KÖNIG FÜR EINEN TAG
Wir waren drei Mann auf dem Gerüst: Meister Olsen, der Geselle und ich. Meine Aufgabe war es, am Flaschenzug zu stehen und hinunterzurufen: „Halt! — Senken! — Anheben!" Ich musste die Stein- und Mörtellast auf das gebrechliche Gerüst hereinschwenken und sie unter die beiden anderen verteilen und im Übrigen mit meinem Kameraden am Fuß des Schornsteins schimpfen, wenn er den Fördereimer nicht rasch genug füllte. Er war lungenkrank; in kurzen Abständen überfiel ihn der Husten, und dann musste er hinter den Materialschuppen gehen und sich übergeben. Dann schimpften Geselle und Meister, weil Steine oder Mörtel fehlten, und ich beugte mich über das Gerüst hinaus und gab die Schimpfworte weiter.
Wir waren eifrig bei der Arbeit; es war das erste Mal, dass sich Bornholmer Maurer an den Bau eines so hohen und schlanken Fabrikschornsteins gewagt hatten; sie machte Spaß, die Arbeit. Wir waren an die hundert Fuß hoch; bis zum nächsten Abend sollten die hundertundzwanzig Fuß fertig gemauert, sollte der Kranz oben geschlossen und das Gerüst abgenommen sein.
Meister Olsen stand innerhalb des Ringes und mauerte die Innenseite des Schornsteins. Er war klein und ein älterer Mann, ein Dorfhandwerker alter Schule. Man merkte es ihm an, dass er sich des Abenteuerlichen mit all seiner unsicheren Spannung bewusst war; sein sonst so ruhiger Gesichtsausdruck schwang zwischen Furcht und Selbstgefühl hin und her. Noch nie hatte er sich in solche Höhe empor gemauert. „Er federt gut", rief er jedes Mal, wenn der Oktobersturm den dünnen Schornstein besonders heftig angriff. Wenn die Sonne durchkam, bewegte sich der Schatten des Schornsteins über die Felder unheimlich vor und zurück - wie ein schreibender Finger.
„Den nächsten Schornstein bauen wir ohne Gerüst", sagte Ludwig, der Geselle. „Dann gehen wir von innen her nach oben und lassen die ganze Geschichte sich selber tragen." Der Meister schüttelte den Kopf.
Alles beruhte auf Ludwig. Pfeifend beugte er sich mit seinem Lot weit nach außen und fluchtete die schlanken Linien aus. Er war ein unternehmungslustiger Bursche und in seinem Beruf von hervorragender Tüchtigkeit; er hatte drüben in der Hauptstadt ausgelernt, war vor einigen Jahren zurückgekommen und hatte dem Handwerk neuen Schwung gegeben. In gerader Mauer verlegte er seine drei- bis viertausend Steine den Tag, und die alten Pulver vergaßen ganz, überhaupt etwas zu tun, nur um ihm dabei Zuzuglotzen. Dafür hatte er auch begriffen, was ein Arbeiter wert ist, und er trat mit Vorstellungen auf, wie der Arbeiter mit den vornehmeren Leuten auf gleichen Fuß zu stellen sei. Im Augenblick war er dabei, die jungen Arbeiter in einen Diskussionsklub zu vereinigen, der das sozial-ökonomische Problem erörtern sollte. „Zuallererst müssen wir Bescheid wissen, was uns eigentlich fehlt", sagte er keck. Er besaß nicht wenig Phantasie, und alles, was er unternahm, hatte etwas vom großen Schwung an sich. Er war fest davon überzeugt, dass die Arbeiter eine Zukunft hätten. „Es kommt nur darauf an, die Hand auszustrecken und zuzugreifen", sagte er mit seinem zuversichtlichen Lächeln. „Soll ich etwa weniger als ein Beamter oder Großkaufmann lernen können, mich auf Musik und Literatur zu verstehen? Ich habe bloß weder Zeit noch Geld dazu, wie die Dinge heute liegen! Wir müssen die Arbeiter zusammenschließen, Morten!"
Ich stand auf dem schwankenden Gerüst herum und fror und sehnte mich danach, auf die Erde hinabzukommen; die beiden Männer hatten nicht genug Beschäftigung für mich.
Auf dem Feldweg kam ein Junge herangeradelt; er schwenkte einen Zettel in der Hand. „Verflucht noch mal, das ist die Lotterie!" rief Ludwig, als wäre das selbstverständlich; „da ist man denn endlich dran!" Und es war tatsächlich die Lotterie, er hatte fünfundvierzigtausend Kronen gewonnen. Das Werkzeug fiel ihm aus der Hand. „Ich glaube, ich mache sofort Schluss, Meister", sagte er geistesabwesend; Stimme und Blick weilten schon bei irgendwelchen neuen Dingen.
Meister Olsen flehte ihn an, zu bleiben. Was sollten wir zwei denn anfangen; keiner von uns verstand sich auf Schornsteinbau, Ludwig hatte uns in diese Sache hinein gelockt. Der aber war schon dabei, sich hinunterzulassen; er hatte keine Zeit, die Leiter zu benutzen. Das Rollenwerk knarrte stark unter seinem Gewicht. Am selben Abend fuhr er mit dem Dampfer nach Kopenhagen; was seine Pläne waren, wusste niemand. Der Meister und ich mussten mit dem Oberteil des Schornsteins fertig werden, so gut wir konnten.
Eine Zeitlang war er spurlos verschwunden; niemand wusste etwas von ihm. Aber dann tauchte sein Name plötzlich auf: in höchst unglaubwürdigem Zusammenhang; entschwand, tauchte von neuem auf und blieb in aller Munde. Der eine kam nach Hause und hatte ihn im Theater gesehen; er war schrecklich elegant gewesen. Der andere hatte von ihm und einer bekannten Schauspielerin erzählen hören, und ein dritter, der in der Kaserne in der Sölvgade Soldat war, hatte eine Fressliebschaft mit einem Dienstmädchen, dessen Herrschaft ihm ein ganzes Mittagessen gewidmet hatte. Kurz gesagt, er verkehrte mit den Großen, rührte keinen Finger mehr, sondern ging ständig in Handschuhen und Zylinderhut! Die Menschen bekreuzigten sich und erzählten drauflos; ihre Phantasie war in Schwung gekommen, und nun waren sie bereit, viel mehr zu glauben, als sich an Nachrichten auftreiben ließ.
Ich selbst war ein bisschen niedergeschlagen. Wir waren uns im Winter auf der Volkshochschule des Ortes begegnet und hatten - jung wie wir waren - unerschütterliche Freundschaft auf Lebenszeit geschlossen. Den ganzen Sommer über waren wir gemeinsam von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle gezogen und hatten der eine mit dem andern im selben Akkord gestanden; wenn
wir genug verdient hätten, wollten wir zusammen eine große Handwerkerschule besuchen, um uns weiter auszubilden. Und nun war er weggegangen, ohne mir auch nur ein Wort der Erklärung zu sagen! „Du musst doch Bescheid wissen", sagten die Leute immer wieder, „so befreundet, wie ihr wart!" Mit einer gewissen Beschämung musste ich gestehen, dass er mir nicht einmal geschrieben habe. Im Stillen hatte ich gehofft, dass er mir schreiben und mir Geld schicken würde, damit ich die Schule besuchen könnte — jetzt war er ja reich! Aber er hatte mich völlig vergessen.
Allmählich wurde es deutlich, dass die große Welt ihn verschluckt hatte. Er lebte drüben in Saus und Braus und dachte an nichts — das viele Geld war ihm zu Kopfe gestiegen. „Er ist behext", sagten die Leute. Es verlautete, dass er sich einen eigenen Wagen hielte und stets in Begleitung der Schauspielerin zeige; sie hatte ihn in die vornehme Welt eingeführt und ihn dazu veranlasst, seinen Namen zu ändern. Er trat als schwedischer Baron auf, wobei ihm sein Dialekt zustatten kam.
Um die Weihnachtszeit hatte ich so viel zusammengespart, dass ich auf einer Handwerkerschule auf Seeland einen Dreimonatskursus mitmachen konnte. Im Frühjahr reiste ich wieder nach Hause, um Arbeit anzunehmen. Ich hatte nicht die Mittel, mich in Kopenhagen länger aufzuhalten, so verlockend es auch war; ich ging vom Bahnhof unmittelbar zum Dampfer, um mir eine Fahrkarte zu lösen.
Ich schlenderte langsam den Strög hinunter, machte ab und zu vor einem Schaufenster halt — und gebrauchte im Übrigen fleißig die Augen. Plötzlich erblickte ich ein junges Paar vor mir; sie sahen so glücklich aus, dass ich sie nicht aus den Augen zu lassen vermochte. Der Herr war in Gehpelz und hohem Hut, sie hatte den Kopf fast ganz in Pelz- oder Federwerk — was es nun sein mochte — verborgen und glich beinah einer Kropftaube; sie gurrte und schmiegte sich dicht an ihn. Ich ging rascher, um einen Schimmer ihrer glücklichen Gesichter zu erhaschen — es war Ludwig.
Als sie in ein herrschaftliches Haustor einbogen, erkannte er mich und winkte. Ich war böse auf ihn und tat, als merkte ich es nicht; aber auf Kongens Nytorv holte er mich ein, ganz außer Atem, aber unbändig froh, mich zu sehen.
„Na, so ein Zufall!" sagte er und schüttelte mir die Hand. „Ich hatte schon Angst, du würdest mir entwischen — ich musste doch erst das Mädchen hinaufbegleiten."
„War das die Schauspielerin?" fragte ich ein bisschen spitz. „Nein, bist du verrückt! Das war meine Braut — ein prächtiges Mädchen, will ich dir nur sagen, Tochter aus einer alten Bankiersfirma mit einem Haufen Geld. Wir heiraten bald, und dann werde ich in die Firma aufgenommen; wir tun die beiden Vermögen zusammen und erweitern das Geschäft." „Dann hast du hier drüben also viel Geld verdient?" Darauf antwortete er nicht, sondern plauderte nur drauflos, ganz der alte Handwerkergeselle von früher; er schwatzte und lachte, als wollte er sich für jahrelanges Schweigen entschädigen. Währenddessen schleppte er mich in eines der vornehmsten Hotels und in dessen Cafe hinein, wo alles Gold, Stuck und
große Spiegel war.
„Findest du es hier nicht großartig!" fragte er, indem er sich
auf ein Sofa warf.
Ich musste gestehen, dass ich mich in einem gewöhnlichen Wirtshaus wohler fühlte.
„Das ist das Sklavenmal, mein Freund!" rief er lachend. „Aber jetzt sollst du etwas trinken, was dir gefallen wird!" Er rief den Kellner und bestellte ein Getränk, das ich noch nie hatte nennen hören.
Ich musste überhaupt bewundern, wie sehr er hierher gehörte. Alle Augenblicke erhob er sich und begrüßte elegante Damen; und er führte sich auf, als wäre er nie etwas anderes als Graf gewesen.
Als wir aufbrechen wollten, fasste er erschrocken nach seiner Brusttasche.
„Hör, sei nett und leih mir zehn Kronen", flüsterte er und lachte ein bisschen verlegen, „ich habe kein Kleingeld bei mir." Das war eine gute alte Redensart vom Gerüst her.
„Aber du bist doch reich", rief ich erstaunt.
„Puh, die paar Schillinge - die waren rasch um die Ecke. Jetzt lebe ich vom Schuldenmachen. Du erinnerst dich wohl: im Physikunterricht war die Rede davon, dass ein Ziegelstein, wenn man ihn vom fünften Stockwerk herunterfallen ließe, einen anderen Ziegelstein ebenso hoch hinaufheben könnte — gewissermaßen also durch die Kraft des Falles! Und so ist es auch hier, siehst du; hat man fünfundvierzigtausend verjubelt, so kann man in gleicher Höhe Schulden machen, ehe das Seil ausläuft. Und bin ich erst verheiratet, dann..."
Er musste mir versprechen, mir mein Geld umgehend wiederzuschicken; ich brauchte es doch, um davon zu leben, bis ich Arbeit bekäme. Er vergaß es natürlich, und im Übrigen fand ich auch unmittelbar, als ich nach Hause kam, Arbeit. Meister Olsen war durch unsere Schornsteinbauerei mutig geworden und hatte die Maurerarbeiten an einer Kirche übernommen; ich wurde wieder als Handlanger eingestellt.
Im Hochsommer standen wir eines Tages auf dem Gerüst beisammen und verschnauften uns, es war sehr warm. Wir hatten uns aus dem Konsum Bier geholt und tranken gerade eine Gedächtnisflasche zu Ehren des schwindsüchtigen Kameraden, der eben gestorben war. Auf der staubigen Landstraße kam ein junger Bursche heran getrabt, ein Bündel unterm Arm; er schwang seinen Stock und sang aus vollem Halse. „Der da hat keinen Staub in der Kehle!" sagte Meister Olsen, und wir anderen lachten. „Aber zum Henker — ich glaube weiß Gott..."
Es war tatsächlich Ludwig; er kletterte wie ein Waldteufel die Leitern des Gerüstes herauf, stand mit einem Sprung vor uns und warf sein Bündel auf die Bretter. „Tag, Meister — kann ich wieder anfangen?" fragte er vergnügt. Fünf Minuten später hatte er sich umgezogen und war in vollem Gange.
„Du hast dich damals also nicht verheiratet?" fragte ich ein wenig schadenfroh, als wir wieder wie früher in der Schicht zusammen waren.
„Ach, das war alles Mumpitz. — Das heißt, es mag ja ganz nett sein für jemand, der an so was Geschmack hat — ich für meine Person bedanke mich! - Und wie geht es dem Klub?" Ja, der war natürlich geplatzt.
„Wir müssen ihn wieder in Gang bringen, du — und überhaupt in der Agitation ein bisschen Dampf machen. Denn ich will dir sagen, es gibt welche, die tun gar nichts und leben auf Kosten des armen Mannes. Lebemänner, verstehst du!"
Er hatte ja selber Erfahrung darin. Aus seinem Benehmen merkte man übrigens selten etwas davon. Er verfügte über seinen alten Humor und bereute nie, dass „die paar Schillinge" daraufgegangen waren. Er war für einen Tag König gewesen, es gefiel ihm aber mindestens ebenso gut, auf dem Gerüst zu stehen und von da aus in die Zukunft zu sehen.
1910
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