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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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22. Kapitel: Jimmie Higgins arbeitet für seinen Onkel

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Jimmie Higgins bekam noch ein paar Tage bewilligt, um sich im Park des Lazaretts auszuruhen, und machte dort die Bekanntschaft und hörte die Erfahrungen von Männern, die in der Schlacht Arme und Beine verloren hatten oder von Flammenwerfern verbrannt worden waren oder durch Giftgas lebenslange Schäden davongetragen hatten. So seltsam es scheinen mag, Jimmie fand unter diesen Männern nicht wenige, mit denen er reden konnte, deren Ansichten den seinen nahekamen. Diese Briten waren durch die Mühle gegangen; sie wussten Bescheid. Ihnen sollte man nicht mehr mit Ruhm und Ehre kommen! Das überließ man den Zeitungsschmierern, den verdammten Schurken, die zu Hause blieben und die Trommel rührten, um andere Männer anzutreiben, dass sie in den Krieg marschierten und
starben. Man ging und ließ sich zusammenschießen, war fürs Leben ruiniert - und danach, was hatten sie dann noch für einen übrig? Für einen Verkrüppelten und Hilflosen war die Welt hart. Ja, sagte Jimmie, genauso hart, wie die Welt für einen Sozialisten war, den Träumer von der Gerechtigkeit.
Doch da war das alte Dilemma wieder, dem er nie hatte entfliehen können, weder in Leesville, USA, noch auf hoher See noch hier in Old England. Wie sollte man es mit den Hunnen halten? Ihnen die Hand entgegenzustrecken war dasselbe, als ob man sie in einen Tigerkäfig steckte. Nein, bei Gott, man musste gegen sie kämpfen, musste sie schlagen, koste es, was es wolle! Und der Redner fuhr fort und erzählte, was er gesehen hatte: einen preußischen Offizier, der einem englischen Chirurgen in den Rücken schoß, nachdem dieser Chirurg ihm die Wunden verbunden hatte; den Kommandanten eines Gefangenenlagers, der bei einer Typhusepidemie jede ärztliche Hilfe verweigerte und die ihm anvertrauten Leute wie Ratten krepieren ließ. Also, wenn es auch die Hölle war, man musste hindurch; wenn man ein Mann sein wollte, musste man die Zähne zusammenbeißen, die Fäuste ballen und seinen Teil von dem Grauenhaften übernehmen, egal, was es auch sein mochte. Und Jimmie, der auf seine bescheidene Art durchaus ein Mann war, biss die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und übernahm in seiner Phantasie immer den Teil von demjenigen menschlichen Wracke das gerade mit ihm sprach. So wurde Jimmie Higgins zwischen den Mächten Militarismus und Revolution wie ein Tennisball hin und her geschlagen.
Gerade jetzt war die Lage wieder äußerst gespannt - die Hunnen hatten in Flandern eine gewaltige Offensive begonnen, die dritte Schlacht von Ypern, und die Briten wichen zurück, zwar nicht in wilder Flucht, sondern in geordnetem Rückzug, der aber doch jede Stunde in wilde Flucht ausarten konnte. Die Meldungen trafen mehrmals täglich ein, und die Leute auf den Straßen blieben stehen und lasen sie mit ängstlichen Gesichtern. Wenn der Wind richtig stand, hörte man den Kanonendonner jenseits des Ärmelkanals; Jimmie lag nachts wach und lauschte auf das dumpfe, ununterbrochene Rollen - ein furchtbares Gewitter von
Menschenhand, das den Soldaten, die sich in Granattrichtern und eilig aufgeworfenen Gräben duckten, Stahlschauer auf die Köpfe regnete. Der Krieg klang tatsächlich sehr nahe, wenn der Wind richtig stand!

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Doch der Mensch muss immerhin leben. Jimmie war zum ersten mal in einem fremden Land, und als er Ausgang bekam, bummelte er mit ein paar anderen jungen Amerikanern durch die Straßen und bestaunte die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt, die vor dem Krieg noch ein kleiner Hafen gewesen war, jetzt aber zu einem großen Zentrum des Welthandels geworden war, zu einem der Punkte, von denen aus Tag für Tag halb England über den Ärmelkanal geschafft wurde.
Man sah auf den Straßen keine Zivilisten bis auf ein paar alte Männer; man sah auch niemanden müßig bis auf die kleinen Kinder. Die Frauen fuhren die Lastwagen und die Straßenbahnen, die hier „Tram" hießen, und die Fahrstühle, die hier „Lift" hießen. Alle hatten ernste, verschlossene Gesichter, doch Sie hellten sich auf, wenn die Leute die Amerikaner sahen, die von so weit her gekommen waren, um ihnen in ihrer Not zu helfen. In den Konditoreien und den komischen kleinen „Pubs", in denen rotbäckige Mädchen sehr dünnes Bier ausschenkten, konnte man zu den Besuchern aus Übersee nicht höflich genug sein; auch der hochnäsige „Bobby" blieb stehen, um einem den Weg zu zeigen. „Die örste röchts, dann die drütte lünks", ratterte er herunter, und wenn man ihn dann dumm ansah, sagte er es noch einmal, genauso schnell wie vorher. Doch man brauchte Motorräder in den neuen amerikanischen Armeen so nötig, dass man Jimmie nicht viel Zeit ließ, den Helden zu spielen; er bekam seine Befehle und eine neue Ausrüstung und sagte der Ehrenwerten Beatrice Lebewohl, wobei er versprach, ihr ab und an zu schreiben und nicht zu schlecht über die Aristokratie zu denken. Er überquerte den Ärmelkanal, der von Booten wimmelte wie der Hudson von Fähren, und kam zu einem anderen und noch größeren Hafen, den die Amerikaner für Kriegszwecke ganz und gar umgebaut hatten. Seit dem Kampfbeginn waren hier lange Reihen von Docks entstanden; Jimmie sah Riesenkräne, die in den Frachtraum eines Schiffes hinuntertauchten und ganze Lokomotiven oder vielleicht ein halbes Dutzend Lastwagen auf einmal heraufzogen. Hinter diesen Docks war ein Gewirr von Eisenbahnanlagen und Gleisen und kilometerweit ein Schuppen hinter dem anderen, bis oben hin mit Vorräten aller Art vollgestopft. Die umliegenden Hügel bedeckte eine ganze Lagerstadt, und oben auf der Höhe stand eine alte, knarrende, moosbewachsene Windmühle - das Mittelalter blickte bestürzt auf diese neue Zeit herab.
Niemand fiel es ein, Jimmie zur Besichtigung dieser Wunderwerke einzuladen, doch ab und zu bekam er ein bisschen Einblick, und die Männer, mit denen er sich unterhielt, erzählten ihm mehr. Der eine hatte das Ausladen konservierter Tomaten geleitet; sechs Monate lang hatte er nichts weiter gesehen als Kiste um Kiste und Wagenladung um Wagenladung konservierter Tomaten, die auf der einen Seite in einen Schuppen hereinkamen und auf der anderen Seite wieder hinausgingen. Irgendwo in den höheren Regionen weilte ein bewundernswertes Tomatenhirn, das genau wusste, wie viel Konserven eine Einheit von Landsern in einem Ausbildungslager täglich verbrauchte, wie viel für die Patienten in den Lazaretten benötigt wurden, für die Holzfäller in den französischen Wäldern, für die Nachtschwärmer in den Baracken des Christlichen Vereins junger Männer. Hin und wieder brachte ein Schiff Nachschub, und der Mann, der Jimmie das erzählte, war der Boss einer Gruppe Neger, die die Kisten auf Lastwagen luden. Und dann begegnete Jimmie einem Franzosen, der Kellner in einem Chicagoer Hotel gewesen war und nun der Boss einer Gruppe drahthaariger koreanischer Arbeiter war. Jimmie hatte gedacht, er habe in den Werkstätten und Fabriken und Bergwerken Amerikas schon alle Völkerstämme der Erde kennengelernt; aber hier hörte er von neuen Menschensorten - Annamiten und Siamesen, Afghanen und Sikhs, Madagassen und Abessiniern und Algeriern. Das ganze britische Empire war hier vertreten und alle französischen Kolonien. Portugiesen und Brasilianer und Westindier, Buschmänner aus Australien und Zulus aus Südafrika, und
da die immer noch nicht gereicht hatten, schüttete jetzt Amerika den erst teilweise verschmolzenen Inhalt seines Tiegels aus - Hawaiier und Puertoricaner, Filipinos und „Spiggoties", Eskimos aus Alaska, Chinesen aus San Francisco, Sioux aus Dakota und schlichte schwarze Plantagennigger aus Louisiana und Alabama! Jimmie sah, wie eine Gruppe dieser letzteren ein Gleis in Ordnung brachte, das durch eine von einem Flugzeug abgeworfene Bombe aus seiner Lage gerissen war; ihre schwarze Haut glänzte von Schweiß, ihre weißen Zähne schimmerten in freundlichem Lächeln, wie sie da ihre schweren Brecheisen schwangen, eine lange Reihe von ihnen, die sich wie eine Maschine bewegte und dazu sang, um im Takt zu bleiben. „Alle Mann -ran!" rief der Offizier, und die Reihe kam Schwung...
„Nimm die Winde! Nimm die Stange! Nicht so träge! Nicht so lange! Faß mal an! Klotz mal ran

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Seit nahezu vier Jahren hatte Jimmie über Frankreich gelesen, und jetzt war er selber hier und konnte sich alles mit eigenen Augen ansehen. Menschen mit Holzschuhen zum Beispiel! Es war die Mühe wert, über das Meer zu kommen, um sich anzusehen, wie Frauen und Kinder klipp, klapp über das Kopfsteinpflaster klapperten. Und die komischen kleinen Personenwagen der Eisenbahn mit den Türreihen wie Kaninchenställe. Beruhigend war es, dass der Zug eine normal große Lokomotive hatte mit der Aufschrift USA. Jimmie hatte eine Aktie an dieser Lokomotive und genoss einen sozialistischen Freudenschauer bei dem Gefühl, von ihr gezogen zu werden.
Dank dem U-Boot und dem Lazarettaufenthalt war er von seiner Einheit getrennt worden. Er hatte einen Marschbefehl mit der Anweisung, unter Benutzung eines bestimmten Zuges in eine bestimmte Stadt zu fahren. Nun saß Jimmie in diesem Zug und blickte aus dem Fenster, glücklich wie ein Junge, der schulfrei hat. Ein schönes Land, allenthalben strahlend im frischen Grün des Frühlings; breite, geradlinige Straßen für den Militärverkehr, gesäumt von Pappeln, Häuser aus Naturstein mit eigenartigen Steildächern und Greise, Frauen und Kinder bei der Arbeit auf den Feldern. Jimmie unterhielt sich mit den Männern im Abteil, Soldaten und Arbeitern, jeder ein Rädchen in dem großen Getriebe, jeder mit einem wichtigen Auftrag unterwegs. Jeder wusste etwas zu erzählen, sei es vom Kampf, sei es davon, wie die Vorbereitungen liefen. Seit mehr als einem Jahr war Amerika dabei, sich auf den Krieg einzustellen: was würde es jetzt, in der gefährlichen Krise des Krieges, tun? Alle waren aufs äußerste gespannt, jeder wartete ungeduldig darauf, in den Einsatz zu kommen, sich zu bewähren in der Aufgabe, die ihm so am Herzen lag. Alle wussten, dass die amerikanischen Landser den „Fritz" besiegen würden; sie wussten es genauso, wie fromme Menschen wissen, dass es einen Gott im Himmel gibt, nur - und damit unterschieden sie sich von den meisten frommen Menschen - hatten sie es besonders eilig, in diesen Himmel zu kommen und vor diesen Gott zu treten. Neben Jimmie saß ein Farmerjunge aus Wisconsin, dem Aussehen, dem Namen, sogar dem Akzent nach deutsch; aber er war bereit, gegen die Soldaten des Kaisers zu kämpfen - und ganz sicher, dass er sie schlagen würde! Hatte er denn nicht seit seiner Kindheit in einem freien Land gelebt, und hatte er nicht eine amerikanische Volksschule besucht?
Alle hatten spaßige Geschichten zu erzählen von Soldatenabenteuern in fremdem Land. Die Franzosen waren in Ordnung, selbstverständlich, besonders die Mädchen; aber die Kaufleute waren knickrig, und man tat gut daran, das Wechselgeld zu zählen und auf die Münzen zu beißen, die sie einem herausgaben. Was die Sprache anging - ach du liebe Güte! Warum wollten zivilisierte Leute durchaus eine Sprache sprechen, bei der man wie ein Schwein grunzen musste - oder wie ein ganzer Stall von Schweinen in allen Größen? Auf der anderen Seite des Ganges saß ein Chicagoer Straßenbahnschaffner mit einem kleinen Sprachführer, aus dem er ab und zu laut vorlas. „An, in, on, un" - Schweine in den verschiedensten Größen! Wenn man Brot haben wollte,
sagte man „Päng", und wenn man ein Gericht Eier haben wollte, sagte man „Katzöh". Und wie wäre es mit folgendem Zungenbrecher - sag mal „fünfhundertfünfundfünfzig Franc" auf französisch!
Zum Glück brauchte man so große Zahlen nicht zu sprechen - nicht mit der Löhnung eines Landsers, sagte ein Klempner aus dem Randgebiet von New York. Er für sein Teil hielt sich nicht lange mit Grunzen auf - er tat so, als ob er trank oder aß, und schon schleppten sie so lange was ran, bis sie herausgekriegt hatten, was er wollte. Einmal hatte er ein Mädchen kennengelernt, das ihm gefiel, und hatte sie zum Essen einladen wollen. Er hatte also ein Huhn gezeichnet und gedacht, er würde es gebraten bekommen. Sie hatte mit dem Kellner geplappert, und der war zurückgekommen mit zwei weichgekochten Eiern. So stellten die Franzosen sich das vor, wenn man eine Dame zum Essen einlädt!

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Jimmie wurde auf einen Lastwagen verladen, und ab ging die Post. Jetzt war aber verdammt zu spüren, dass es in den Krieg ging; es waren zwei fast lückenlose Kolonnen von Pferdewagen und Lastautos unterwegs; die eine mit französischen Soldaten und Material, die nach vorne gingen, die andere mit verwundeten französischen Soldaten, die zurückkamen. Es war wie auf dem Broadway zur Hauptverkehrszeit; bloß, dass hier alles in einer Staubwolke vorbeirollte - man bekam nur kurz mal Fahrer mit angespannten Gesichtern und blutunterlaufenen Augen zu sehen. Ab und zu gab es eine Stauung, und dann kochten die Männer über und fluchten aufeinander in allen möglichen Sprachen; Stabsfahrzeuge, die es besonders eilig hatten, fuhren von der Straße herunter und holperten querfeldein weiter, während Trupps schwarzer Arbeiter aus den französischen Kolonien die Gelegenheit nutzten, um die tiefen Fahrspuren in der Chaussee wieder aufzufüllen. Sie setzten Jimmie in einem Dorf ab, wo seine Kraftfahrereinheit ihr Quartier hatte: in einer langen Wellblechbaracke von der Art, wie man sie bei der Armee über Nacht aufstellt. Hier waren etwa zwei Dutzend Männer mit Reparaturarbeiten beschäftigt, und Jimmie hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf, sondern zog die Jacke aus und fasste mit zu. Es gab alle Hände voll zu tun, wie er sah; die Maschinen kamen an, ganze Wagenladungen manchmal, mit allem, was er an Schäden je gesehen hatte, und mit manchen Schäden, von denen man sich in Kummes Fahrradladen nichts hatte träumen lassen - die Reifen von Schrapnellsplittern zerfetzt, die Rahmen von Explosionen verbogen und dazu noch hässliche Blutflecken, um das Bild zu vervollständigen.
Es war eine der vielen Stellen, wo man amerikanische Einheiten eingesetzt hatte, um die angeschlagenen französischen Linien zuzustopfen. In der Nähe lag ein Reservebataillon, und außerhalb des Dorfes war ein Arbeitskommando dabei, Zelte für ein Lazarett aufzustellen. Etwa fünfzig Kilometer weiter vorn war die Front, und man hörte hin und wieder die Geschütze, ein leises, dumpfes Rollen, unterbrochen von den Hammerschlägen dicker Brocken. Hier in diesem fürchterlichen Inferno wurden Stunde um Stunde Millionen von Dollar in die Luft gejagt; eine Riesenfleischmaschine, die die Menschen zermalmte und seit fast vier Jahren weder Tag noch Nacht stillgestanden hatte. Mit diesem Geschützdonner in den Ohren konnte man ein leidenschaftlicher Pazifist sein oder auch ein leidenschaftlicher Militarist, aber man konnte dem Krieg gegenüber nicht gleichgültig bleiben, konnte nicht geteilter Meinung über ihn sein. Und doch - Jimmie Higgins war geteilter Meinung! Er wollte die Hunnen zurückschlagen, die diese ganze entsetzliche Schweinerei angerichtet hatten; er wollte aber auch die Profitmacher schlagen, die in der Heimat Schweinereien anrichteten. Jimmie war gerade in einem kritischen Moment zur Armee gestoßen, als keine amerikanischen schweren Geschütze da waren und die Zusagen für Maschinengewehre und Flugzeuge nicht eingehalten worden waren. In den Zeitungen zu Hause herrschte helle Aufregung, und in der Armee wurde nicht wenig gemurrt. Es wäre Schiebung und Politik, sagten die Männer, und diesen Gedanken griff Jimmie bereitwillig auf. Er erläuterte ihnen, wie die Profitmacher in der Heimat ihre Stellungen ausbauten und sich darauf vorbereiteten, die Soldaten auszubeuten, wenn sie zurückkamen und keine Arbeit hatten. Für diesen Gedankengang waren die Männer sehr aufgeschlossen, und der kleine Maschinenarbeiter freute sich darüber, was für einen grimmigen Ausdruck ihre Gesichter bekamen. Keine Angst, um diese Sache würden sie sich kümmern, und Jimmie machte weiter und erklärte ihnen genau, auf welche Weise sie sich darum kümmern mussten!

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Das kam aber nur hin und wieder vor, wenn der Wind sich gedreht hatte und man die Geschütze nicht hörte. Meistens wurden Jimmies Gedanken unwiderstehlich zur Front gelenkt; rings um ihn herum waren Tausende anderer Männer, alle mit ihren Gedanken an der Front, die Fäuste geballt, die Zähne zusammengebissen, in jeder Faser konzentriert auf die eine Aufgabe, die Bestie in Schach zu halten. Jimmie sah, wie die grauen Krankenwagen hereinkamen und die Verwundeten auf Tragen herausgehoben wurden, die Köpfe bandagiert, die Körper mit Laken zugedeckt, die Gesichter geisterhaft bleich. Er sah die Poilus, frisch aus dem Schützengraben, nach Gott weiß was für einer Dauerlast des Schreckens. Sie kamen angestolpert, gebeugt vom Gewicht ihrer Ausrüstung. Zum ersten mal sah Jimmie sie an einem Tag, an dem es pausenlos regnete und die von den großen Lastwagen zerwühlte Erde sich in knöcheltiefen Schlamm verwandelte; die Franzosen waren von Kopf bis Fuß dreckverkrustet; man sah unter ihren Stahlhelmen nur einen schlammbespritzten Bart, eine Nasenspitze und ein Paar eingesunkene Augen. Nicht weit von der Stelle, wo Jimmie arbeitete, hielten sie an und machten Rast; sie fielen um in die Nässe und schliefen ein in Wasserpfützen, in denen nicht einmal das Vieh hätte schlafen können. Man brauchte nicht Französisch zu können, um zu begreifen, was diese Männer durchgemacht hatten. Großer Gott! Das also ging da vorne vor sich? Jimmie dankte seinem Schicksal, dass er nicht weiter vorn war. Aber dieser Trost eines Feiglings hielt nicht lange vor, denn Jimmie war kein Feigling, er war es nicht gewohnt, andere für sich kämpfen und leiden zu lassen. Er bekam Gewissensbisse. Wenn das der Preis dafür war, die Bestie niederzuringen und die Welt reif zu machen für die Demokratie, warum drückte er sich dann? Warum saß er dann warm und wohlgenährt im Trocknen, während die Arbeiter Frankreichs draußen in den Gräben im Regen lagen? Jimmie machte kehrt und schob Überstunden ohne Extrabezahlung - etwas, wozu der alte Granitch ihn nie im Leben hätte kriegen können und der alte Kumme auch nicht. Drei volle Tage blieb er Militarist und vergaß seine lebenslange Erziehung zur Rebellion. Aber dann bekam er Streit mit einem rotköpfigen nordirischen Hurrapatrioten aus seiner Einheit, der die Ansicht vertrat, jeder Sozialist sei innerlich ein Hochverräter und nach dem Kriege solle man die Armee einsetzen, um mit denen allen Schluss zu machen. In seinem Zorn ging Jimmie weiter, als er eigentlich wollte, und bekam wieder einen „Anpfiff" von seinem vorgesetzten Offizier; darauf loderten ein paar Tage seine proletarischen Gefühle lichterloh, und er wollte die Revolution sofort und auf der Stelle, Hunnen oder keine Hunnen.

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Aber die meiste Zeit wurde Jimmie jetzt vom Herdentrieb beherrscht; er wollte das, was alle die Männer in seiner Umgebung auch wollten - die Bestie fernhalten von diesen schönen französischen Wiesen und malerischen alten Dörfern, von diesen amerikanischen Lazaretten und Erholungs-lagern und den Baracken des Christlichen Vereins junger Männer - ganz zu schweigen von den Motorradreparaturschuppen mit Jimmie Higgins darin! Und das schlimme war, dass die Bestie eben nicht ferngehalten wurde; sie kam näher und näher - ein Sturmangriff nach dem anderen! Jim-mies Dorf lag in der Nähe des Marnetals, und das war der Weg nach Paris; die Bestie wollte nach Paris, sie rechnete fest damit, nach Paris zu kommen!
Das Rollen der Geschütze wurde immer lauter, und die wildesten Gerüchte flogen durch das Land. Der Verkehr auf
den Straßen wurde dichter, kam aber langsamer voran, denn die Deutschen beschossen die Straße weiter vorn mit Artillerie, und es gab häufig Stockungen; eine Riesengranate
hatte nur ein paar Kilometer entfernt einen französischen Artillerietrain getroffen. „Wenn das so bleibt, verlegen sie uns nach hinten", sagte Jimmies Sergeant, und Jimmie fragte sich: Was aber, wenn man sie nicht verlegte? Was aber, wenn man das nun einfach vergaß? Gab es irgendeinen Menschen, dessen spezielle Pflicht es war, darauf zu achten, dass Motorradeinheiten gerade noch rechtzeitig verlegt wurden? Und was, wenn die Deutschen nun durchbrachen und alle Berechnungen über den Haufen warfen? Das war eine ganze Menge mehr, als Jimmie Higgins in dem Moment hatte haben wollen, da er in Leesville, USA, den Fuß in die Meldestelle gesetzt hatte! In Jimmies Einheit wurden an alle Gasmasken ausgegeben, und in der Baracke wurde eine Alarmglocke angebracht, und jeder musste üben, die Gasmaske so rasch wie möglich aufzusetzen. Jimmie hatte so viel Angst, dass er ernstlich daran dachte, davonzulaufen; was er aber wirklich tat - so verdreht ist die menschliche Natur -, war, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen! Sein kommandierender Offizier kam in die Baracke und fragte: „Leute, kann einer von euch fahren?" Man stelle sich einmal vor, dass jemand, der Motorräder reparierte, vielleicht zugegeben hätte, er könne nicht fahren! „Ich!" sagte Jimmie. „Ich!" sagte jeder zweite, der da arbeitete.
„Um was geht's?" fragte Jimmie - vorwitzig und unternehmungslustig wie stets.
„Die Franzosen verlangen ein halbes Dutzend Mann jetzt
sofort. Ihnen sind mehrere Kraftfahreinheiten aufgerieben
oder gefangengenommen worden."
„Verdammt!" sagte Jimmie. „Ich geh mit!"
„Ich auch!" sagte ein zweiter.
„Ich auch!"
„Ich auch!"
„Gut", sagte der Offizier und zählte sie ab: „Sie und Sie und Sie. Und Sie, Cullen, übernehmen das Kommando. Melden Sie sich beim französischen Hauptquartier in Chatty Terry. Sie wissen, wo das ist!"
„Aber klar!" sagte Cullen. „War schon da." Jimmie war noch nie in „Chatty Terry" gewesen, aber er wusste, dass es irgendwo auf der anderen Seite der Marne lag. Der Offizier gab ihm eine Karte und zeigte ihm, durch welche Dörfer er
kommen müsste. Jimmie und seine Kameraden sagten die Namen dieser Dörfer auf, und zwar in vernünftiger Sprache, ohne Zugeständnisse an die albernen Vorstellungen der Einheimischen. Weipers, Riems, Verduhn, Devil-Wut, Armentieres, Sang Miel - von diesen allen hatte Jimmie schon gehört; auch von einem Ort, wo die Amerikaner vor einer Woche ihren ersten ruhmreichen Sieg erfochten hatten und den sie manchmal Cantinny, manchmal Tincanny nannten. Und jetzt machte sich Jimmie auf den Weg nach „Chatty Terry", unter dem Kommando eines rotköpfigen Iren, der vor ein paar Tagen die Ansicht vertreten hatte, dass alle Sozialisten Verräter seien und erschossen werden sollten! Der Offizier verteilte Marschbefehle an sie - er gab jedem einen, für den Fall, dass sie getrennt wurden -, und dann gingen sie los, dorthin, wo die neuen Maschinen aufgereiht standen. Unterwegs erlebte Jimmie einen Augenblick absoluter Panik. Auf was hatte er sich da eingelassen, Idiot, der er war? Ging dorthin, wo die Granaten einschlugen und Kraftfahreinheiten wegputzten! Und noch dazu Granaten, die meistens voll Giftgas waren! Von all den Dummheiten, die er im Leben fertiggekriegt hatte, setzte diese doch allem die Krone auf! Seine Knie begannen zu zittern, und ihm wurde ganz schlecht! Doch dann blickte er auf und sah Pat Cullens drohende blaue Augen; Jimmie erwiderte den funkelnden Blick, und der Kampfgeist flammte in ihm auf, er packte den Lenker eines Motorrads und schob es zur Tür. Sollte ihn irgend so ein irischer Mick dabei erwischen, dass er Schiss hatte, und ihn vor allen zusammenstauchen und die sozialistische Bewegung mit Dreck bewerfen? Wohl kaum!

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