5. Kapitel: Jimmie Higgins hilft dem Kaiser
1
Mit äußerstem Unbehagen beobachtete Jimmie Higgins, wie zielstrebig der Krieg nach Leesville kam, obwohl er sich doch alle Mühe gab, ihn fernzuhalten. Man nehme doch nur die ausgefallenste Sache, die sich denken ließ -die idiotischste Sache von der Welt -, die deutschen Spione!
Als Jimmie die Leute von deutschen Spionen reden hörte, lachte er ihnen ins Gesicht, sagte ihnen, sie seien ja Spinner, sie gehörten in den Kindergarten, denn für Jimmie gehörten deutsche Spione ins Reich der Kobolde, Hexen und Seeschlangen. Und hier nun fand sich der ratlose kleine Mann mitten in einer Hexenjagd auf deutsche Spione, wie sie ihm nicht einmal im Traum eingefallen wäre! Alle Leute schienen es für selbstverständlich zu halten, dass die Empire Machine Shops von deutschen Agenten in Brand gesetzt worden waren; sie wussten das ganz einfach, und zu der Zeit, als das Feuer gelöscht war, liefen schon hundert verschiedene Geschichten um, auf die sie ihre Überzeugung stützten. Das Feuer war in einer Reihe von Explosionen von einem Ort zum andern übergesprungen; der Wachmann, der noch zwei Minuten vorher seinen Kontrollgang durch die Halle gemacht hatte, war zurückgelaufen und hatte hell brennendes Benzin gesehen und war in den auflodernden Flammen fast umgekommen. Und am andern Morgen kam der Leesviller „Herald" heraus, brachte in Riesenlettern diese Geschichten und behauptete, das Werk sei voll deutscher Agenten gewesen, die als Arbeiter verkleidet gewesen wären. Noch am selben Tag verhaftete die Polizei ein Dutzend völlig harmlose deutsche und österreichische Arbeiter; jedenfalls sah Jimmie es so, denn zwei der Männer waren Mitglieder der sozialistischen Ortsgruppe. Irgendjemand erzählte Mrs. Meissner, dass alle Deutschen in Leesville verhaftet I würden, und die arme Frau schlotterte vor Angst. Sie wollte, dass ihr Mann weglaufen solle, aber Jimmie überzeugte beide, dass das das Schlimmste wäre, was er tun könnte; Meissner blieb darum im Haus, und Jimmie hielt drei volle Tage den Mund - für ihn eine außerordentliche Leistung und eine schlimmere Strafe als Zuchthaus. Er hatte seine Arbeit verloren - für immer, wie er dachte. Aber auch hierin schätzte er die Kräfte falsch ein, die sein Leben in die Hand genommen hatten - die Macht des Goldes, das auf dem Weg über Russland nach Leesville gekommen war. Am Tag nach dem Brand erhielt er Bescheid, er solle sich wieder zur Arbeit melden; der alte Granitch war so sehr bemüht, seine Arbeiter vor den Klauen der Hubbard Engine Company zu bewahren, dass er sie alle, ob gelernt oder ungelernt, einstellte, um die Brandschäden zu beseitigen! Fünf Tage später trafen schon die ersten Lastwagen mit neuem Material ein, und der Wiederaufbau der Empire Shops begann. Man sollte es nicht für möglich halten - ein paar Maschinen, die beim Brand nicht allzu sehr gelitten hatten, wurden repariert und liefen nach ein paar Wochen, geschützt durch ein provisorisches Zelt, bereits wieder, während um sie herum die Mauern des neuen Gebäudes in die Höhe wuchsen!
Das war es, was die Welt an Amerika so bewunderte. Der Brand habe den alten Granitch wieder jung gemacht, sagten die Leute; er arbeitete zwanzig Stunden täglich in Hemdsärmeln, und sein Vokabular an Flüchen wurde immer fürchterlicher. Selbst Lacey Granitch, sein flotter Sohn, ließ den Lichterglanz des Broadways im Stich und kam nach Hause, um seinem alten Herrn zu helfen, die Verträge einzuhalten. Die Einsatzfreude für diese Verträge wurde Leesville sozusagen zur Religion; sie griff sogar auf die Arbeiter über, so dass es Jimmie ging wie einem Mann in der Brandung, der Mühe hat, sich gegen den Sog von unten auf den Beinen zu halten.
2
Das „Worker"-Projekt wurde verschoben, denn als Genossin Mary Allen, die Quäkerin, am Tag nach dem Brand Jerry Coleman aufsuchen wollte, war dieser Spender von Zehndollarscheinen auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Es verging eine Woche, bevor er sich wieder blicken ließ, und inzwischen hatte sich sowohl innerhalb der Ortsgruppe als auch außerhalb einiges ereignet. Um das letztere als das vermutlich Wichtigere zuerst zu nennen: Ein englisches Passagierschiff, der Stolz der Atlantikflotte, mit amerikanischen Millionären beladen bis zur letzten Kabine, wurde ohne vorherige Warnung von einem deutschen U-Boot torpediert. Mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder ertranken, und ein Schauder des Entsetzens über diese „Heldentat" erfasste die ganze zivilisierte Welt. Auf der Versammlung der Ortsgruppe Leesville, die am Abend danach stattfand, erwies es sich als schwierig, zum geschäftlichen Teil überzugehen.
Die Mitglieder standen herum und diskutierten. Was sollte man zu einer Regierung sagen, die derartige Verbrechen befahl? Was sollte man zu einem Marineoffizier sagen, der einen derartigen Befehl ausführte? So Genosse Norwood, der junge Anwalt; und Schneider, der Brauer, antwortete, dass die deutsche Regierung alles getan habe, was ein vernünftiger Mensch verlangen könne. Sie habe in den New-Yorker Zeitungen bekanntmachen lassen, das Schiff würde angegriffen werden und jeder, der mit ihm führe, täte es auf eigene Gefahr. Wenn Frauen und Kinder auf Munitionsschiffen reisten...
„Auf Munitionsschiffen?" rief Norwood, und da zeigte Schneider auf eine Zeitungsmeldung, dass die „Lusitania" eine Ladung Patronenhülsen an Bord gehabt habe. „Schöne Munition!" höhnte der Anwalt. Nun, lautete die Antwort, wozu seien Patronenhülsen wohl gut, wenn nicht dazu, Deutsche umzubringen? Die Deutschen seien von der ganzen Welt angegriffen worden, und sie müssten sich schließlich verteidigen. Wenn man Genossen Schneider so ansah, glaubte man ihm, dass er sich von der ganzen Welt angegriffen fühlte; sein Gesicht war rot bis zu den Haarwurzeln, und er war bereit zur Verteidigung mit jeder Waffe, die ihm in die Finger kam. Genosse Koeln, ein langer Glasbläser, mischte sich in die Diskussion ein. Die deutsche Regierung sei Gewährsmann für die Behauptung, dass die „Lusitania" mit Kanonen bestückt gewesen sei. Und als Norwood darauf höhnisch lachte, gerieten alle anwesenden Deutschen in hellen Zorn. Was hatte er schon, um das zu widerlegen? Das Wort der britischen Regierung! Das Schlagwort vom „perfiden Albion" war doch nicht von ungefähr entstanden! „Was ich einfach nicht begreife", erklärte der junge Anwalt, „ist die Art und Weise, wie ihr Deutschen jetzt für den Kaiser eintretet, wo ihr doch vor dem Krieg nicht genug über ihn schimpfen konntet."
„Und was ich nicht begreife", konterte Schneider, „ist, wie ihr Amerikaner für König George eintretet. Jede Zeitung der Wall Street ereifert sich, dass Amerika in den Krieg eintreten soll - nur weil ein paar Millionäre umgekommen sind!"
„Du scheinst dir nicht im Klaren darüber zu sein, dass die, Mehrzahl der Männer, die auf diesem Schiff umgekommen sind, Arbeiter waren!"
„Haha!" höhnte Genosse Stankewitz. „Hat de Wall Street ein Herz für de Arbeiter!"
Genossin Mary Allen, die alle Menschen liebte, schaltete sich ein. Wenn diese Arbeiter bei einem Bergwerksunglück umgekommen wären, das durch verbrecherische Nachlässigkeit und Profitgier verursacht worden sei, wenn sie an irgendeiner Berufskrankheit gestorben wären, der man leicht hätte vorbeugen können, wenn sie in einer Fabrik, die keine Feuerleitern angeschafft hätte, verbrannt wären -dann hätte niemand in der Wall Street deshalb in den Krieg ziehen wollen. Davon war selbstverständlich jeder Sozialist überzeugt; jedem Sozialisten war klar, dass die Versenkung der „Lusitania" nur deshalb als ein so ungeheures Verbrechen galt, weil die privilegierten Leute davon betroffen und dadurch zu Schaden gekommen waren, die Leute, die zählten, die in die Zeitungen kamen und die nicht belästigt werden durften, nicht einmal durch Krieg. So war es möglich, dass Jimmie Higgins, obwohl er entsetzt war über das, was die Deutschen getan hatten, sich irritieren ließ durch das Theater, das die Wall-Street-Zeitungen machten. Der junge Emil Forster sprach, und man hörte ihm wie stets zu. Es sei ein Streit, sagte er - und wie üblich bei Streiten, gäbe es auf beiden Seiten Recht und Unrecht. Man habe ein paar englische und amerikanische Kinder abzuwägen gegen die Millionen deutscher Kinder, die die britische Regierung verhungern lassen wolle. Es handle sich um die britische Seemacht, die sich zu behaupten suche - und natürlich die meisten Nachrichtenkanäle kontrolliere. Sie berufe sich auf das, was sie „Gesetz" nenne - das heiße auf die Bräuche, die sie in der Vergangenheit zweckdienlich gefunden habe. Die britischen Kreuzer könnten Schiffe stoppen und durchsuchen und deren Mannschaften mitnehmen; U-Boote aber könnten das nicht; worauf also das Geschrei der Briten nach dem „Gesetz" hinauslaufe, sei der Versuch, Deutschland davon abzubringen, seine einzige Waffe anzuwenden. Und dann solle man sich auch ehrlich fragen, ob es eigentlich schlimmer sei, Menschen rasch zu ertränken, als sie langsam verhungern zu lassen.
Da meldete sich der Wilde Bill. Dieses Gezanke über deutsch oder britisch kotze ihn an. Merkten sie denn gar nicht, die Hornochsen, dass sie den Herren in die Hände spielten? Stritten sich untereinander, wo sie doch die Arbeiter wachrütteln, auf den eigentlichen Kampf vorbereiten sollten! Und der verhutzelte kleine Stankewitz redete wieder dazwischen - deswegen hasse er ja den Krieg, er spalte die Arbeiter. Es lasse sich nicht das geringste zugunsten des Krieges sagen. Aber der Wilde Bill setzte sein schiefes Lächeln auf. Es lasse sich allerhand zugunsten des Krieges sagen. Der Krieg gebe den Arbeitern Gewehre in die Hand und bringe ihnen bei, wie man sie benutze; wie sei es, wenn sie eines Tages diese Gewehre umdrehten und ihre eigenen Schlachten schlügen?
3
Genosse Gerrity eröffnete nun die Sitzung und bemühte sich, zum Geschäftlichen überzugehen. Man verlas das Protokoll der letzten Sitzung, stimmte über neue Mitglieder ab, und dann erhob sich Genossin Mary Allen, um über die Arbeit des „Worker"-Komitees Bericht zu erstatten. Die Geldmittel waren beschafft, die erste Nummer der Zeitung sollte in der kommenden Woche erscheinen, und es war nun Sache eines jeden Mitglieds der Ortsgruppe, sich auf die Beine zu machen und die Werbetrommel zu rühren wie noch nie. Genossin Mary Allen, mit dem hageren, glühenden Gesicht einer religiösen Fanatikerin, steckte alle mit ihrem Feuereifer an.
Alle, außer Rechtsanwalt Norwood. Seit Dr. Service sich zurückgezogen hatte, war er der Hauptstörenfried auf der proalliierten Seite, und er hielt nun eine kleine Rede. Er sei angenehm überrascht, dass das Geld so schnell beschafft worden sei; aber es seien ihm denn doch gewisse beunruhigende Zweifel gekommen, worauf er Nachforschungen angestellt und festgestellt habe, dass an der Sache etwas Mysteriöses sei. Es werde angegeben, dass die neue Zeitung einen Generalstreik in den Empirewerken fordern solle, und natürlich wisse jeder, dass es jetzt mächtige, unheilvolle Kräfte gebe, die ein Interesse daran hätten, Streiks in Munitionsfabriken zu organisieren.
Im nächsten Augenblick war der Wilde Bill aufgesprungen. Hatte der Genosse vielleicht etwas dagegen, dass Munitionsarbeiter den Achtstundentag forderten? „Nein", sagte Norwood, „natürlich nicht, aber wenn wir im Bündnis mit anderen in einen Kampf ziehen wollen, dann sollten wir doch wohl wenigstens wissen, wer diese Leute sind und was für Absichten sie haben. Soweit ich erfahren habe - offenbar will man darüber nicht so recht mit der Sprache heraus -, ist eine Menge Geld von einem einzigen Mann gegeben worden, und niemand weiß, wer dieser Mann ist."
„Er ist Organisator für die AFL!" Das war Jimmies Stimme; In seiner Aufregung hatte er das feierliche Versprechen, die
Sache geheimzuhalten, völlig vergessen!
„Ach wirklich!" sagte Norwood. „Wie heißt er denn?"
Niemand antwortete.
„Hat er seinen Ausweis gezeigt?"
Wieder Stille.
„Ich brauche natürlich Männern, die mit Gewerkschaftsangelegenheiten so vertraut sind wie die Genossen hier, nicht zu erzählen, dass jeder echte Organisator für eine Gewerkschaft sich ausweisen kann. Wenn er seine Papiere nicht; zeigt, ist das zumindest Anlass dafür, an die Organisation zu schreiben und sich über ihn zu erkundigen. Hat das jemand getan?"
Wieder herrschte Schweigen.
„Ich möchte niemand beschuldigen ...", sagte Norwood. „I wo!" rief der Wilde Bill dazwischen. „Du willst nur anschwärzen!"
„Ich will nur sichergehen, dass die Ortsgruppe weiß, was sie tut. Es ist ja wohl in Leesville kein Geheimnis, dass Gelder dafür eingesetzt werden, in den Empirewerken Unruhe zu stiften. Zweifellos ist dieses Geld schon durch sehr viele Hände gegangen, seit es der Kaiser weggegeben hat, aber wir können überzeugt sein, dass seine Hände es bis zu seinem endgültigen Ziel lenken."
Was gab es da für einen Tumult! „Pfui! Pfui!" riefen einige, und andere riefen: „Bring uns deine Beweise!" Die „scharfen" Mitglieder schrien: „Werft ihn raus!" Sie hatten Norwood schon lange loswerden wollen, und hier bot sich offenbar eine günstige Gelegenheit.
Doch der junge Rechtsanwalt hielt seine Stellung und gab ihnen Schuss um Schuss zurück. Beweise wollten sie? Angenommen, sie hätten von einer kapitalistischen Verschwörung erfahren, die die Gewerkschaften in der Stadt zugrunde richten wolle, und angenommen, der Leesviller „Herald" hätte lautstark „Beweise" verlangt - was hätten sie dann wohl gedacht?
„Mit anderen Worten", brüllte Schneider, „du weißt, dass es wahr ist, einfach weil es Deutschland ist!" „Ich weiß, dass es wahr ist", sagte Norwood, „weil es Deutschland helfen würde, den Krieg zu gewinnen. Weitere Beweise braucht man nicht - wenn eine bestimmte Sache Deutschland hilft, den Krieg zu gewinnen, dann weiß man, dass diese Sache auch gemacht wird. Ihr Deutschen wisst das alle, und ihr seid obendrein sogar noch stolz darauf; das ist eure Tüchtigkeit, mit der ihr euch brüstet." Wieder ertönte der Ruf: „Pfui! Pfui!", aber der Ruf kam von Genossin Mary, der Quäkerin, und es war offensichtlich, dass sie einen Chor erwartet hatte und aus der Fassung gebracht war, als sie sich allein sah.
Der junge Norwood, der seine Deutschen kannte, lachte verächtlich. „Gerade jetzt verkauft eure Regierung Pfandbriefe in Amerika, angeblich zugunsten der Familien der Gefallenen und Verwundeten. Einige dieser Pfandbriefe sind, wie ich zufällig weiß, in dieser Stadt gekauft worden. Glaubt jemand von euch wirklich, dass das Geld die Familien der Gefallenen und Verwundeten erreichen wird?" Diesmal antworteten die Deutschen. „Ich glaube es!" dröhnte Genosse Koeln. „Ich auch! Ich auch!" schrien andere.
„Dieses Geld bleibt hier in Leesville!" erklärte der Rechtsanwalt. „Damit wird ein Streik in den Empirewerken vorbereitet!"
Ein Dutzend Männer meldete sich gleichzeitig zum Wort. Schneider, der Brauer, bekam es, weil er alle anderen überbrüllen konnte. „Was will der Genosse eigentlich?" wollte er wissen. „Ist er nicht für den Achtstundentag?"
„Hat er etwa vom alten Granitch Geld bekommen?" gellte der Wilde Bill. „Oder weiß er vielleicht nichts davon, dass Granitch Geld ausgibt, damit smarte junge Rechtsanwälte ihm helfen, seine Munitionssklaven bei der Arbeit zu halten?"
4
Nachdem Norwood sein Öl ins Feuer gegossen hatte, setzte er sich für eine Weile wieder hin und ließ es brennen. Als die Deutschen höhnten, er habe ja Angst, auszusprechen, was er wirklich meinte - nämlich, dass die Ortsgruppe sich gegen die Forderung nach einem Achtstundentag stellen solle -, da lachte er sie nur aus. Er habe erreichen wollen, dass sie sich selbst bloßstellten, und das habe er geschafft. Nicht nur, dass sie bereit seien, für den Kaiser zu arbeiten - sie seien obendrein noch bereit, dafür vom Kaiser Geld zu nehmen!
„Von ihm Geld nehmen?" rief der Wilde Bill. „Ich würde vom Teufel selber Geld nehmen, um weiter für den Sozialismus agitieren zu können!"
Der alte Hefmann Forster stand auf und nahm mit seiner sanften, gefühlvollen Stimme das Wort. Falls es die Wahrheit sei, dass der Kaiser Geld für derartige Zwecke gebe, würde er doch bestimmt feststellen müssen, dass er sehr wenig damit erkauft habe. Auch in Deutschland gebe es Sozialisten, das dürfe man nicht vergessen ... Darauf ein gellendes Lachen. Diese zahmen deutschen Sozialisten! Der das sagte, war Genosse Claudel, ein belgischer Juwelier. Würde vor solchen Revolutionären auch nur ein Hase Angst haben? Die fraßen doch dem Kaiser aus der Hand - ließen ihre Zeitungen in den Schützengräben als Regierungspropaganda verteilen! Sollte mal einer einen Belgier was über deutsche Sozialisten erzählen! So sah man, wie die Grenzen zwischen den europäischen Nationen die Ortsgruppe Leesville in zwei Hälften spalteten: auf der einen Seite die Deutschen und Österreicher, die russischen Juden, die Iren und die christlichen Pazifsten; auf der anderen Seite zwei englische Glasbläser, ein französischer Kellner und ein paar Amerikaner, die wegen einer Collegebildung oder einer anderen snobistischen Schwäche im Verdacht standen, eine Vorliebe für John Bull zu haben. Zwischen diesen extremen Gruppen stand die Masse der Mitglieder, hörte ratlos zu und versuchte sich tastend durch das Labyrinth hindurchzufinden. Das war keine leichte Sache für diese einfachen Leute, für die Jimmie Higginse. Es trieb sie fast zur Verzweiflung, wenn sie die Sache zu Ende zu denken versuchten. Die Frage hatte so viele Seiten - der letzte, mit dem man sprach, hatte stets ein besseres Argument als alle anderen, die man vorher gehört hatte! Natürlich empfand man Sympathie für Belgien und Frankreich, aber hasste man deswegen etwa die herrschenden Klassen Englands weniger? Die waren doch der Erbfeind, sozusagen der Feind aus dem Schulbuch. Und sie waren diejenigen, über die man am meisten wusste; da jeder amerikanische Schwachkopf, der schnell reich geworden war und sich über seinesgleichen erheben wollte, sich unweigerlich englische Kleidung, englisches Personal und englische schlechte Manieren zulegte. Für den schlichten Durchschnittsamerikaner bedeutete das Wort „englisch" Privilegien, Kultur der herrschenden Klasse, Establishment, all das, wogegen er rebellierte. Deutschland war dagegen der Prolet unter den Nationen -der arme Hund, der nie eine Chance gehabt hatte und sie sich jetzt mit Gewalt verschaffen wollte. Außerdem waren die Deutschen gründlich; sie machten sich die Mühe, einem ihre Sache auseinanderzusetzen, es war ihnen wichtig, was man von ihnen hielt; wogegen der verdammte Engländer seine snobistische Nase hoch trug und sich keinen Pfifferling darum kümmerte, was andere von ihm dachten.
Außerdem war in dieser Kontroverse die Macht der Trägheit auf der Seite der Deutschen, und die Trägheit ist in allen Organisationen eine gewaltige Macht. Was die Deutschen von den amerikanischen Sozialisten wollten, war einfach, dass sie weitermachen sollten mit dem, was sie ihr ganzes Leben lang getan hatten. Und der sozialistische Parteiapparat war zu dem Zweck geschaffen, weiterzumachen ohne Rücksicht auf alle Mächte auf Erden, im Himmel oder in der Hölle. Sollte man doch von Jimmie Higgins einmal verlangen, die Forderung nach höheren Löhnen und dem
Achtstundentag fallenzulassen! Wusste nicht jeder, der bei Verstand war, was Jimmie auf so ein Ansinnen antworten würde? Du kannst mich mal!
5
Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass Jimmie bei dem Gedanken schauderte, sein Geld könnte vielleicht vom Kaiser kommen. Zwar waren die Traditionen der sozialistischen Bewegung deutsche Traditionen, aber es waren deutsche regierungsfeindliche Traditionen: Jimmie sah den Kaiser als Teufel in Person, und der bloße Gedanke, irgend etwas zu tun, was der Kaiser getan haben wollte, war für ihn Grund genug, sofort damit aufzuhören. Er begriff auch, wie schlimm es für die Bewegung wäre, wenn irgendjemand glaubte, sie nähme Geld vom Kaiser. Angenommen, es gelangte ein Bericht über die Diskussion dieses Abends an den „Herald"! Und das, wo die Öffentlichkeit bis zum Wahnsinn erregt war über die Sache mit der „Lusitania"! Nachdem die Diskussion sich so etwa eine Stunde hingezogen hatte, brachte Norwood den Antrag ein, das „Worker"-Komitee solle beauftragt werden, die Quellen aller eingegangenen Gelder gründlich zu überprüfen und alles zurückzuweisen, was nicht von Sozialisten käme oder von Leuten, die mit dem Sozialismus sympathisierten. Der gesunde Menschenverstand der Versammelten setzte sich durch, und sogar die Deutschen stimmten für diesen Antrag. Aber ja, sollten sie nur hingehen und überprüfen! Die sozialistische Bewegung war sauber, war stets sauber gewesen; sie hatte vor niemand etwas zu verbergen. Aber dann erhob sich ein neuer Streit. Claudel beantragte, dass Norwood Komiteemitglied werden solle, und dem widersetzten sich natürlich die Radikalen aufs heftigste. Das war ja eine Beleidigung, ein Zweifel an der Integrität des Komitees. Und außerdem, gab Baggs, ein Engländer, zu verstehen, könnte Norwood ja vielleicht wirklich etwas finden! Die Jimmie Higginse stimmten den Antrag nieder - nicht, weil sie irgendwelche Enthüllungen fürchteten, sondern weil sie meinten, einem ruhigen, verständigen Menschen wie ihrem Organisator Gerrity dürfe man zutrauen, dass er den guten Ruf der Bewegung schützte, und zwar ohne jemand vor den Kopf zu stoßen oder viel Gewese zu machen. Die Überprüfung erfolgte, und das Ergebnis war, dass Jerry Coleman sein Geld, das er für den „Worker" gegeben hatte, stillschweigend zurückbekam. Doch der Fehlbetrag wurde sofort von den Deutschen in der Ortsgruppe ersetzt, die das Ganze für ein abgekartetes Spiel hielten, für einen Versuch, die Agitation für einen Streik abzuwürgen. Diese Genossen gaben überhaupt nichts auf das Gerede über „deutsches Gold", achteten aber andererseits sehr wachsam auf den Einfluss russischen Goldes, das, wie sie wussten, ganz offen von dem alten Abel Granitch verteilt wurde. Und daher griffen sie tief in die Tasche und kramten ihren kärglichen Lohn heraus, damit die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in Leesville lebendig bliebe. Das Endergebnis der ganzen Episode war, dass die Ortsgruppe das Geld des Kaisers zurückwies, jedoch unbezahlt weiter das tat, was der Kaiser wollte. Das konnte man kaum eine zufriedenstellende Lösung nennen, aber es war die beste, die Jimmie Higgins zu diesem Zeitpunkt finden konnte.
6
Die erste Nummer des „Worker" erschien: Auf der ganzen Titelseite Jack Smith' Leitartikel, der die Arbeiter der Empirewerke aufrief, diese Gelegenheit zu benutzen, um sich zu organisieren und ihr Recht zu fördern. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit!" verkündete Genosse Jack, was vom „Herald" und vom „Kurier", die das Erscheinen eines Wilderers in ihrem journalistischen Revier in größte Wut versetzte, mit Schimpfkanonaden über „deutsche Propaganda" beantwortet wurde. Der „Herald" wusste zu berichten, was sich in der Ortsgruppe zugetragen hatte; außerdem brachte er ein Bild vom Wilden Bill und ein Interview mit diesem Schrecken des Westens, der erklärte, er sei für Krieg gegen die Kapitalistenklasse mit der Hilfe aber auch jedes Verbündeten, der sich finden ließe - selbst wenn es sich um Schmirgelpulver in Kugellagern und Kupfernägel in Obstbäumen handle. Der „Herald" erhob die Beschuldigung, die Haltung der Sozialisten in der Frage „unsauberer Gelder" sei bloß Theater. Passiert sei einfach Folgendes: Die deutschen Mitglieder der Ortsgruppe hätten deutsches Geld erhalten und dieses mit dem einfachen Trick, es durch ihre geweihten Hände laufen zu lassen, in „sozialistisches Geld" verwandelt. Da sich Norwood in der Ortsgruppe etwa in diesem Sinne geäußert hatte, erhoben die deutschen Genossen jetzt gegen ihn den Vorwurf, er hätte die Bewegung an die kapitalistische Presse verraten. Und so kam es zu einem weiteren erbitterten Streit in der Ortsgruppe. Der junge Anwalt lachte über den Vorwurf. Glaubten sie denn wirklich, sie könnten in Leesville deutsches Geld annehmen, ohne dass es herauskäme? „Dann glaubst du also, wir nehmen wirklich deutsches Geld?" tobte Schneider und verlangte wutschnaubend eine Antwort. Der andere wollte nicht direkt antworten, sondern erzählte ihnen eine kleine Parabel. Er sah einen Baum seine Wurzeln in den Boden strecken und sich überall ausbreiten, jedes kleine Würzelchen dafür eingerichtet, Wasser aufzusaugen. Und oben auf der Erde stand ein Mann mit einet bestimmten Menge Wasser, das er ausgoss, er goss und goss ohne Unterlass, und das Wasser sickerte hinab zu den Würzelchen, und jedes Würzelchen suchte nach Wasser und schob sich dorthin, wo Wasser zu erwarten war. „Und nun", sagte Norwood, „fragt ihr mich, ob ich glaube, dass der Baum etwas von dem Wasser abbekommen hat?" Und das gab natürlich Anlass zu einer erbitterten Auseinandersetzung. Die Hitzköpfe wollten von spitzfindigen Unterscheidungen nichts hören; sie erklärten, Norwood beschuldige die Bewegung der Korruption und stelle die Kriegsgegner als Schurken hin! Er versorge die kapitalistische Presse mit Munition. Pfui Teufel! Pfui Teufel! „Er ist ein Lockspitzel!" schrie der Wilde Bill. „Schmeißt ihn raus, den Judas!"
Das Durchschnittsmitglied der Ortsgruppe, der absolut ehrliche Mann wie Jimmie Higgins, der sich abrackerte und halb zu Tode hungerte, um seine Klasse aufzuklären, hörte sich derartige Streitereien ratlos und unglücklich an. Er sah sie als Widerhall der entsetzlichen nationalen Hassgefühle, die Europa zerrissen, und war verärgert darüber, dass diese Streitigkeiten der Alten Welt mit Gewalt in das amerikanische Industrieleben eingeschleppt wurden. Warum konnte er denn nicht weitermachen in seiner Pflicht, die amerikanischen Arbeiter dem genossenschaftlichen Gemeinwesen entgegenzuführen?
Weil, so antworteten die Deutschen, der alte Granitch die amerikanischen Arbeiter als Munitionssklaven behalten wolle, und diesem Gedanken schloss sich der weit überwiegende Teil der Mitglieder an. Sie waren keine Pazifisten, keine Leute, die Widerstand ablehnten; sie waren durchaus gewillt, die Kämpfe der Arbeiterklasse durchzufechten. Wogegen sie etwas hatten, war, dass sie die Kämpfe der herrschenden Klasse durchfechten sollten. Sie wollten weitermachen wie schon immer, im Widerstand gegen die herrschende Klasse, und ohne sich um Gerede über deutsche Agenten zu kümmern. Jimmie Higgins glaubte - und er hatte mit diesem Glauben vollkommen recht -, dass selbst dann, wenn es keine deutschen Agenten gegeben hätte, die kapitalistischen Zeitungen von Leesville sie erfunden hätten, als ein Mittel, in dieser Krise die Agitatoren in Verruf zu bringen. Jimmie Higgins hatte sein ganzes Leben in einem Land zugebracht, in dem die Herren ihn hungern ließen und ihn unterdrückten und, wenn er sich selbst zu helfen versuchte, jede Waffe des Verrats und der Verleumdung gegen ihn einsetzten. So war Jimmie zu der Ansicht gelangt, dass ein kapitalistisches Land wie das andere war und dass man ihn nicht kirre machen konnte durch Märchen von Kobolden und Hexen und Seeschlangen und deutschen Spionen. |
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