DAS KIND DER LIEBE
Dies ist die Geschichte von Boline, die ein Kind der Liebe war und trotzdem zum ersten Mal auf dieser Erde einen Beweis der Liebe empfing, als sie über sechzehn Jahre alt war, überdies in einem finsteren Treppenhaus und von einem wildfremden Menschen, der es nicht weiter ernst damit meinte.
Indes, die Geschichte muss mit dem Anfang anfangen, und der liegt weit zurück — ganz weit draußen in dem großen Nichts. Von da nahm Boline ihren Ausgang und von dorther wurde sie reichlich mit allen Eigenschaften ausgestattet, die auch fernerhin die einzigen sein werden, die ihresgleichen heil durchs Leben zu führen vermögen.
Selbst die Schöpferstimme, die sie so schicksalschwer aus der grauen Öde hereinrief, damit sie ganz zur Unzeit auf eigene Faust ein kümmerliches Dasein begönne, hatte nichts von Lebenswärme an sich. Auch sie durchschritt das große Symbol am Eingang zum Leben, aber das Herz, worunter sie ruhte, um sich an die liebevolle Menschheit zu gewöhnen, war kalt aus Entsetzen vor den Folgen.
Boline hatte ihre Entstehung einem Waldfest, einer tanzglühenden Hofbesitzerstochter und einem nach oben strebenden Bauernknecht zu verdanken; sie sollte der nüchternen Absicht dienen, den Knecht in den Hofbesitzerstand zu erheben. Das misslang, und damit war alles für sie entschieden, obgleich sie noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte. Das Standesgefühl war stärker als die Furcht vor der Schande, der Knecht wurde fortgejagt. Die Tochter wurde einer ergebnislosen Schwitzkur unterworfen und danach in die Hauptstadt geschickt, um den Haushalt zu erlernen. Von dorther ging nun einmal alle Verderbnis aus — auf diese oder eine andere Weise; es war also nichts weiter als gerecht, dass man es ihr heimzahlte.
Auf dem Lande nahm das Leben so gleichmäßig seinen Gang, wie das Korn wächst — Boline erhielt keinen Einfluss darauf. Die Ernte war weiterhin die natürliche Folge der Aussaat; man machte ein Kreuz in den Kalender, sooft der Grund zu einem neuen Lebewesen gelegt wurde. Die Verhältnisse wurden vom Alltäglichen bestimmt und erhielten nicht die Erlaubnis, den Menschen über den Kopf zu wachsen. Und sollte sich etwas Unerwartetes zusammenbrauen, dann setzte man den Pastor jetzt wie früher auf eine Leiter und trug ihn hinaus, damit er den Storch verjage. Der gute Mann hatte immer noch zu große Füße.
Von Boline drohte keine Gefahr. Sie hatte genug zu tun, die Stellung zu halten, und als sie sich ein wenig vor der Zeit den Eintritt ins Dasein erzwang, war alles so zurechtgelegt, dass ihr Leben von Anfang an auf das eines Schattens reduziert ward. Gegen eine einmalige Abfindung wurde sie von einer versoffenen Schneiderfamilie adoptiert, die davon lebte, dass sie Pflegekinder aufnahm; für das übrige mochte Boline selber sorgen.
Die Mutter eilte schleunigst nach Hause zurück, rot und frisch und unbefangen wie nie zuvor. Nicht eine Spur war ihr anzumerken, ausgenommen vielleicht, dass ihr Busen voller geworden war. Wenn wirklich was vorgekommen war, hatte sie jedenfalls reinen Tisch gemacht. Da gab es keine heimlichen Verbindungen nach der Hauptstadt hin; keine verdächtige Spur, wo sie gewandelt hatte; nirgends reckte sich eine kleine Kinderhand aus der Erde und zeugte wider sie. Es war also doch wohl Lüge gewesen, wie so vieles andere; der Knecht war ein Prahlhans, und man hatte auch schon früher erlebt, dass junge Mädchen in die Hauptstadt gingen, um etwas zu lernen. Im übrigen — ein jeder muss selber wissen, was er tut; und was das Ohr nicht hört und das Auge nicht sieht, auch kein Herz mit Kummer bezieht - und so weiter und so fort! Und Alleinerbin eines guten Hofes war sie nun einmal.
Ein kleiner Verdacht blieb aber doch an ihr hängen; sie sank im Preise kraft jenes Unfassbaren, das den Wert des schönsten Anzugs auf die Hälfte herabsetzt, wenn er nur ein einziges Mal bloß eben für die Fahrt zur Kirche und zurück — an einen Bräutigam ausgeliehen war. Sie bekam einen Witwer ohne Geld! Aber er war aus dem Stande, und deshalb behielt sie ihre roten Wangen und ihre stattliche Fülle. Züchtig und in Ehren bekam sie Kinder mit ihm und erzog sie liebevoll zu Fleiß und Gottesfurcht; kein fernes Kinderweinen störte ihre gerechten Tage oder raubte ihren Nächten den Schlaf. Sie hatte ein so gutes Gewissen, wie es einem nur ein Griff in den Geldbeutel verschaffen kann; wo sich manch eine mit der Tongrube begnügt, hatte man in Bargeld Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Nun, Boline schrie auch gar nicht sehr laut. Zwischen ihr und dem Leben, dem sie eigentlich angehörte, breitete sich der leere Weltenraum; es war, als ob es das Kind schon bei der Geburt gewusst und von vornherein darauf verzichtet hätte, sich geltend zu machen. Im Grunde hatte sie überhaupt kein Recht, auf der Welt zu sein, denn das einmalige Abfindungsgeld war schon nach dem ersten Jahr durchgebracht. Es war ein kleines Missverständnis von ihr, länger aushalten zu wollen als das Geld. Die Pflegeeltern fassten es schlechthin als Schikane auf und behandelten sie dementsprechend.
Sie lebte von wenig Nahrung oder gar keiner; dann und wann wurde sie auch überfüttert, und das bedeutete beinahe die größte Gefahr für ihre Existenz. Aber sie überstand es gleichfalls.
Und wie sie heranwuchs — mehr eine Verleiblichung des Elends denn ein lebendes Wesen —, wartete sie andere Pflegegeschwister, deren Geschichte der ihrigen aufs Haar entsprach. Einige von ihnen sah sie aus dem Leben gleiten, still, fast unmerklich, während sich andere mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit ans Dasein klammerten. Der Tod bedeutete ihr kein Schrecken; vor oder nach dem Augenblick, den die Pflegeeltern für so entscheidend ansahen — an den kleinen Pflegegeschwistern war kaum ein Unterschied festzustellen. Die Farbe war dieselbe; eine
schwache Bewegung, ein leises Wimmern hie und da — das war alles.
Boline selbst aber wurde mit Mühe und Not vierzehn Jahre alt und in Dienst geschickt.
Niemand interessierte sich für ihre Eltern und deren Trauschein, auch nicht der Pfarrer, dessen Kinder sie während des ersten Halbjahrs ihres Dienstes zu warten übernahm. Um so mehr wurde nach ihren Körperkräften und namentlich nach ihrer Aufgewecktheit gefragt.
Boline war weder stark noch aufgeweckt. Sie war eine schmutziggraue Haut über marklosen dünnen Knochen, und das Blut, das sich durch ihre Adern schlich, war bläulich und dünn wie die abgerahmte Milch in der Hauptstadt — von genau jener herben Lebenswärme, die die Milch annimmt, wenn man sie mit billigstem Fusel versetzt. In dieser Flüssigkeit war nicht Kraft genug, einen selbständigen Gedanken zu erzeugen, kaum genug, eine Anweisung auszuführen; die Folge davon war, dass Boline häufig die Stellung wechselte.
Nach und nach bekam sie doch ein bisschen Fleisch auf den Leib; sie war so dankbar und nahm sogar in Stellungen, wo andere hungerten, an Gewicht zu. Aber es war keine richtige Festigkeit und Kraft darin, und in Gehirn wollte es sich nie verwandeln. Das blaugefrorene Aussehen verlor sie nie, sie war steif und ängstlich und hatte ungeschickte Hände — es ging ihr viel entzwei. Deswegen musste sie viele grobe Worte einstecken, und darüber und über ihre eigene Unfähigkeit weinte sie sehr. Und das Weinen machte sie noch unbrauchbarer.
Auf diese Weise wurde das Kind der Liebe sechzehn Jahre alt, erhielt zwölf Kronen Lohn im Monat und empfing, wie gesagt, zum ersten Mal auf dieser Erde einen Beweis der Liebe. Es überfiel sie in einem halbdunklen Treppenhaus — von einem jungen Herrn mit blondem Schnurrbart und in Ulster —, und hinterher grübelte sie viel darüber nach, ohne aber recht damit fertig zu werden. Was Schläge waren, wusste sie, auf solche Art aber hatte sie niemals jemand angerührt! Mal für Mal fühlte sie nach der
Wange, wo sie die Empfindung der sanften warmen Berührung immer noch verspürte, und ließ sich dann verwundert zu ihren Scheltworten und ihren Tränen in die Wohnung ein.
Aber es war in ihr etwas entzündet worden; an einem Abend in der Woche und jeden zweiten Sonntag von vier Uhr an schien ihr die Sonne auf den Weg — ob das Wetter so war oder anders. Menschen, denen sie niemals den geringsten Gefallen getan hatte, alte Männer und ganz junge Schlakse, sprachen sie auf der Straße an und nannten sie Fräulein, wie sie da ging und stand in ihren schlechten Kleidern. Der Kolonialwarengehilfe mit den vielen Pickeln stand in der Ladentür, wenn sie abends ausging, und sagte Dinge, dass es in ihr kribbelte vor Lachlust; feine Herren mit Angströhren auf dem Kopf traten auf der Straße an sie heran und baten, sie begleiten zu dürfen — und das gerade an dunklen Orten, wo sie sich ein wenig fürchtete, allein zu gehen.
So gut waren die Männer. Selbst ihr Dienstherr zu Hause erwies ihr ein bisschen Freundlichkeit, wenn die Gnädige nicht dabei war.
War es der Sonnenschein der Freude einen Abend in der Woche und jeden zweiten Sonntag, der so befruchtend wirkte, oder der tägliche Regen — oder etwa beides gemeinsam? Wie dem auch sei, Boline blühte auf und wurde rundlich.
Die Waschfrau riet ihr, grüne Seife zu essen und Petroleum zu trinken; die Herrschaften sahen es eine Weile an und kündigten ihr dann. Sie hatten nicht das Herz, einen Menschen in diesem Zu stand sich abrackern zu lassen.
Nun suchte sie Stellung und suchte und suchte; überall musterte man sie aufmerksam und schüttelte den Kopf. Herrgott, selbst ein reines Kind und schon auf dem Wege — sie war ja nicht einmal richtig entwickelt! Eine alte Dame holte sie in die Wohnung, und Boline musste erzählen, wie sie zu dem Unglück gekommen war. ,Hier werde ich sicher bleiben können', dachte sie; aber als sie die Neugier der alten Dame befriedigt hatte, durfte sie wieder gehen.
Die Waschfrau war die einzige, die es gut mit ihr meinte. Eigentlich hatte sie selber das Haus voll, denn ihre ganze Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer, und die einzige Schlafgelegenheit, über die sie verfügte, war ein einschläfriges Bett -und dazu hatte sie noch abvermietet, um die Miete bezahlen zu können! Trotzdem rückte sie das Bett des Logisherrn ein wenig von der Wand ab, so dass zur Not zwei darin liegen konnten, wenn man die Betten ein bisschen breit auflegte und sich selber dünn machte. Boline kriegte die Matratze auf dem Fußboden, wo sonst die Frau selber zu liegen pflegte, und das ging! Jeden Abend ging sie hinter Madame Rasmussens dünnem französischem Schal, der als Wandschirm über zwei Stühle hing, zu Bett, und Hansen musste sich verpflichten, im Schlaf nicht auf den Fußboden zu spucken, weil die Stube so klein war.
Aber dadurch bekam sie noch keine Stellung. Und Hansen wurde allmählich knotig, obwohl er doch nur für sich selber bezahlte; und Madame Rasmussen war auch wie gerädert von der Wand und der Bettkante, wenn sie morgens aufstand. Da machte sie kurzen Prozess und opferte einen Arbeitstag, um Boline in einer Familie unterzubringen, wo die Frau in ihrer Jugend selber allerlei ausprobiert hatte und deshalb ein weites Herz besaß — obwohl sie weiß Gott mit sich selbst genug zu tun hatte! Die Verhältnisse hier glichen auf ein Haar denen in Bolines eigenem Pflegeheim, und sie erlebte ihre ganze Kindheit aufs neue — ohne doch deswegen gefühlvoll zu werden.
Hier war Boline ein paar Monate und tat alle Reinemachearbeit, die die gute Frau ergattern konnte. Dafür hatte sie die Kost und die Erlaubnis, jede Nacht die beiden Pflegekinder bei sich zu haben.
Und in einer beschwerlichen Nacht leistete sie selber ihre erste Abschlagszahlung ans Leben, in Gestalt eines blutarmen kleinen Wurms von elenden vier Pfund Gewicht.
Als sie den Vater angeben sollte, stellte es sich heraus, dass sie es nicht konnte. Die gute Frau, die doch selbst allerhand mitgemacht hatte, war nahe daran, aus der Haut zu fahren — ein solch
großes Schaf war ihr wahrhaftig noch nie begegnet. Aber natürlich das musste die Göre ja selber am besten wissen!
Acht Kronen monatlich von zwölf im Monat gibt, wie man es auch drehen und wenden mag, nur vier als Rest. Aber Boline war es schlank und leicht zumute; sie überließ das Kind der liebevollen Pflege und nahm selber wieder eine Stellung an. Wie eine Festbeleuchtung kehrte sie ins Leben zurück, strahlend und erleichtert und reicher bei all ihrer Armut, herzlich froh über ihr blutarmes kleines Kind und die vier Kronen. Und die drehte und wendete sie, dass sie nicht allein ihre eigenen Bedürfnisse deckten, sondern auch zu Staat für das Kind reichten — und für kleine Geschenke an die Pflegeeltern, damit sie es gut behandelten.
Und das Leben wiederholte sich aus untrüglich sicherem Gedächtnis.
Die täglichen Widerwärtigkeiten stellten sich ebenso ein wie die vereinzelten kleinen Lichtblicke, und gut ein Jahr nach der ersten Begebenheit erschien Boline von neuem bei der Familie und erlegte — pünktlich wie ein Kleinhändler — ihre zweite Rate, von gleichem Gewicht und Geschlecht wie die vorige. Sie stellte sich ein mit strahlendem Lächeln, das vor Stolz auf die Leistung leuchtete, denn diesmal hatte sie sich den Vater gemerkt — ein junger Ladengehilfe. Das klang gar nicht übel, selbst die gute Frau musste zugeben, dass das etwas sei, womit man sich überall sehen lassen könnte. Als es aber ernst wurde, war er nirgends aufzufinden.
Eine Art Fortschritt war es immerhin, und da die Frau nun einmal Boline unter ihre Fittiche genommen hatte, erbot sie sich, mit den vier Kronen bar vorliebzunehmen — der Rest sollte als Naturalsteuer entrichtet werden, die den künftigen Herrschaften aufzuerlegen wäre. Überdies, in Anbetracht ihrer reicheren Erfahrung, müsste Boline nunmehr vierzehn Kronen im Monat fordern können, und die dann noch übrig bleibenden zwei Kronen sollte sie für sich behalten.
Boline kam auch mit den zwei Kronen zu Rande, das heißt,
sie versorgte die Kinder mit Kleidung dafür; für sie selbst blieb nichts. Ihre Kleider waren dünn, und sie fror mehr als je — besonders, wenn sie geweint hatte. Aber deswegen erbitterte sie sich noch lange nicht, gegen nichts und niemand; es wäre ihr niemals eingefallen, vom Leben mehr zu fordern, als es nun einmal zu bieten hatte.
Hingegen war sie grenzenlos stolz auf ihre zwei bläulichen Kinderchen, die die unglaublichsten Fortschritte machten — namentlich in der Beziehung, dass sie alles zu vertragen vermochten. Und stolz war sie auf die Pflege, die sie ihnen verschafft hatte; kostspieliger sind Kinder wohl niemals aufgezogen worden: sie kosteten sie alles, was sie heranschaffen konnte! Ihr großer Kummer war, dass weder für Kinderstaat noch für kleine Geschenke an die Pflegeeltern etwas übrig blieb. So gut das Pflegeheim auch war, so war es doch nur natürlich, dass die Kinder darunter zu leiden hatten: es wurde weniger von ihnen hergemacht, wenn sie zu Besuch kam.
In Erfüllung des Kontrakts tat sie nun kleine Griffe in Kaffee- und Zuckerdose; ein Ei ging mit weg, ein halbes Weißbrot, ein Ende Fleisch. Das meiste sparte sie ein, indem sie selber hungerte, und deshalb vermochte die gnädige Frau, die mit Genugtuung festgestellt hatte, wie wenig sie aß, nicht zu begreifen, dass trotzdem der Verbrauch nicht kleiner war. Und eines Tages kam sie dahinter, dass das Mädchen stahl.
Es schauderte Boline, als das Wort gesagt wurde. Mehr als tausend Jahre lang hat das Bürgertum die Aussprache dieses Wörtchens immer wieder geübt; die unschuldigste kleine gnädige Frau kann es heute so aussprechen, dass es einem durch Mark und Bein geht.
Boline besaß nicht die unerschrockene Fähigkeit ihrer Schicht, auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen; auf dem Grunde ihrer Seele ruhte nicht das aufrührerische Gefühl, Unrecht zu erleiden, wie andere es aufnahmen und sich daran zu blindem Mut entfachten. Sic hatte nichts, worauf ich ein bisschen Selbstbehauptung stützen konnte - ihr Blut war zu verwässert.
Sie zuckte bloß zusammen und wurde feucht vor Angst - wie immer, wenn ihr jemand zu nahe kam; sie hatte keine Kraft in den Muskeln. Nun, ihre Verzagtheit war so entwaffnend, dass sie vor den schlimmsten Folgen bewahrt blieb; man begnügte sich damit, ihr zu kündigen. Und daran war sie ja gewöhnt.
In den folgenden Stellungen erging es ihr nicht schlimmer, und dann kam sie in einem großen Herrschaftshaus vier Treppen hoch zu einem Buchhalter, der gleichzeitig der Verwalter des Grundstücks war.
Sie bekam sechzehn Kronen im Monat, dafür aber war es mit der Steuererhebung vorbei. Sie war in eine jener Kopenhagener Haushaltungen geraten, die wohl Badezimmer und Wasserklosett, aber keine Speisekammer haben. Kinder waren nicht da und im Herd brannte niemals Feuer. Das Frühstück - eine Portion - wurde aus einem Restaurant gebracht; was das Ehepaar übrigließ, wurde dem Mädchen hinausgestellt. Die Mittagsmahlzeit nahmen sie - unter Freunden - in dem oder jenem Vergnügungslokal ein; ehe die gnädige Frau fortging, stellte sie Boline einen geräucherten Hering und zwei Scheiben Butterbrot hin. Jeden Tag war es geräucherter Hering und Butterbrot, und jeden Tag stand es an derselben Stelle - hinten auf dem Küchentisch, in der Ecke beim Abflussrohr - auf einer blaugeblümten Untertasse. Dieses ewig gleiche Gericht ließ jährlich zwölf Dienstmädchen aus der Haut fahren.
Boline fuhr nicht aus der Haut. Sie hätte den Hering und die beiden Scheiben Brot recht gern selber essen mögen, da es aber nichts anderes zu brandschatzen gab. packte sie es in ein Stück Papier und trug es den Pflegeeltern hin, ohne über die Sache sehr viel nachzudenken. Und ah die entrüstet fragten, ob sie sie für Armenhäusler hielte, und sie baten, mitsamt ihren Essensresten zu verschwinden, zog sie verwundert ab. An der Haustür unten setzte sie sich hin und aß Brot und Hering selber, und danach erst weinte sie ein bisschen. Das war ihre Art, eine Reihe von Begebenheiten zusammenzufassen. Hier war also nichts zu machen, und unverdrossen, wie sie im
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Grunde war, steuerte sie auf einen anderen Punkt los. An allen Küchentüren das ganze Haus hinunter war sie die Demütige; und die Mädchen, die wussten, dass sie in einem Haushalt ohne Speisekammer diente, steckten ihr allerlei zu. Alles ging zu den Pflegeeltern und stimmte sie sanfter, und Boline selber stand auch wieder im Licht; sie brauchte nicht viel zu essen.
Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt das Sprichwort, aber das gilt nicht von jenen, die die Kälte gebrannt hat. Boline wäre mit Vergnügen nackten Fußes mitten in die glühende Sonne hineingetanzt, so verfroren war sie. Sie verbrannte sich durchaus nicht an den vagabundierenden Strahlen, die sie dann und wann trafen — sie suchte nur zum dritten Mal die gute Familie auf.
Es bedeutete weiter nichts als noch vier Kronen zu den zwölf bisherigen — und sechzehn verdiente sie doch! Überdies stand ihr ihre alte Stellung offen, weil kein anderer dort auszuhalten vermochte; das gab immerhin Rückhalt. Und wenn sie nachts den Koks aus der Asche klaubte, die die Herrschaftsmädchen wegwarfen, und ihn dem Holzhändler verkaufte, brachte das auch einige Kronen im Monat. Die Naturalsteuer war gleichfalls heraufgesetzt worden, aber Boline suchte nun die Küchen aller Aufgänge nach Essensresten heim; dafür half sie hier und da, wenn sie mit ihrer eigenen Arbeit fertig war. Die Pflegeeltern verloren nichts von ihrem Gewicht.
Mit der Kleiderbeschaffung für die drei kleinen Weltwunder haperte es ein bisschen. Kaufen konnte sie nichts; deshalb begann sie bei sich selber und nähte Stück für Stück ihrer ärmlichen Garderobe um, bis sie alles, was sie besaß, auf dem Leibe trug und trotzdem allen anderen außer sich selbst als unbekleidet vorkam.
Durch das dünne Zeug erreichten sie die Sonnenstrahlen um so leichter. Sorglos und unbekümmert, vertrauensselig und unerfahren wie am ersten Tag flatterte sie hier und dort umher und nahm die Freundlichkeit der Männer in sich auf. Sie waren alle gut, alle zärtlich; sie vermochte keinen Unterschied festzustellen
- überhaupt keinen. Aber nachts, wenn sie sich den Schlaf abknappte, aus zusammengesuchten Lumpen etwas nähte, was ein Kinderkleid vorstellen sollte, dachte sie zuweilen an die gnädigen Frauen und wie streng sie waren. Oder sie weinte nur.
Die Fee, die an Bolines Wiege gestanden, hatte ihr die Leere geschenkt, dass sie ihren Lobgesang aufs Leben daraus schöpfe; und insofern war Boline wie Gott, als sie sich ihre Welt aus nichts erschuf und sie dennoch für sehr gut befand. Nur deshalb berührte sie nie den Grund! Ihr Leben war ein tagtägliches Zaubermärchen, worin ein Lappen Kattun von Handflächengröße, den andere in den Müllkasten warfen, sich zu dem prächtigsten Kinderkleidchen auswuchs.
Eines Tages wurde Boline festgenommen. Auf der großen Abendgesellschaft der Herrschaft ein Stock tiefer war ein silberner Löffel fortgekommen, und Boline hatte doch den beiden Mädchen den Aufwasch besorgt — dafür, dass sie von den Resten des Festmahls etwas abbekäme. Wer anders sollte es denn gewesen sein? Alle wussten doch, wie schlecht es ihr ging.
Der silberne Löffel kam von selber wieder zum Vorschein, die Festnahme erwies sich als ein Irrtum — aber als einer jener glücklichen, denen man getrost einen Haftbefehl nachfolgen lassen kann. Bei der Durchsuchung von Bolines Habseligkeiten wurden ein Haufen gestohlene Sachen entdeckt. Vier Frauen aus dem Hause wurden aufs Gericht geladen, damit sie ihr Eigentum identifizierten.
Auf einem Tisch lag das ganze Diebesgut. Da waren winzige Lappen Kattun, Keile und Streifen Baumwollstoff, Bandreste und löchriges altes Leinen. Der Untersuchungsrichter warf zärtliche Blicke auf den Haufen; die Sachen hatten durchaus keinen Wert, aber gerade in ihrer Wertlosigkeit drückte sich die höhere Gerechtigkeit aus, die nicht kleinlich nach dem Wem oder Wie viel fragt, sondern eifersüchtig über die Prinzipien wacht. Hier endlich galt kein Ansehen der Person; Boline hätte keine sorgfältigere Behandlung ihrer Angelegenheiten erwarten können, wenn sie der König aller Spitzbuben selber gewesen wäre.
Der Haufen da war durchaus nicht alles! Ihre liederliche Vergangenheit lag ebenso offen wie ihre Diebslaufbahn! Jedes Ei, jede Kaffeebohne, jedes Stück Zucker war von der Herrschaftsspeisekammer bis zu den Dunggruben auf Amager in allen Stadien der Verwandlung eingehend verfolgt worden. Alles dies waren längst überholte Zeiten, da Bolines jetzige Herrschaft keine Speisekammer unterhielt — es war sozusagen Geschichte geworden. Es ging bloß darum: festzustellen, dass sie ihren Charakter in keiner Weise geändert hatte, sondern nur durch den Zwang rein äußerer Verhältnisse zu einem anderen Tätigkeitszweig übergewechselt war.
„Erkennen Sie dieses hier?" fragte der Untersuchungsrichter in leicht konvesierendem Ton und reichte Bolines Herrschaft irgend etwas hin.
Es war eine löcherige Damastserviette, die in Bolines Welt als Windel wieder zu Ansehen und Ehren gelangt war. Die Frau kannte sie sehr gut, sie war just in dem Augenblick verschwunden gewesen, als sie ausrangiert werden sollte. Sie wollte gerade damit heraus, aber da schlug ihr aus dem reingewaschenen Lumpen ein eigentümlich säuerlicher Kleinkindergeruch entgegen und setzte sie in Verwirrung: denn hier stand ein Mädchen, an dem sie Monate hindurch mehrmals des Tages vorübergegangen war und dem sie Anweisungen gegeben hatte so kalt und gleichgültig wie einer Maschine. Und da war es mit einem mal ein armselig gedrückter Mensch, der sich draußen in der Finsternis mit einer Welt des Elends abzuplagen hatte. Ein Wesen wie sie selbst, mit verbotenen kleinen Freuden — und mit Muttersorgen, besonders Muttersorgen!
„Das Monogramm ist meines", sagte sie leise und gab die Serviette zurück, „aber ich hatte sie gerade als ausrangiert weggeworfen."
Der Untersuchungsrichter lächelte anerkennend zu so viel — allerdings schlecht angebrachter — Humanität.
„Und dies hier?" sagte er und zog aus dem Bündel ein Kinderkleidchen hervor, ursprünglich aus feinem Stoff, jetzt aber dünn vom vielen Waschen und mit vielen verschiedenen Lappen geflickt. „Kennen gnädige Frau das?"
Das gab der Frau einen Stoß, der Zorn wallte in ihr auf. Dies war Klaras Taufkleid; viele Jahre hatte sie es aufbewahrt, zur Erinnerung an ihr einziges Kind, das ihr der Tod genommen hatte. Sie war nicht gesonnen, weiterhin gut zu sein und Boline zu schonen, denn hier war ihr Mutterherz mit Füßen getreten.
„Ja", sagte sie und richtete sich entrüstet auf, hielt aber mit einem Blick auf Boline inne.
Boline stand mit ausgestreckten zitternden Händen da, ihr gejagter Blick sah nichts anderes mehr. Er hing beschützend an diesem Kinderkleidchen, das man ihr nehmen wollte, folgte jeder Bewegung, die es in den Händen der anderen nahm.
„Das ist Ediths Kleidchen", wimmerte sie, „es ist doch Ediths Sonntagskleid."
Es war ein entsetzlicher Anblick für den, der es begriff, und schmerzerfüllt opferte die Frau ihr eigenes totes Kind Bolines lebender kleinen Edith. „Ja", sagte sie mit belegter Stimme, „ich habe es ihr ja selber geschenkt. Und das meiste andere übrigens auch."
Der Untersuchungsrichter sah ärgerlich drein. Boline aber brach in Tränen aus. Ganz steif stand sie da und ließ ihren Tränen freien Lauf, und sie flossen ungehindert über ihre schlaffen Wangen und die eingefallene Brust und fielen in ihren allzu fruchtbaren Schoß.
Der Richter folgte ihrem Weg, und sein Blick blieb haften.
Einen Augenblick fühlte er sich schwach vor diesem unfasslichen Heroismus; er hatte die schwindelerregende Empfindung, ins Grenzenlose hinauszustarren. Dann aber siegte die Gerechtigkeit, er wandte sich an den Protokollführer und sagte:
„Fügen Sie der Bemerkung über die drei Kinder hinzu, dass sich die Angeklagte abermals in gesegneten Umständen befindet!"
Boline wurde trotz der Bemühungen ihrer gnädigen Frau nicht freigesprochen — und das war ein Glück Gottes. Es ging ihr wie immer den Aschenbrödeln im Märchen; sie musste erst ganz tief auf den Grund hinab, ehe ihr Königssohn kam und sie aus aller Drangsal erlöste.
Sie war eben aus der Haft entlassen worden und wollte in eine Nebenstraße Nörrebros, um nach den Kindern zu sehen. Die Strafe hatte sie nicht mehr zerrüttet, als sie es schon gewesen war, sondern bloß ihre Welt in Richtung auf das Unbegreifliche hin erweitert. Wegen ihres einzigen bewussten Wertes — wegen ihrer Liebe zu den Kindern — hatte man sie gestraft!
Sie liebte sie aber gleich innig und trug auch keinem anderen etwas nach. Sie beeilte sich nur, getrieben von einem dumpfen Schauder, was wohl in den Monaten ihrer Haft aus den Kleinen geworden wäre.
Drinnen im Gässchen stand wie gewöhnlich Idioten-Karl, die Stirn an die Mauer gedrückt und umgeben von einem Schwarm johlender Kinder. Die Pflegeeltern aber waren fort; wohin sie gezogen waren, war keinem bekannt. Immerhin wussten die Nachbarn zu erzählen, dass eines von Bolines Kindern vor dem Umzug gestorben war — das übrige wusste der liebe Gott.
„Geh zur Polizei", sagten sie.
Aber Boline wollte nicht auf die Polizei und sich noch einmal bestrafen lassen, weil sie ihre Kinder liebte. Und weitergehende Nachforschungen anzustellen fiel ihr nicht ein. Sie wusste zu genau, was aus Pflegekindern wird, wenn die Unterstützung aufhört.
Schweren und toten Herzens, elender als es sich sagen lässt, schleppte sie sich durch den Fadledpark wieder zum Blegdam hinunter. Sie hatte keinen Ort, wo sie hingehörte, und wankte aufs Geratewohl weiter. Verwöhnt würde sie niemand genannt haben, aber jetzt begriff sie nicht einmal mehr, wozu sie das Leben weiterleben sollte.
Und da geschah es, dass das Schicksalsrad sich drehte und sie ihrem Königssohn begegnete: Peter Frandsen, auch Öf-Öf genannt.
Er ging herum und schüttelte sich und erwog die Möglichkeiten eines Logis unter freiem Himmel. Es lag Gewitter in der Luft, und Öf-Öf war melancholisch; er hatte einen seiner Anfälle, wo sich ihm die Obdachlosigkeit erdrückend aufs Herz legte und ihm dauernd etwas von einem Schoß der Familie vorschwebte.
„Es ist verdammt schwül heute Abend", sagte er im Vorbeigehen.
Und Boline sah ihn an und fand, dass er sehr anständig wäre, und sagte — ja, es sei sehr schwül. Und damit war eigentlich alles gesagt.
So ging es zu, dass Boline einen Mannsmenschen zu versorgen bekam und in einer Einzimmerwohnung auf Nörrebro Hausfrau wurde. Sie war doch nicht ganz im Schlaf durchs Leben gegangen und wollte sich gern nützlich machen; und so warf sie sich auf das einzige, was sie verstand — Pflegekinder!
Aber hier ist die Geschichte aus, und eine neue beginnt — die Geschichte vom Glück, das wie ein Vogel Phönix aus der alten Asche steigt.
Boline hatte ziemlich gut erkannt, dass die Welt aus nichts weiter als aus verkommenen Pflegekindern und feisten Pflegeeltern besteht, und da brauchte es wohl keine Überlegung; Öf-Öfs Faulheit half ihr über die Schwelle. Heute ist sie eine solide Frau, die selber alles mögliche durchgemacht hat — sie kennt alle Mittel, die Aufsichtsbehörde zu täuschen. Die armseligen kleinen Kinder der Liebe werden in ihrer Obhut ebenso gut wie in jeder anderen zu Engeln verklärt, die jeden Augenblick bereit sind, sich in den Weltenraum zu schwingen, sobald die einmalige Abfindung erlegt ist. Ihre beginnende Fülle verrät, dass sie das eigentliche Geheimnis begriffen hat: das Leben zu leben und die Waagschale nach bestem Vermögen zu beschweren.
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