MUSTAFA
Das Märchen von der neuen Welt
Wo kam er her? Wo gehörte er hin? In diesem bunten Menschengewimmel mit seinem unerschöpflichen Vorrat von immer neuen Rassen, Typen, Sprachen und Nationalitäten, gegen welche sich die Völkerschaften Westeuropas wie Mitglieder eines und desselben engen Familienkreises ausnehmen, war es unmöglich zu entscheiden. Auf seinem bläulichen, kantigen Schädel, der an das erste rohe Stadium einer Billardkugel erinnerte, saßen die Reste eines gestickten Fes, der, wie meine Begleiterin meinte, auf Turkestan hindeutete. Die übrige Bekleidung aber, ein zerlumpter Überrock, der wie ein Bademantel um ihn hing und durch ein Ende Strick zusammengehalten wurde, konnte sehr wohl aus Skandinavien stammen. Seine Ecken schleiften auf der Erde, wenn der Bursche ging, größer war er nicht. Aber wohin er auch gehören mochte, der Kopf war international; man hätte ihm in jedem beliebigen Elendsviertel der Welt auch begegnen können: wachsame große Ohren, graubleiche stockige Haut, kurzgeschorener beuliger Schädel, Gesichtszüge, die das Leben mit harten Fingern herausmodelliert hatte, und kalt schimmernde kluge Augen. In ihnen stand zu lesen, dass alles Unglück und alle Plagen, dass alle Laster mit ihm gerungen hatten, ohne ihn doch besiegen zu können. Er gehörte jener internationalen Millionenarmee an, die mit dem Sensenmann von Geburt an auf Grußfuß steht und mit der deshalb weder Hunger noch Seuche fertig werden können. Vielleicht verdankte er dem Kriege seine Entstehung: ein brünstiger Soldat und eine vor Schrecken von Sinnen und Verstand geratene Frau. Er konnte aber auch in einem der Millionen Nester auf der Welt erzeugt worden sein, wo Sorge zur Entbehrung und Hunger zur Unterernährung gelegt ein Wesen mehr ins Nest ergibt.
„Bemerkten Sie, Frau Vilm, wie aus seinen Augen die Warnung leuchtete, eine Drohung mit dem Gerichtstag? Er hat den Sensenmann zum Vater!"
„Ja, und das Leben zur Mutter", antwortete meine Begleiterin. „Ich las in seinen Augen auch die Verheißung künftiger Erhöhung. Es ist merkwürdig, wie vieles Armut und Lumpen unserer Zeit zu sagen haben!"
Beunruhigend war der Bursche; es fiel einem schwer, ihn nicht anzusehen. Ständig kehrte das Gespräch zu ihm zurück.
Wir rasteten vor einer Art Herberge oder Reisestall und tranken Narzanwasser zu unserem mitgebrachten Brot; ringsum waren die Felsen rot von dem wundertätigen Wasser, das in großen Güssen aus der Erde hervorquoll und über den Berghang hinunterströmte. Tief unter uns lag die Grusinische Heerstraße, die wohl die wildeste Gebirgsstraße Europas ist und nicht weniger dadurch interessant wird, dass sie in Tiflis ausmündet. Zu beiden Seiten dehnte sich das zerklüftete kaukasische Bergland: alle Erdschichten hochkant nach einer gewaltigen Pressung. Nur die weißen Zwillingsbrüste des Elbrus zeichneten sich in erhabener Ruhe vor dem Himmel ab. Wir waren nahe der Wasserscheide zwischen Europa und Asien, dem Höhenzug, wo das Wasser zwischen den beiden Erdteilen zu wählen hat, und die Frage war, ob wir hier übernachten und am nächsten Tag weiterziehen oder ob wir umkehren sollten. Betten gab es nicht. „Aber auf dem Fußboden braucht ihr nicht zu schlafen", sagte die Wirtin, eine kräftige georgische Frau auf kurzen Beinen. „Wir können Türen ausheben und auf Stühle legen."
Ein wenig weiter weg saß der Junge auf der Kante eines Felsens, der einmal von oben herabgerollt und durch die Laune des Zufalls mitten auf der grünen Schräge hängen geblieben war. Er hielt einen Knust Brot in den Händen; ihm zu Füßen saß ein Hund und verfolgte jede seiner Bewegungen mit Augen, die vor Hunger schrieen. Äußerlich glichen sie einander: gleich abgezehrt, gleich schäbig, aber der Ausdruck ihrer Augen legte eine Welt zwischen sie. Der Hund bettelte mit den Augen, mit den schlottrigen Flanken, den unruhig trippelnden Pfoten, dem Schwanz; sein ganzes Benehmen war ein einziges Flehen, sich über den Brotknust werfen, ihn verschlingen - sich daran verschlucken zu dürfen. Der Junge genoss das Brot mit Händen und Seele; sein Blick war ruhig, beinahe übernatürlich ruhig, seine Bewegungen feierlich. Er hatte sich das Stück Brot bei uns geholt, ohne eigentlich darum zu bitten, geschweige denn zu betteln — mit einer Miene, die am ehesten besagte, dass er Manns genug wäre, es sich selber zu nehmen, wenn wir es ihm nicht freiwillig gäben. Jetzt beachtete er uns überhaupt nicht, wir waren nicht mehr da für ihn. Das Brot beschäftigte ihn ganz; er hob es mit beiden — gefalteten — Händen zu seinem Gesicht empor, drückte den Mund dagegen, senkte und hob es wieder wie in Andacht. Der Hund trippelte vor Verlangen, wedelte mit dem Schweif und drängte seine ganze Gier in seinem Blick zusammen; jedes Mal, wenn der Junge das Brot an die Lippen führte, rann dem Hund ein Beben durchs Knochengerüst, die räudigen Flanken flogen hin und her, als ob er schluchzte.
„Nein, es ist nicht auszuhalten", brach es aus meiner Begleiterin hervor. „Er ist ja auch kurzgeschoren; er muss aus einem Kinderheim geflüchtet sein, vielleicht aus Samara. Er ist bestimmt eine Waise aus den Hungerdistrikten; trotz allem, was wir tun, sind Wälder und Wildnis ständig voll von ihnen. Es ist doch ihretwegen, dass alles unternommen worden ist, und trotzdem ist es, als wollten sie sich an uns rächen, weil wir ihnen eine geordnete Gesellschaft hinbauen wollen. Überall tauchen sie auf wie ein lebender Protest, formieren Banden, stehlen und morden. Fangen wir sie ein, flüchten sie wieder; es ist nicht mit ihnen fertigzuwerden."
Ich kannte den Typ von den Kinderheimen in Samara her: dieselbe fahlgraue Haut und derselbe kantige Schädel, dieselbe unergründliche Flamme im Blick, der alles mögliche zu verheißen schien — unauslöschbaren Hass auf alle oder heißes, vielleicht genial leuchtendes Mitgefühl.
„Sie sind der schwerste Rückschlag für uns, diese Besprisorni", setzte meine Führerin traurig fort. „Es hat hier ja auch früher
Hungersnöte gegeben, fast jedes Jahr, und Hunderttausende von Kindern verwaisten! Sie legten sich einfach hin und starben. Das haben sie jetzt nicht nötig, wir teilen alle unser Brot mit ihnen. Aber diese hier sind Kinder des Krieges und der Revolution; sie fordern zu leben — und am liebsten, das Leben gefährlich zu leben."
Wir waren mit unserem Brot fertig, aber der Bursche hatte mit seinem noch nicht begonnen. Wie sehr heruntergekommen mussten die beiden sein! Der Hunger saß ihnen tief in den Knochen, die dünn wie Pfeifenstiele waren. „Sehen Sie", rief meine Begleiterin mit bebender Stimme, „er liebkost das Brot. Er ist ein echter Russe!"
Sonderbar, fast unheimlich war es, dass er — ausgehungert, wie er war — doch nicht drauflos aß. Mit seliger Miene führte er das Brot an den Mund, als hätte er nun endlich alle Zeremonien hinter sich und dürfte einhauen; der Hund fasste es auch so auf und winselte jämmerlich. Und mit eins riss er das Brot von seinen Lippen, atmete tief auf — und gab es dem Hund, mit abgewandtem Gesicht. Meine Begleiterin brach in Tränen aus.
Mit Hilfe eines neuen Stücks Brot lockten wir den Jungen zu uns; es war nicht ganz einfach, er war scheu und misstrauisch wie ein Tier des Waldes. Seine Eltern waren bei der großen Hungersnot vor zwei Jahren im Distrikt Samara gestorben; das war alles, was wir aus ihm herausbekamen. Aber sein Leben ließ sich von den Narben und Schmutzkrusten auf seinem Leibe, von dem Ungeziefer, das auf seiner Kopfhaut Wunden verursacht hatte, leicht ablesen. Waden und Schienbeine waren von Narben weißgesprenkelt, eine lange Schramme lief von seinem Hals über die Brust hinab und verlor sich unter seiner Jacke. Frau Vilm schlug sie zur Seite, um die Schramme weiter zu verfolgen; innen im Wams stak ein Messer mit breiter Klinge, die von Blut rostig war. Sie schauerte zusammen.
„Bemerken Sie den Wolfsfunken in seinen Augen, weil ich sein Messer anrührte", sagte Frau Vilm auf deutsch. „Ich möchte ihm ungern in seinem Revier begegnen."
„Er ist so klein und schmächtig — höchstens zehn Jahre alt", wandte ich ein.
„Ja, aber sie treten in Rudeln auf, wie die Wölfe; selbst der Stärkste unterliegt, wenn sie sich auf ihn werfen. Neulich haben sie zwei bewaffnete Rotgardisten, die unterwegs waren, um sie einzufangen, in Stücke gerissen." Sie sah ihn an mit einem Blick, der doch mehr Wärme als Grauen enthielt.
Sie hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und wiegte ihn leise hin und her, während sie zu ihm sprach. So scheu er war, machte er sich doch nicht frei von ihr; er wurde nur ein wenig rot um die Augen, aus Verlegenheit wahrscheinlich. „Komm in die Großstadt", sagte sie plötzlich, drehte ihn zu sich herum und sah ihm in die Augen. „Da wirst du was lernen und ein tüchtiger Mensch werden. Du wirst lernen, ein Auto zu fahren und ein Flugzeug zu steuern — vielleicht auch ein ganzes Land zu steuern."
Der kleine Bursche bekam einen spöttischen Glanz in die Augen; mit einem plötzlichen Ruck machte er sich von ihrem Arm los und zog sich ein wenig von uns zurück. Es hatte den Anschein, als wolle er davonrennen. Aber dann kam er zögernd zu uns zurück. „Kriege ich dann auch Lenin zu sehen?" fragte er und sah von uns weg.
„Das wirst du ganz sicher. Und wenn du tüchtig bist, darfst du auch mit ihm sprechen."
Zu meiner Verwunderung schien diese Aussicht für ihn bestimmend zu sein. Aber Frau Vilm war nicht verwundert. „Der Name ist auch für die Kinder der Wildnis ein Zauberwort", sagte sie; „selbst der verstockte Verbrecher wird ein anderer, wenn dieser Name genannt wird. Er ist wahrscheinlich der einzige auf der Welt, der bis auf den Grund durchdringt."
Ihn mitzunehmen, war uns nicht möglich; wir hatten allerlei vor uns und mussten noch zwei, drei Wochen unterwegs sein. Aber Frau Vilm wusste Rat. „Ich habe einen Freund, der in Tiflis Flickschuster ist; der kann sich solange des Jungen annehmen", sagte sie und holte Schreibmaterial aus der Mappe. Ich sah gewiss ein bisschen dumm drein, denn während sie den Brief zuklebte, sagte sie lachend: „Er ist übrigens nicht nur Flickschuster; er ist ein alter Veteran und hat mehrere Jahre in Sibirien zugebracht. - Bist du in Tiflis gewesen?" fragte sie den Jungen. Er nickte schwach, fast unmerklich, als hätte er Angst, in eine Falle zu geraten. „Dann beeil dich gleich dahin und gib dem Flickschuster am Westtor diesen Brief von mir ab — du weißt doch, der, von dem sie das Lied gedichtet haben: ,Holla Veteran, heisa Partisan!' Er wohnt gleich vor dem Tor. Aber gib gut acht auf den Brief, sonst kriegt statt deiner wer anders Lenin zu sehen."
Ich war skeptisch; mir schien die ganze Sache mehr mit Romantik als mit Wirklichkeit zu tun zu haben. „Ist es nicht ein bisschen weit, um sich mit einem Brief ,gleich dahin zu beeilen'?" meinte ich. „Es müssen von hier bis Tiflis mindestens zweihundert Kilometer sein. Die Adresse erscheint mir ebenfalls ein wenig mangelhaft."
Meine Begleiterin lachte: „Der Flickschuster in Tiflis ist der berühmteste Mann in ganz Georgien, jedes Kind kennt ihn. Er stand doch an der Spitze, als sie die Berge hier säuberten und das Neue fest gründeten. Ich sehe es dem Jungen an, dass er stolz darauf ist, dem Veteran Partisan einen Brief zu überbringen. Außerdem ist er ganz andere Entfernungen gewöhnt; diesmal hat er ein Ziel vor sich."
Trotzdem blieb ich nicht wenig skeptisch. Aber als ich auf der Rückreise einige Monate später durch Petrograd kam, wie die Stadt damals hieß, und Frau Vilm aufsuchte, um ihr für gute Führerschaft zu danken, war Mustafa, unser Findelkind, bei ihr und benahm sich schon ganz wie ein kleiner Einheimischer. Er war vor einem Monat mit dem Zuge angekommen. „Da war allerhand von ihm herunterzuscheuern, können Sie mir glauben", erzählte Frau Vilm, „Schmutz und Ungeziefer und schlechte Angewohnheiten auch. Aber nun ist er ein richtiges kleines Kulturwesen, nicht wahr?"
Er sah gut aus; die Russenbluse kleidete ihn, und der sonderbare Schädel leuchtete vor Menschenverstand. Er hatte angefangen, in die Schule zu gehen, und die Lehrer lobten seinen Lerneifer ebenso wie seine Ordnungsliebe. Die Familie Vilm behandelte er mit der Nachsicht eines Erwachsenen; selbst Babuschka, die alte Großmutter, war in seinen Augen ein Kind. „Ihr habt ja keine Ahnung vom Leben", sagte er zu Frau Vilm. „Du gehst auf Arbeit, dein Mann geht auf Arbeit, Babuschka geht zum Einkaufen auf den Markt — und mich lasst ihr allein zu Hause und schließt nicht einmal die Schubladen ab. Ich könnte mich doch mit allem davonmachen — was seid ihr doch für Kinder!"
„Du bist aber nicht davongelaufen!" sagte Frau Vilm.
„Nein, aber wenn ich es nun täte! Ich bin doch ein Dieb."
Er war zuverlässig genug, verursachte keinerlei Unordnung, sondern war im Gegenteil behilflich, den Haushalt in Ordnung zu halten. In der Schule machte er gute Fortschritte, er war wohlbegabt, und alle hatten ihn gern. So verging der Winter auf beste Art.
Aber zu Anbruch des Frühjahrs erhielt ich die Nachricht, dass Mustafa durchgebrannt sei. Vielleicht hatte er auf dem Schulweg alte Kameraden getroffen, vielleicht war es die Natur selber, die ihn rief; weg war er! Vilm selber machte mir Mitteilung davon, er war sehr niedergeschlagen. Sie hätten den Jungen suchen lassen können, das wollten sie aber nicht.
Weit weg konnte er übrigens nicht sein; sie spürten ihn auf die verschiedenste Weise. Es war deutlich zu merken, dass er ihr Tun und Lassen ziemlich genau verfolgte, während er sich selbst verborgen hielt. „Es ist seltsam", schrieb Frau Vilm, „er weiß alles, was uns geschieht, wie wenn er in der Luft um uns zugegen wäre. Kürzlich war mir im Theater meine Tasche abhanden gekommen, und ein paar Tage später, als wir von der Arbeit nach Hause kamen, lag sie in der Stube auf dem Tisch. Mustafa muss hier gewesen sein und sie gebracht haben; der Junge versteht ja nicht nur Herzen, sondern auch Türen zu öffnen. Vielleicht hat er bei seinen Kameraden die Tasche gefunden."
Er war ihr ein und alles geworden, dieser vom Schicksal misshandelte Junge. Ihre Briefe handelten nur von ihm, von ihrer Bewunderung und Liebe - und ihrer Trauer darüber, dass er fort war. Es fiel ihnen schwer, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er nie mehr zurückkehren würde.
Aber als sich der erste Schnee auf die grünen Kupferdächer Leningrads senkte, erhielt ich die freudestrahlende Nachricht, dass Mustafa wieder aufgetaucht wäre, schmutzig und voll von Ungeziefer, dass es ein Grauen gewesen. Frau Vilm nahm ihn auf, als wäre er nur ein paar Stunden weg gewesen, badete ihn und kleidete ihn ein. Auch in der Schule empfingen sie ihn wie selbstverständlich, niemand fragte ihn, wo er sich aufgehalten hätte.
Das war klug gehandelt von ihnen, denn Mustafa zeigte ein unvorstellbares Gefühl der Solidarität, wenn es seine andere Welt galt; niemals verriet er mit einem Wort, was die Kameraden anging. Er schleppte auch nichts von da draußen ein, was ich für früher oder später befürchtet hatte. Er verstand es, die beiden Leben scharf voneinander getrennt zu halten; sie schienen auch einander aufzuwiegen, so dass keins die Oberhand bekam. Der sechs-, siebenmonatige Aufenthalt in dem behaglichen, ordentlichen Heim hatte ihn nicht für die Gesellschaft gewinnen können, aber das lockere, vogelfreie Sommerleben hatte ebenso nicht mehr Gewalt über ihn, als dass er zurückkehrte, wenn die Kälte einsetzte. Dieses Wechselspiel zwischen wild und zahm wiederholte sich mehrere Jahre.
Ich konnte das alles nur aus der Ferne verfolgen, aber auch in meinem Dasein machte sich Mustafa, dieser schäbige Bursche, geltend, war sozusagen ständig unsichtbarlich zugegen. Dies zugleich unheimlich erfahrene und kindlich unberührte Menschenwesen, das bis auf den tiefsten Grund des Daseins hinabgestiegen war und sich doch das Wesentliche bewahrt hatte, war auf besondere Weise bei allem, was ich unternahm, gegenwärtig. Es war, als ob in seinem Schicksal Leben und Tod auf der Waagschale lägen, als ob die Zukunft selber davon abhinge, welche Richtung er nähme - ob auf Abkehr und Krieg gegen die Gesellschaft oder auf ein Leben des fruchtbaren Aufbaus.
Es waren, wie gesagt, mehrere Jahre vergangen, ehe mich die
Umstände von neuem nach Leningrad führten. Dieses Mal musste ich Mustafa sehen; ich trat die Reise frühzeitig an, um sicher zu sein, ihn noch bei der Familie Vilm anzutreffen.
Ich ging vom Hotel geradenwegs zu dem Büro, wo Frau Vilm arbeitete. Sie empfing mich mit der betrüblichen Mitteilung, dass Mustafa bereits ausgeflogen wäre. „Es ist viel früher als sonst; wenn ihn das Draußen nur nicht ganz einfängt", sagte sie.
„Vielleicht braucht er ein stärkeres Gegengewicht gegen das Vagabundenleben, als ihr ihm bieten könnt. So gut ihr auch zu ihm seid, ich glaube, es ist ihm bei euch nicht spannend genug. Ob wir nicht versuchen sollten, ihn in einer der GPU-Siedlungen unterzubringen? Die Leute dort scheinen auf Burschen seiner Art eine besondere Gewalt auszuüben."
„Und wo fassen wir ihn? Einen ganzen Apparat in Gang setzen, um ihn zu suchen, ist nicht angebracht. Wenn ihm nur von ferne schwant, dass er hinter einen Zaun soll, sehen wir ihn niemals wieder."
Am nächsten Morgen rief Frau Vilm mich an. „Er ist hier", teilte sie mir mit vor Freude jubelnder Stimme mit. „Er kam eben an - sicherlich, um Sie zu sehen. Er wusste, dass Sie hier sind."
Ich wollte gleich hinausfahren, aber sie bat mich, bis Mittag zu warten. „Dann habe ich ihn ein bisschen hergerichtet - und sonst noch was; Sie wissen schon! Er ist ganz verwildert."
Er freute sich außerordentlich, mich zu sehen, der Bursche, so wenig Anteil ich auch an ihm und seinem Schicksal hatte; er sprang mir in die Arme wie ein großer junger Hund. Aber woher er wusste, dass ich in der Stadt war, wollte er nicht sagen. „Das weiß man eben", antwortete er und lachte. Später wurde dieses und vieles andere von seinem mysteriösen Wissen aufgeklärt. Vor Frau Vilms Büro ist ein kleiner Platz, mittendrauf steht eine Litfasssäule, und in deren Hohlraum hatte er sich eine kleine Zufluchtsstätte eingerichtet. Hier hielt er sich auf, wenn er vor den Kameraden Ruhe haben wollte und das Bedürfnis fühlte, seine Pflegemutter zu sehen. Es war ihm also doch nicht ganz gelungen, draußen in der Freiheit das Heim von sich abzuschütteln.
Ich suchte die GPU-Abteilung für Entgleiste und Waisen auf und erklärte ihnen die Sache. „Morgen Nachmittag schicken wir einen von unseren Lassomännern zu Ihnen", antwortete man mir. „Sorgen Sie dafür, dass der Junge zu Hause ist."
Ich hatte mich zeitig bei Vilms eingestellt, ein GPU-Mann erschien aber nicht. Mustafa, in seinem Winterdasein ein eifriger Briefmarkensammler, war damit beschäftigt, allerlei Marken, die ich ihm mitgebracht hatte, in sein Album zu kleben; wir anderen saßen dabei und sahen einander an. Die Spannung macht uns wortarm; wie würde er es aufnehmen? Würde er davonrennen oder freiwillig mitgehen? Er ahnte nicht im geringsten, was wir mit ihm vorhatten; sorglos saß er da, hantierte mit den Marken und erzählte Babuschka, was er von Skandinavien wusste. Aber jeden Augenblick mochte er alles das beiseitefegen und sich in die Heimatlosigkeit hinausbegeben, die Sommersaison hatte sich ja schon bei ihm gemeldet. Und es kam immer noch kein Fürsorgemann.
Ein wettergebräunter junger Mann kam von der Straße herauf und fragte, ob hier ein Mechaniker wohne. „Nein", antwortete Herr Vilm abweisend, „Mechaniker pflegen nicht im dritten Stock zu wohnen!" Der Mann entschuldigte sich; seine Maschine sei nicht in Ordnung und man hätte ihn hierhergewiesen. „Ja, ich bin allerdings Ingenieur", sagte Vilm etwas liebenswürdiger, „aber von Motorfahrzeugen habe ich keine Ahnung. Nehmen Sie doch Platz und trinken Sie eine Tasse Tee, dann können wir darüber reden."
„Wenn der Russe keinen anderen Ausweg sieht, trinkt er Tee!" Der junge Motorfahrer lachte ausgelassen. „Leider habe ich keine Zeit - also vielen Dank. Überlassen Sie mir lieber den Jungen dort, damit er auf die Maschine Acht gibt, während ich einen Mechaniker suche. Er sieht mir ganz so aus, als ob er die Allesbefummler fernhalten könnte!"
Das war etwas für Mustafa: einem zur Hand gehen, der von
Kopf bis Fuß in Leder steckte und hoch auf der Stirn eine Staubbrille trug; von den Jungen auf der Straße beneidet werden, weil man mit einem richtigen Helden, mit einem braungebrannten Ledermann zusammenarbeitete! Er hatte dagesessen und den jungen Motorfahrer mit den Augen verschlungen, hatte ihn mit allen Sinnen in sich aufgenommen; mit einem Sprung war er auf den Beinen und vorneweg die Treppen hinunter.
Vom Fenster aus sahen wir sie am Parkgitter drüben auf der anderen Straßenseite an dem Motorrad herumbasteln. Sie hatten keinen Mechaniker geholt, sondern machten sich selber daran; und als sie sich mit der Maschine eine Zeitlang abgemüht hatten, setzten sie sich drauf und fuhren los, Mustafa im Rücksitz. „Wisst ihr was? Ich glaube, das ist der Lassomann", sagte Frau Vilm plötzlich.
Es vergingen ein paar Stunden, dann hörten wir es auf der Straße knattern; der Ledermann kam herauf, gefolgt von Mustafa, der rote Wangen hatte — vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben — und Augen, die von dem Erlebnis glühten. „Besten Dank für den Jungen", sagte der Motormann. „Er ist ein tüchtiger Bursche, er kann beinahe schon die Maschine fahren. Es kann ein guter Fahrer aus ihm werden, vielleicht sogar ein Flieger! Aber er muss mehr lernen; morgen komme ich und hole ihn. Mechaniker muss er lernen!"
Diesmal hatte Mustafa hinsichtlich seines Ausflugs keine Geheimnisse vor uns. Sie waren auf den Inseln gewesen, waren auf allen Straßen dahin gebraust, dass er sich kaum festzuhalten vermochte, und hatten einen Pionierklub besucht, wo ihn die Jungen mit Hurra begrüßten. „Das ist doch etwas anderes, als an den Puffern hängen und die Kameraden unter die Räder fallen sehen", sagte er und lüftete unversehens einen Zipfel von seinem zweiten Dasein.
Der Motormann holte ihn jeden Tag ab. Eines Tages brachte er ihn nicht wieder zurück, sondern setzte ihn draußen in Bolschewo ab, in dieser bemerkenswerten Kolonie, wo fünftausend Entwurzelte vom Schlage Mustafas nicht nur Wurzeln geschlagen haben, sondern eine neue Gemeinschaft aufbauen und sich in den Kopf gesetzt haben, dass sie alle anderen Gemeinschaften übertreffen soll.
Dort habe ich das eine und andere Jahr Gelegenheit, ihn zu besuchen. Er läuft nicht davon, dafür ist das Leben in der Kolonie das ganze Jahr hindurch viel zu spannend. Mechaniker ist er nicht, die Maschine war nur ein Köder gewesen, ihn ins Gehege zu holen; jetzt ist er einer der anderthalb Hundert Schüler an der Kunstakademie von Bolschewo. Er ist derjenige, der die Ausschmückung des neuen großen Theaters der Siedlung unter sich hat.
Ein kräftiger junger Mann ist er jetzt, gesammelt in Ausdruck und Wesen, stetig und zielbewusst. Er kann etwas verbissen aussehen, wenn er den im Verhältnis zu seiner Jugend und seinen frühen Lebensumständen unfassbar großen Aufgaben gegenübersteht. Aber sein Blick und seine ganze Erscheinung strahlen einen eigenen Glanz aus, einen lichten Schein, der in meinem Bewusstsein stets mit der Vorstellung der Zukunft verbunden ist. Er ist den Weg ins Leben gegangen, hinunter der bodenlosen Tiefe zu und wieder hinauf — einer neuen Welt entgegen!
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