ihretwillen da ist. Ich wollte den Weg nicht einschlagen und lief ihn doch — aus Protest leise vor mich hin heulend.
Ich lief über eine halbe Meile, ohne irgendwelchen Eindruck aufzunehmen; mein Kindergemüt war wohl in jenen Schlummerzustand geschlüpft, der immer noch das einzige Abwehrmittel der Gequälten gegen Misshandlung ist. Den Tannenwald und die unheimliche Balkaheide passierte ich, ohne es zu wissen. Dann aber weckte mich die Nacht mit ihrer unausweichlichen Forderung; ich entdeckte die Finsternis rings um mich her und verlor allen Mut.
Es gibt Menschen, die das Dunkel lieben, glückliche Unwissende, denen es der große Besänftiger ist, der alles Widerstreitende zur Ruhe bettet. Für mich war das Dunkel stets von entsetzlichem Leben erfüllt; ich habe verzweifelt mit ihm kämpfen müssen — nicht zum mindesten damals, als mein Wissen meine Kräfte überstieg. Schon in meiner Kindheit enthüllte mir ja das Dunkel so vieles, was das Tageslicht verbarg; wie jene chinesischen Rattenfängerjungen, die in den Kloaken aufwachsen, besaß ich die unbehagliche Fähigkeit, alles zu sehen, was sich im Dunkel rührte. Und nun stürzte diese ganze böse Welt auf mich ein, ich empfand ihre Schrecken mit hellseherischer Kraft und war wehrlos. Alle die Aufregungen meiner Kinderzeit erhoben sich wie durch Hexerei aus dem Dunkel, grotesk und übergewaltig, um mich kleines Menschenkorn zu verschlingen.
Es war wie ein epileptischer Anfall; meine ganze Person war in einen Krampf zusammengeschnurrt — aber ich lief unentwegt. per Gedanke an den Hof war das einzige lebendige, warme Gefühl in mir, der Hof stand mir in diesen Augenblicken als ein behaglicher Zufluchtsort vor Augen. — Plötzlich, mitten im Laufen, spürte ich an meinem Leibe, dass ein Mensch in der Nähe sei; ich spähte im Lauf scharf ins Dunkel — und fiel, so lang ich war, über einen schweren Körper.
Es war der Idiot. Ich erkannte ihn, als ich ein Streichholz anbrannte; er war besinnungslos betrunken. Es war mir unmöglich, ihn auf die Beine zu stellen, und ich ging weiter. Jetzt hatte ich keine Spur von Angst mehr.
Etwas weiter traf ich unseren Knecht, der seine Liebste auf den Weg gebracht hatte. Er ging mit mir zurück, und gemeinsam brachten wir den Idioten auf die Beine. Aber es war nicht möglich, ihn von der Stelle zu schaffen; er stand da und machte sich stocksteif, so betrunken er auch war, und lallte etwas vor sich hin; sein Kopf hing schwer auf die Brust hinab. „Mein Branntwein", schien er mir zu lallen — „mein Branntwein." Ich begann zu suchen, während der Knecht ihn stützte, und fand am Wegrande ein Drei- bis Vier-Liter-Fässchen; es war ganz voll! Wie ich diese gemeine Flüssigkeit hasste! Ich hatte meine schwachen Kräfte schon so manches Mal dagegen eingesetzt und meine Prügel dafür bezogen — jetzt flammte der Hass von neuem auf. Ich riss den Zapfen aus dem Fässchen und ließ den Branntwein in den Graben laufen; der Gestank schlug um mich empor wie der Atem eines Betrunkenen und erinnerte mich an mancherlei. Dann hielt ich das Fässchen in den Graben und ließ es voll Wasser laufen. „Wo bleibst du?" rief der Knecht ungeduldig.
Der Idiot lebte auf, als ich mit dem Fässchen ankam, er wollte es selber tragen und umschlang es mit beiden Armen. Aber er konnte sich nicht im Gleichgewicht halten, wir mussten ihn nach Hause und in sein Loch schleifen.
Am nächsten Vormittag, als wir beim Frühstück saßen, kam der Nachbar zu uns herüber; er sah ganz verstört aus. „Es ist rein toll mit Anders", sagte er. „Er ist ganz wild, ich habe keine Gewalt über ihn."
„Dann knauserst du wohl auch mit dem Branntwein?" erwiderte mein Dienstherr und lachte.
„Nein, nein, bei Gott nicht, er hat ein ganzes Fässchen voll! Aber er will es nicht anrühren. Er geht um mich herum und macht ein Gesicht, als wolle er auf mich losspringen. Er arbeitet überhaupt nichts."
Mir wurde heiß um die Ohren. Insgeheim hatte ich mich über meine Heldentat mächtig gefreut — und war nahe daran gewesen, sie dem Knecht zu erzählen. Das wäre also schlecht für mich abgelaufen.
Mein Brotherr begleitete den Nachbarn hinüber, sie kamen aber unverrichteterdinge zurück. Sie hatten sich dem Idioten nicht zu nähern gewagt, der mit einer Mistgabel bewaffnet um den Hof herum ging. Mir graute bei dem Gedanken, der Verrückte könne darauf verfallen, dass ich es war, der ihm das Leben unerträglich gemacht hatte, und er könne herüberkommen, um mich totzuschlagen. Alle Augenblicke war ich vor dem Kuhstall und hielt Ausschau, bereit, die Beine in die Hand zu nehmen. Er ging da drüben herum und focht mit großen, unbeholfenen Bewegungen in der Luft; ich konnte ihn rufen hören.
An diesem Tage blieb der Nachbar bei uns, und es kamen andere Leute dazu und beratschlagten, was zu tun sei. Es wurde vorgeschlagen, dass man gesammelt auf den Idioten losgehen und ihn überwältigen solle. Aber die Knechte hatten für den Bauern von drüben nichts übrig und wollten nicht mitmachen, und die Bauern selber hatten Angst. Da ließ man es dabei bewenden, dass man am nächsten Morgen nach der Polizei in die Stadt schicken würde.
Aber in der Nacht legte der Idiot Feuer an den Hof; er brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Dies ist nur ein einzelnes Kindheitserlebnis von vielen anderen. Damals kam ich mir wie ein heimlicher Verbrecher vor; lange
ging ich in ständiger Angst umher, die Behörde werde mich als den eigentlichen Urheber der Sache zur Verantwortung ziehen.
Seitdem aber hat sich mein Leben auf dem Grunde meiner Kindheitswelt geformt, und aus  vielen Gebieten summierten sich nach und nach meine Erfahrungen derart, dass mir der Idiot in einer Bedeutung erschien, die weit über den Sonderfall hinausreichte.
Später kam es mir so vor, als läge Sinn darin, dass gerade ich es war, der dem Idioten den Branntwein fortnahm und ihn dadurch dahin brachte, den Hof in Brand zu stecken und dem Missbrauch ein Ende zu machen.
1909


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