DIE FEE DER FREIHEIT I
Sie hieß Vera nach der Fürstin in einem deutschen Kolportageroman. Das war ein Name, der ebenso gut war wie irgendein anderes Wiegengeschenk; die Eltern hatten allen Überfluss ihrer Herzen dareingelegt. Er würde ihr nicht im Wege stehen, wenn sie je Aussicht bekäme, es im Leben zu etwas zu bringen.
Irgendwelche Verpflichtung, einen Fürsten zu heiraten, war keineswegs mit dem Namen verbunden. Sie war nur so reizend gewesen, diese Fürstin, und dann hatte sie auf der einen Seite am Halse einen Schönheitsfleck gehabt, genau wie Vera hier. Das war alles, sofern man nicht den heimlichen Traum mitrechnen will, den niemand kennt und der doch das Ganze aufrechterhält.
Etwas anderes konnte man sich vernünftigerweise nicht vorstellen, denn Vera war dazu geboren, die Mühsal anderer auf sich zu nehmen; das war eine Bestimmung, die bis ganz auf die weisen Überlegungen Gottes vor Erschaffung der Welt zurückzugehen schien. Ihre Kindheit war eine langwierige, beschwerliche Erziehung zu dem Beruf, denen auf der anderen Seite dienstbar zu sein; durch tagtägliche, unermüdliche Übung konnte man sich vielleicht der Auszeichnung würdig erweisen, den richtigen Müttern einmal Kindergeschrei und schlaflose Nächte abzunehmen. Vielleicht — denn es geht nicht so mir nichts, dir nichts, den Schmutz zu verlassen und geradenwegs in die vornehme Welt einzutreten! Das war eine Frage, die einer armen Familie wohl den Schlaf zu rauben vermochte. Schon als Vera noch in der Wiege lag, erfuhr sie Lob und Tadel gemäß der Meinung ferner Herrschaften; zu allem, was sie als Kind tat, klang es beständig: „Auf die Weise, Kind, wirst du nie eine Stellung behalten!" — oder: „Ja, so ist's recht, es wird noch mal ein tüchtiges Dienstmädchen aus dir werden!" Mit der der Armut zugehörigen großen, einfachen Erkenntnis der eigentlichen Wahrheit wurde sie geboren, und willig opferte sie von ihrem Selbst. Sogar über ihr widriges Geschick zu weinen versagte sie sich, als ihr bedeutet wurde, dass die gnädigen Frauen Flennen in der Küche nicht liebten.
Durch diese ewigen Hinweise auf die „Herrschaft" nahm ihre künftige Bestimmung beinahe die Gestalt eines schweren Schicksals an; das, worauf sie sich vorbereitete, wurde eine Aufgabe, so groß und verantwortungsvoll wie die Hütung eines Heiligtums. Es schauerte sie ein wenig bei der Vorstellung, was von ihr verlangt wurde, aber willig setzte sie alle ihre kindlichen Kräfte dafür ein. Veras Mutter hatte selber gedient, deren Mutter gleichfalls — und so wahrscheinlich in aufsteigender Linie weiter, seitdem die Welt bestand. Und noch ehe sie selber eine „Herrschaft" gesehen hatte, war sie mit allen Launen und Eigenschaften dieses göttlichen Wesens vollauf vertraut. Sie wusste auch, dass alles dies gar nicht so entsetzlich zu sein brauchte, wenn man nur schwieg und sein Bestes tat.
So ausgerüstet, vollendete sie ihr vierzehntes Lebensjahr und trat in die Welt: geläutert und fest in der Erkenntnis, dass gegenüber den Pflichten, die innerhalb ihres Horizonts auftraten, ihre eigenen Ansprüche sämtlich gleich Null seien. Um jene Zeit sind viele ihr begegnet, und sofern sie nicht mehr von ihr wissen, werden sie zugeben, dass sie trotz allem unvergleichlich war — ein herzensgutes, pflichttreues kleines Wesen, dessen Grundzug die stete Bereitschaft war, andere zu schonen und sich selbst zu belasten; ein unentwickeltes Kind, das mit der entsagenden Weisheit des Greises seine Sorgen so gründlich für sich zu behalten wusste, dass man fast den Eindruck erhielt, sie sei gefühllos. Sie sah doch stets froh und zufrieden aus — ja, und vor allem war sie zu den Kindern so gut.
Wo sie zur Welt gekommen ist, ist ohne Bedeutung; sie hatte, wie alle Armen, den Drang zum Licht in sich, und wenn sie nicht in der Hauptstadt geboren war, so fand sie jedenfalls bald den Weg dahin. Und hier entdeckte sie, dass das Leben gar nicht so
hart zugriff, wie sie darauf gefasst gewesen war. Wenn es einer von den Nächsten nicht sah, kniff die Freude das armselige Dienstmädchen in die jungen Wangen und flüsterte ihr törichte Dinge ins Ohr; die jungen Götter des Lichts ließen die für sie Bestimmten sitzen, um sich den Träumen der Einsamen zuzugesellen und das Dunkel um sie her der Familie zum Trotz mit heiligen Eheschwüren zu erfüllen.
So anstößig und so sehr im Dunkel verborgen ging es zu, dass Vera, die vom Morgen aller Zeiten an dazu ausersehen war, der andern Sklavin zu sein, schließlich das Kind der Freiheit unterm Herzen trug. Kein Wunder, dass es die Erzeuger vorzogen, sie im Stich zu lassen. Mit der Ausrede, dass sie eine freche Dirne sei, die sie verführt habe, machten sie sich unsichtbar und ließen sie selber zusehen, wie sie weiterkäme.
Kindlich wie sie war, begriff sie vorläufig nichts davon, sondern freute sich nur ihres Lebens. Sie stellte nach keiner Seite hin Ansprüche, sondern nahm dankbar auf, was ihr zuteil wurde, benommen wie ein Kind von dem Lohn, der sie ein goldner Regen in leere Hände dünkte.
Ohne eine besondere Absicht damit zu verfolgen, schaffte sie sich Stück für Stück an, was dazu gehört, um sich in den festlich gekleideten Strom zu mischen, der Paar neben Paar zum Zirkus und Scalavarieté hinaus wandert. Und eines Tages hatte sie beisammen, was dazu nötig war — nur nicht die Zeit.
Ihre ganze Kindheit hindurch hatte es unaufhörlich geklungen: Wenn du ein gutes Mädchen bist und ohne zu räsonieren alles tust, was man dir sagt, dann bekommst du vielleicht Erlaubnis, nachmittags das Haus zu hüten und deine Wäsche nachzusehen, und die Gnädige verrichtet dann selber deine Arbeit, wenn du am Sonntagvormittag in die Kirche gehst. Wir haben uns immer so aufgeführt, dass wir wie ein Glied der Familie behandelt wurden und die abgelegten Kleider der Herrschaft tragen durften.
Alles dies wusste Vera, auch ohne dass es ausdrücklich gesagt wurde; die Kreuz und die Quer war es als Hunderte von Traditionen ihrem armseligen Daheim einverwebt. Noch als sie zu Hause war, kam manchmal eine alte Dame zu Großmutter auf Besuch und redete dann per Sie mit ihr; und Großmutter knickste, so hinfällig sie auch war, und sagte Gnädige Frau. Das übergoss die Armut des Haushalts mit einem besonderen Schimmer, einem Widerschein des reichen Sonnenglanzes der Gnade. Und sie für ihr Teil hatte getreulich dazu beigetragen, es war ja nicht anders möglich, so wie ihr Los nun einmal von Grund auf geformt worden war.
Und dann geschah eines Tages das Unfassliche, dass sie alle guten Begriffe über den Haufen warf und Erbteil wie Kindheitslehre von sich abstreifte. Ein Sonnenstäubchen hatte sie befruchtend getroffen, und sie trug ihre armselige Hoffnung auf eigene Rechnung unter dem Herzen, ohne Stütze von irgendwelcher Seite, und trotzdem fröhlich. Es hatte etwas Halsstarriges an sich, das sich jeder Erklärung entzog. Da ging ein armseliges Kind, das sich stets gut aufgeführt hatte und das volle Wohlwollen der Herrschaft genoss, plötzlich hin und verdarb sich alles selber — einer fixen Idee zuliebe. Sie wollte sich selber ihr Gut und Böse zumessen; und verlieren musste sie ja dabei, wenn man die Angelegenheit nach Gesindeordnung und Abmachungen erwog.
Es ließ sich nur als ein wunderlicher Anfall von Größenwahn erklären — vielleicht durch allzu große Armut ihres Zuhause verursacht —, dass sie die selbstgekaufte dünne Jacke der von der gnädigen Frau abgelegten vorzog und sich in ihrem bescheidenen Kämmerchen lieber nach ihrem eigenen Kopf einrichtete, als dass sie sich der Familie als ihr Aschenbrödel anschloss. Aber es war ja für sie selbst am schlimmsten. Auf andere wirkte es schließlich nur drollig, wie sie die armseligen Reste ihres eigenen Ichs so pietätvoll bewahrte, als habe sie plötzlich entdeckt, dass sie von altem Adel sei.
Mit der halbkameradschaftlichen guten Umgangsweise, die das wahre Verhältnis so schön verdeckte, war es vorbei; Vera wünschte es selber und war die erste, die Wirklichkeit deutlich zu machen. Etwas Unfassbares hatte sich ihrer bemächtigt; es schien, als finde sie Befriedigung darin, dass man ihre Stellung als Dienstbote besonders betonte. Bisher hatte sie alle Güte ihrer Herrschaft hingenommen und an vielem teilgehabt, was ihr nicht zukam. Sie konnte sich für jede Zeit des Tages eine freie Stunde erbitten und durfte der Bewilligung sicher sein, wenn es nur entfernt möglich war, sie zu entbehren. Undankbarerweise verzichtete sie nun darauf — und erreichte dafür einen freien Abend in der Woche, der ganz und gar ihr gehörte, so dass kein anderer auf der Welt als sie darüber zu bestimmen vermochte. Und dies war es vor allem, worauf es ihr ankam; sie gönnte ihrer Herrschaft diesen Abend durchaus, aber sie sollten sie darum bitten als um eine Gefälligkeit. Vera, der es vorausbestimmt gewesen war, anderen dienstbar zu sein, war zum ersten Mal in der Lage, Gefälligkeiten zu erweisen; sie hatte sich das Recht erkämpft, aus eigener Machtvollkommenheit nein zu sagen. Sie war zu hilfsbereit, als dass sie es für mehr als ein Recht angesehen hätte, aber es war herrlich zu wissen, dass die Gnädige selbst dann, wenn sie an diesem Abend ein Kind bekäme, nicht ohne weiteres sagen durfte: „Vera, bleib zu Hause!", sondern es sich als eine Gefälligkeit erbitten musste. Das unantastbare eigene Recht war in Veras Dasein getreten; sie opferte ihm freudig alles und meinte, bei dem Tausch zu gewinnen.
An ihrem freien Abend schwirrte sie dahin, wo das Licht am hellsten war, am liebsten unter die Eingänge zu den großen Vergnügungslokalen. Dort stellte sie sich geduldig auf, starrte ins Licht und wartete, bis sie so glücklich wäre, ihren weichen Arm unter den des jungen Mannes zu stecken, ohne den einem Dienstmädchen die Freude ein verschlossenes Buch ist. Im Winter ist der Eingang zum Zirkus ein günstiger Ort für jemand, der ohne lange Vorbereitung ausgeht; im Sommer ist der Alleenberg am besten. Da stellt man sich in der Reihe auf und lauscht der Musik, während Soldaten und junge Burschen unter den Laternen auf und ab gehen und ihre Wahl treffen.
Es ist ein unsicheres Dasein; mehrere Male hatte Vera das Glück erwischt und wieder fahren lassen müssen. Mit nur einem einzigen freien Abend in der Woche war es beinahe unmöglich, einen Jüngling festzuhalten, der jeden Abend zu seiner Verfügung hatte; er wurde häufig müde und schenkte Zirkusbillett wie ritterlichen Schutz einer andern, die besser dran war. Gerade an solchen Tagen zog sich oft auch das Mittagessen länger hinaus, und kam sie endlich fort, war keine Zeit mehr, nach ihm zu suchen. Dann musste sie sich einem anderen Junggesellen mit Zirkusbillet anschließen, um doch ein bisschen ins Leben hinauszukommen.
Wenn sie kurz vor Tisch hinunterlief, um die letzten Zutaten zur Hauptmahlzeit einzukaufen, flatterte es vor ihren neidischen Augen von Bürodamen und Verkäuferinnen, die auf dem Weg nach Hause waren. Sie sind frei, von sechs Uhr an gehört der Abend ihnen, ihrer ist das Leben, alle vornehmen Herren sehen ihnen lange nach — für eine Weile beherrschen sie den Strög (Anm.: Hauptgeschäfts- und Hauptpromenadenstraße in Kopenhagen.) ganz und gar. Eine soll sogar dabei sein, die mit einem jungen Grafen „geht" — und sie ist nicht die Spur hübscher! Er holt sie vom Geschäft ab und begleitet sie durch die Stadt — bei helllichtem Tage!
Vera sah in den Spiegel und stellte Vergleiche an — sie wollte Verkäuferin werden. Ja, sie war der Stellung gewachsen: wenn sie nicht mehr überm Gas zu stehen brauchte, wenn das Haar nach der einen Seite gekämmt wurde und sie vom Herdwichsen keine schwarzen Hände mehr hatte. Und mit ihrem neuen Jackett! — damit wagte sie, den Strög von oben bis unten hinunterzugehen, ohne die Augen niederzuschlagen. Sie kündigte auf der Stelle, und die restliche Zeit hantierte sie zum Ärger der gnädigen Frau mit Handschuhen in der Küche. Dann bat sie um Ausgang, um sich eine neue Stellung zu suchen, machte sich fein und suchte ein altes Stickmustertuch aus ihrer Schulzeit hervor. Es waren Hexenstich, Kreuzstich, Plattstich, gotische Buchstaben und vieles andere darauf — ein ganzes schmuddliges kleines Abc der Handarbeit. Das sollte ihr helfen, in Schwung zu kommen. Vera wollte in die Handstickerei, da sie nun einmal das Mustertuch bei sich trug; sie hatte es nie recht gelernt, aber hatte sie denn nicht selber die Zacken ihres Konfirmationshemds genäht - sie mit eigener Hand über ein Zweiörestück vorgezeichnet und jeden Stich selber gemacht?
Sie ging in eines der großen Geschäfte, zum Chef. Er betrachtete das Tuch, besah sich auch ein Taschentuch, das sie gerade mit Monogramm und Hohlsaum versehen hatte, und kämpfte mit einem Lächeln. Aber er war ein gebildeter Mensch — ein bisschen zu gebildet für Veras Welt. „Aber das ist ja ausgezeichnet!" rief er, „können Sie auch zeichnen?"
Vera hauchte in heiserer Freude ihr Ja — sie dachte an das Zweiörestück und an die Zacken. Des Scheines halber ließ er sie sich an einigen Efeublättern versuchen; sie kritzelte etwas hin, das einem zerbrochenen Staubkamm glich, und lächelte ihn mit bezauberndem Selbstvertrauen an.
„Ja, das sieht ganz gut aus", sagte der Chef zögernd, „aber weshalb wollen Sie eigentlich Ihren Beruf wechseln?" Er kannte sie sehr gut, diese gebrechlichen Nachtschmetterlinge, die irgendwoher aus dem Dunkel auftauchten und hartnäckig blind gegen die Lampenkuppel stießen, bis sie tot herabfielen. Alles Gutzureden war hoffnungslos in solchem Fall, und seine Worte klangen auch eher wie ein Seufzer darüber, wie verzweifelt schwierig es allmählich geworden war, sich ein Dienstmädchen zu halten. „Man verdient doch viel mehr in Ihrer jetzigen Stellung; aber — hm — Sie haben vielleicht eine Neigung zu Handarbeiten?"
„Ja", antwortete Vera harmlos, „man ist doch so gebunden, wenn man dient!" — Nun, im Augenblick war gerade kein Bedarf für sie, aber der Chef werde an sie denken. Er notierte ihre Adresse.
Von diesem Tage an ging Vera mit Fieber und Herzklopfen umher. Sie zählte die Tage, obwohl sie nicht wusste, wie viele noch im Ungewissen lagen. Jedes Mal, wenn der Briefträger klingelte, glaubte sie, es gälte ihr, und wenn der Zweifel sich meldete, wiederholte sie sich bloß, was der Chef so freundlich versprochen hatte. Sie stand mit einem Bein schon außerhalb ihrer Arbeit, jeden Augenblick bereit aufzubrechen; sie wurde der Arbeit immer überdrüssiger und unzuverlässig dabei. Man kündigte ihr, sie schickte dem Chef ihre neue Adresse, tat die Arbeit wie im Schlaf — und wartete. Wurde zum nächsten Monat wieder gekündigt, sandte wieder die Adresse ein und wartete ab — in einem Zustand merkwürdiger Starrheit.
Und eines Tages hielt sie es nicht mehr aus — es war Frühling draußen. Sie lief aus dem Dienst, mietete ein kleines Zimmer und stürzte sich in das Gewimmel der gefeierten kleinen Jackenmädchen.
Einen Monat lang schaffte sie es, trat das Pflaster zur Zeit und Unzeit, sprach vergebens in Läden vor und war jeden Abend im Zirkus. Als der Monat um war, hatte sie sich den größten Teil ihrer Ehre bewahrt — zu viel jedenfalls, als dass sie davon hätte leben können. Ihr Erspartes aber war aufgebraucht und ein Teil der Garderobe ins Leihhaus gewandert.
Da schließlich gab sie es auf, sich mit den Verkäuferinnen zu messen, und ward sich niedergeschlagen bewusst, dass auch ein geringeres Glück möglich sei. Eine Zeitlang dachte sie daran, Stellung als Wirtschafterin eines älteren Herrn anzunehmen, und da sie gut aussah, bot sich ihr bald etwas an. Im letzten Augenblick aber kriegte sie Angst, alle mit der Stellung verbundenen Konsequenzen auf sich zu nehmen.
Vera hätte in die Vergangenheit und zu den Herrschaften zurückkehren können, aber auf ihre Freiheit wollte sie nicht verzichten. Diese Freiheit bedeutete ihr das teuer erkaufte Kind ihres armseligen Daseins, und Vera hütete sie wie eine verlassene Mutter, die für ihr Kind zu jedem Opfer bereit ist. Und eines Tages schloss sich das Fabriktor von selber hinter ihr.
In der inneren Stadt zeigte sie sich niemals mehr; das Jackett war zu abgeschlissen und zerknüllt, es mochte sehr wohl den Anschein erwecken, als ob es nachts als Bettjacke getragen würde. Das Haar war dünn und wollte nicht recht sitzen, das Gesicht war hager — in dieser Beziehung fehlte es ihr nicht an Selbstkritik. Ihren Traum von der Freiheit von sechs Uhr abends an
hatte sie jedoch verwirklicht, und von sechs bis acht Uhr abends genoss sie das lebhafte Gewimmel froher Menschen auf dem Arbeiterbummel von Dronning Louises Bro bis zum Kapelvej.
Nach acht Uhr verlegt die Jugend im Sommer ihren Bummel weiter nach draußen, vom Kapelvej die Friedhofsmauer entlang zum Rundteil und ein Stück den Jagtvej hinauf. Auch hier gibt es feingekleidete Herren mit frischgebügelten Zylinderhüten, und einer von ihnen wurde der Auserwählte. Er war gewiss kein Grafensohn, hatte aber auf einer Liebhabervorstellung im Volkshaus den Grafen gespielt. — Damals wohnte Vera auf dem Frederikssundvej in einem eigenen Zimmer unter dem Dach. Dann aber bekam sie das Kind und musste ins Hinterhaus zu einer armen Familie ziehen, die sowieso kleine Kinder zu pflegen hatte.
Der Graf entglitt ihrem Leben sehr rasch, und später verbrachte sie ihre Abende damit, dort, wo die Stadt jäh in Äcker übergeht, an den zugigen Ecken zu stehen und auf Fredrik zu warten — meist vergebens. Das letzte Mal, dass ich sie dort stehen sah, war eine Nacht vor Weihnachten. Mehrere Stunden lang stand sie gegenüber einer Kellerkneipe auf dem äußersten Nörrebro — zitternd vor Kälte und Kummer — in der Hoffnung, einen Schimmer von ihm zu erhaschen und ihn mit nach Hause zu schleppen in ihr armseliges Nest. Das Jackett existierte noch, ließ sich aber nicht mehr zuknöpfen, sie war hochschwanger. Und Fredrik war ihrer müde geworden und zog den Keller vor; ab und zu schickte er einen Späher nach oben, der feststellen sollte, ob sie denn nicht bald abzuhauen gedächte.
Das sind ihre freien Abende, und doch würde sie sie nicht um alles in der Welt aufgeben und wieder in Stellung gehen; in all ihrem Elend sieht sie voller Verachtung auf die Vergangenheit zurück. Viele haben sie bejammert und sich bemüht, sie zur Vernunft zu bringen, aber es ist schlecht an sie heranzukommen. Irgendwelches besseres Leben hat ihr die Freiheit nicht geschenkt; als ein vaterloses Kind der Liebe hat sie Vera um alles gebracht. Deshalb liebt sie die Freiheit wie wahnsinnig, mit Augen, die vor Selbstverzehrung glühen; wie eine verhungerte Wölfin steht
sie über ihrem winzigen Kind und knurrt nach allen Seiten Selbst Fredrik wagt es nicht, dies fremdartige Wesen aus dem Bau zu schleudern.
Ihre Nachkommenschaft wird nicht mit schweren Traditionen belastet sein; die soll einmal nicht Dienstbote spielen - das ist das einzige, was ihr bekannt ist. Sie wächst auf unter Verhältnissen wie sie nun einmal unehelichen Kindern zugemessen sind. Und eines Tages erwachen ihre Sprösslinge vielleicht zu der bitten Erkenntnis, dass sie ohne Vater auf die Welt gekommen sind und die eigene Mutter ausbeuten mussten, um selber voranzukommen.
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