Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
http://nemesis.marxists.org

12. Kapitel: Jimmie Higgins begegnet einem Patrioten

1

Das Land war anscheinend versessen auf den Krieg, und Jimmie Higgins war versessen auf ein Märtyrerschicksal. Wenn der große Irrsinn wirklich von Amerika Besitz ergreifen sollte, dann jedenfalls nicht, ohne dass er sein Möglichstes getan hatte, um es zu verhindern. Er würde sich dem Streitwagen in den Weg stellen, er würde sich unter die Hufe der Kavallerie werfen und noch mit seiner Leiche die Straße versperren. Für welches tatkräftige Programm es nur ein Hindernis gab - oder genauer gesagt vier Hindernisse, ein großes und drei kleine, wobei das große Elisa Betuser war.
Die arme Lizzie hatte natürlich keine reale Vorstellung von den Weltmächten, gegen die ihr Mann stritt; für Lizzie bestand das Leben aus drei Babies, die zu füttern und zu beschützen ihre Pflicht war, und einem Ehemann, der ihr Werkzeug war, diese Pflicht zu erfüllen. Die Welt außer-
halb dieser Familie war für sie ein nebelhafter, schattenhafter Ort voll nebelhafter, schattenhafter Schrecken. Irgendwo im Himmel droben gab es eine Heilige Jungfrau, die helfen würde, wenn man sie in gehöriger Weise anrief, aber Lizzie wurde die Möglichkeit, diese Jungfrau anzurufen, durch den Umstand erschwert, dass ihr Ehemann die Heilige verachtete und imstande war, beleidigende Zweifel an ihrer Tugend zu äußern.
Jetzt waren die schattenhaften Schrecken der großen Welt draußen nach eigenen Gesetzen in Bewegung geraten, und da hatte es sich ihr armer Wicht von einem Ehemann in den Kopf gesetzt, ihnen in den Weg zu treten. Er war seine Arbeit losgeworden, schon das vierte oder fünfte Mal, seit Lizzie ihn kannte, und er war in unmittelbarer Gefahr, ins Gefängnis zu wandern oder geteert und gefedert zu werden. Je mehr der Streit sich erhitzte und die Gefahr wuchs, desto mehr geriet Lizzie in einen Zustand, der die Diagnose „chronische Bereitschaft zur Hysterie" verdient hätte. Ihre Augen waren rot von heimlichem Weinen, und beim geringsten Anlass brach sie in Ströme von Tränen aus und warf sich ihrem Ehemann in die Arme. Dies setzte Jimmie zwei in Gang und die Babies, die sich stets nach ihm richteten. Und Jimmie eins stand verwirrt und hilflos da. Hier zeigte sich eine neue Seite des Heldenlebens, von der nichts in den Büchern stand. Er grübelte - ob es wohl in der Geschichte schon mal einen verheirateten Märtyrer gegeben hatte? Wenn ja, was hatte der Märtyrer dann mit seiner Familie angefangen?
Jimmie bemühte sich, dies seiner unglücklichen Ehefrau zu erklären. Es gehe hier darum, hundert Millionen Menschen vor den Gräueln des Krieges zu bewahren; was zähle im Vergleich dazu ein einzelner Mann? Aber leider zog dieses Argument überhaupt nicht, denn die schlichte Wahrheit war, dass für Lizzie dieser eine Mann mehr zählte als die anderen neunundneunzig Millionen neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig zusammen. Und überhaupt, was konnte dieser eine Mann schon ausrichten! Ein einzelner, armer, unbedeutender, hilfloser Arbeiter ohne Job ...
„Aber es ist doch die Organisation!" rief er. „Es sind wir alle zusammen - es ist die Partei! Wir haben versprochen zusammenzuhalten, und darum müssen wir das auch tun!
Wenn ich aussteige, bin ich ein Feigling, ein Verräter! Wir
Wissen die Arbeiter aufklären ...!"
„Aber das könnt ihr nicht!" rief Lizzie.
„Aber wir tun es ja schon! Komm mit und überzeuge
dich!"
„Und was können die Arbeiter tun?" Was natürlich Jimmie zu einer Propagandarede anregte. Was die Arbeiter tun konnten? Man fragte besser, was sie nicht tun konnten! Wie konnte irgendein Krieg ausgetragen werden ohne die Arbeiter? Wenn sie nur zusammenstehen würden, wenn sie sich erheben würden gegen ihre kapitalistischen Unterdrücker...
„Aber das tun sie ja doch nicht!" schluchzte die Frau. „Sie sind dir zu überhaupt nichts nütze! Du gehst hin und wirst auf die Straße gesetzt - oder man schlägt dir das Gesicht kaputt wie dem armen Bill Murray ..." „Und ist das vielleicht schlimmer als in den Krieg ziehen?"
„Du musst ja nicht in den Krieg!"
„Wer sagt das? Ich muss mit, wenn das Land in den Krieg zieht. Die holen mich ab und zwingen mich! Wenn ich nicht will, dann erschießen sie mich! Machen sie das etwa nicht schon so in England und in Frankreich und in Russland und in all diesen Ländern?"
„Aber werden sie das hier denn auch so machen?" rief Lizzie fassungslos.
„Aber sicher! Genau das haben sie vor - das ist es ja, was wir nicht zulassen wollen und wogegen wir kämpfen! Du weißt nicht, was hier im Lande vor sich geht - hör mal zu!"
Und Jimmie holte die letzte Nummer des „Worker" hervor, in der Kongressreden mit der Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht zitiert waren und erklärt wurde, eine derartige Maßnahme sei ein wesentlicher Schritt zum Kriege. „Siehst du nicht, auf was sie aus sind? Und wenn wir das verhindern wollen, müssen wir jetzt handeln, ehe es zu spät ist. Kann ich nicht ebenso gut hier in Leesville in den Knast gehen wie mich per Schiff nach Europa schaffen lassen, damit ich erschossen werde - oder vielleicht schon unterwegs von einem U-Boot versenkt?"
Und so trat ein neuer Schrecken in Lizzies Leben - der ihr künftig manche Nacht den Schlaf raubte, der zum ersten Mal in ihr Mutterherz den Gedanken eingrub, dass der Weltkrieg sie doch etwas angehen könnte. „Was würde dann aber aus den Kindern werden?" jammerte sie, und Jimmie antwortete: Wer kümmerte sich schon darum, was aus den Kindern der Arbeiterklasse wurde, unter diesem teuflischen kapitalistischen System?

2

So hatte Jimmie für eine Weile seinen Willen - er ging nach Leesville und half Literatur verteilen und hielt die Lampe bei den Straßenversammlungen, wo manche Leute sie auspfiffen und andere sie in Schutz nahmen und die Polizei einschreiten musste, um einen Aufruhr zu verhindern. Eben zu dieser Zeit versuchte eine militante Mehrheit im Senat eine Kriegserklärung gegen Deutschland durchzupeitschen, und eine Handvoll Pazifisten blockierte in den letzten Stunden der Sitzungsperiode den Weg, was eine mehrwöchige Verzögerung zur Folge hatte. Wie man diese Aktion ansah, hing ganz vom eigenen Standpunkt ab. Der Präsident brandmarkte die Pazifisten als „unbotmäßige Männer", und die Zeitungen der Wall Street hätten sie am liebsten lynchen lassen; wogegen Jimmie und seine Genossen in der Ortsgruppe sie als Helden und Freunde der Menschheit feierten. Die Sozialisten machten geltend, der Präsident sei vor nur vier Monaten mit den Stimmen der Pazifisten und einem pazifistischen Programm wiedergewählt worden und jetzt stürze er das Land in den Krieg und beschimpfe diejenigen, die zu seinen früheren Überzeugungen ständen!
Dazu kam noch ein anderes Ereignis, das Jimmie vor Aufregung fast außer sich geraten ließ. Drei Tage lang waren alle Nachrichten aus Petrograd wie abgeschnitten, und dann kam eine Meldung durch, die die Welt elektrisierte - der Zar war gestürzt, das russische Volk war frei! Jimmie traute kaum seinen Augen; er fuhr drei Tage darauf in die Stadt zur Ortsgruppenversammlung und traf die Genossen beim Feiern an, als ob sie die Welt erobert hätten. Hier war das eingetreten, was sie in all diesen mühseligen Jahren tagein, tagaus gepredigt hatten, gepredigt unter Spott, Hass und Verfolgung; hier war die soziale Revolution und klopfte an die Tore der Welt! Sie würde übergreifen auf Österreich und Deutschland, auf Italien, Frankreich, England - und auch auf Leesville! Überall würde das Volk zu seinem Recht kommen, und Krieg und Tyrannei würden verschwinden wie ein verhasster Alptraum! Redner um Redner stand auf, diese glorreiche Zukunft zu verkünden; sie sangen die Marseillaise und die Internationale, und die anwesenden Russen fielen sich um den Hals, und die Tränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Es wurde der Beschluss gefasst, dass sie sofort eine Massenkundgebung durchführen müssten, um dieses epochemachende Ereignis der Bevölkerung der Stadt zu erläutern; außerdem mussten sie fester denn je zu ihrem Programm des Widerstands gegen den Krieg stehen. Was sollte es denn jetzt, da die soziale Revolution an die Tore der Welt klopfte, noch für einen Sinn haben, wenn Amerika sich dem Militarismus zuwandte?
So ging Jimmie mit doppeltem Eifer an die Arbeit und widmete seine ganze Zeit der Agitation. Er hatte offensichtlich keine Chance, einen Job zu bekommen, und gab für den Augenblick die Suche danach auf. Der Besitzer des Ladens an der Kreuzung, der ihn wegen seiner Ansichten nicht leiden konnte, wollte ihm nichts mehr anschreiben, und so war die arme Lizzie zu etwas gezwungen, was sie geschworen hatte, nie zu tun - sie musste den Strumpf von ihrem rechten Bein ziehen, die Bandage von ihrem Knöchel abtrennen und einen der zehn kostbaren Zwanzigdollarscheine herausziehen. Deren leuchtendes Gelb war inzwischen ziemlich verblasst, und sie waren auch alles andere als glatt und neu; doch der Ladenbesitzer nahm daran keinen Anstoß - er gab das Wechselgeld heraus und benutzte die Gelegenheit, um ihr eine freundliche Warnung bezüglich der unvorsichtigen Reden ihres Mannes zukommen zu lassen. Er würde Ärger kriegen, und seine Frau täte gut daran, ihm den Mund zu stopfen, bevor es zu spät sei. So hörte die arme Lizzie. auf, eine Pazifistin zu sein, und ging nach Hause, um an der Brust ihres Mannes wieder einmal hysterisch zu werden.

3

Da sie es nicht schaffte, ihn zurückzuhalten, gab sie durch den Briefträger dem alten Peter Drew Nachricht, er möge doch kommen und helfen. Der alte Farmer spannte seine knochige Mähre an und fuhr sie besuchen. Er redete ein paar Stunden lang über Amerika, während Jimmie über Russland redete. Sollte Amerika vor dem Kaiser kuschen? Jimmie antwortete, dass sie den Kaiser auf die gleiche Weise stürzen würden, wie sie den Zaren gestürzt hätten. Nachdem einmal die Arbeiter Russlands den Weg gewiesen hätten, würden nie mehr die Arbeiter irgendeiner Nation sich unter das Joch der Sklaverei beugen. Ja, selbst in den sogenannten Republiken, wie zum Beispiel Frankreich, das von Bankiers regiert wurde, und Amerika, das von der Wall Street regiert wurde - selbst hier würden die Arbeiter aus dem Aufstand ihre Lehren ziehen!
„Aber in Amerika können die Leute doch alles kriegen, was sie haben wollen!" rief der bestürzte alte Mann. „Sie brauchen doch nur entsprechend zu wählen ..." „Wählen?" knurrte Jimmie wütend. „Und sich dann von irgendeiner korrupten politischen Bande die Stimmen wegnehmen lassen wie hier in Leesville? Erzählen Sie mir nichts über Wahlen - man hat mir gesagt, weil ich in einen neuen Bezirk gezogen bin, habe ich mein Stimmrecht verloren - ich habe es verloren, weil ich meine Arbeit verloren habe! Also hat in Wirklichkeit der alte Granitch das Sagen, ob ich wählen darf oder nicht! Das gleiche gilt für zwei Drittel der Leute in den Empire Shops - die Hälfte der ungelernten Arbeiter im Land hat kein Stimmrecht, weil sie kein Zuhause, weil sie überhaupt nichts hat." „Aber", meinte der alte Soldat, „wie soll denn eure neue Arbeiterregierung funktionieren, wenn nicht mit Wahlen?" „Natürlich mit Wahlen", antwortete Jimmie. „Aber zuerst setzen wir die Kapitalisten an die Luft; sie werden kein Geld mehr haben, sich einen politischen Apparat zu kaufen; sie werden keine Zeitungen mehr besitzen, um Lügen über uns zu drucken. Sehen Sie sich nur mal diesen Leesviller ,Herald' an - sie drucken einfach glatte, gemeine Lügen - die Wahrheit können wir an die Menschen gar nicht herantragen.“
Und so ging es weiter. Es war sinnlos, dass der alte Mann für die „Heimat" eintrat; für Jimmie hatte sich die „Heimat" verloren gegeben, hatte sich unterkriegen lassen, hatte sich von den Kapitalisten, den „Plutos", einstecken lassen. Jimmies Loyalitätsbewusstsein gehörte nicht seiner Heimat, sondern seiner Klasse, die ausgebeutet worden war, gehetzt, gejagt von Pontius zu Pilatus. In früheren Zeiten hatte sich die Regierung von den Firmen benutzen lassen; daher hatte es jetzt keinen Zweck, wenn der Präsident für Gerechtigkeit und Demokratie eintrat und dabei die schönen Worte des Idealismus benutzte. Jimmie glaubte nicht, dass er es ernst meinte, und jedenfalls würde die Wall Street schon dafür sorgen, dass aus seinen Versprechungen nichts wurde. Die „Plutos" würden seine Worte nehmen und drehen, bis sie den Sinn hatten, der ihnen genehm war, und inzwischen würden sie weiter ihre Beschimpfungen über Jimmie Higgins ausgießen, ihm denselben alten Sand in die Augen streuen, ihn blind machen mit demselben alten Hass. Darum gab es keine Möglichkeit für einen alten Soldaten und Patrioten, den Panzer von Jimmies vorgefassten Meinungen zu durchstoßen.

4

Am nächsten Tag sollte die große Massenkundgebung zu Ehren der russischen Revolution stattfinden, und war es denn zu glauben, Lizzie hoffte, sie könnte Jimmie überreden, zu Hause zu bleiben; sie hatte Mr. Drew aufgeboten, damit er ihr beim Überreden half! Die arme Lizzie malte sich aus, wie jeder einzelne im Saal ins Gefängnis abtransportiert wurde, wie Jimmie aufsprang und etwas schrie, worauf die Polizei über ihn herfiel und ihm mit ihren Knüppeln den Schädel einschlug. Vergeblich versicherte er, er hätte nichts Abenteuerlicheres vor, als Literatur zu verkaufen und den Platzanweiser zu spielen. Sie schloß ihn heftig in die Arme, weinte Tränenströme und erklärte, als er sich immer noch nicht erweichen ließ, sie würde mitgehen. Sie wollte Mrs. Drew zu überreden versuchen, an diesem einen Abend einmal nach den Kleinen zu sehen. Der alte Peter Drew antwortete, er hätte selber Lust, zu der
Versammlung zu gehen. Wie wäre es denn, wenn er Lizzie und die Kleinen abholen käme, die Kinder bei sich zu Hause absetzte und dann mit Lizzie zu der Versammlung fuhr? Sie konnten sich ja mit Jimmie im Opernhaus treffen, wo er den ganzen Tag mit dem Ausschmücken zu tun hatte. Nach der Kundgebung konnten sie dann alle zusammen nach Hause fahren. „Fein!" sagte Jimmie, der schon davon träumte, wie das revolutionäre Fieber den alten Soldaten erfasste.
Aber leider lief die Sache nicht so. Zu Jimmies Bestürzung erschien der alte Mann in der Oper in einer verschossenen blauen Uniform, die von oben bis unten voller Messingknöpfe war! Natürlich rissen alle die Augen auf, und das um so mehr, als sie diese militärische Persönlichkeit an der Seite des Genossen Higgins sahen. Der alte Knabe musterte den Schwarm von Menschen, darunter viele Männer mit roten Abzeichen und die Frauen mit roten Bändern oder Schärpen; er musterte den Saalschmuck - die riesige Fahne und die langen roten Wimpel, das Banner des Karl-Marx-Vereins und das Banner der Ypsels, das heißt des Jungsozialistenverbandes von Leesville, und das Banner der Maschinenarbeitergewerkschaft, Ortsgruppe 4717, und der Zimmermannsgewerkschaft, Bezirk 529, und des Arbeiterkonsumvereins; Er drehte sich zu Jimmie um und fragte: „Wo ist die amerikanische Fahne?"
Der Liederkranz sang die Marseillaise, und nachdem die Zuhörer applaudiert, rote Tücher geschwenkt und sich heiser geschrien hatten, hielt der Vorsitzende, Genosse Gerrity, eine kleine Ansprache. Seit Jahren seien es alle Sozialisten gewohnt, die Zustände in ihrem Heimatland mit einem bildlichen Vergleich zu beschreiben, den sie nun nicht länger würden anwenden können, denn Russland sei frei, und Amerika würde Russlands Beispiel folgen, wenn es den Verstand dazu hätte. Er stellte den Genossen Pawel Michailowitsch vor, der eigens aus dem fernen New York hergekommen sei, um ihnen die Bedeutung des größten Ereignisses der Geschichte klarzumachen. Genosse Pawel, ein schlanker, schmächtiger, gelehrtenhaft aussehender Mann mit schwarzem Bart und schwarzgeränderter Brille, sagte ein paar Worte auf russisch und hielt dann eine einstündige Rede in gebrochenem Englisch. Darin erklärte er, wie die Russen sich den Weg in die Freiheit erkämpft hätten und
diese Freiheit jetzt nutzen würden, um auch das übrige Proletariat zu befreien. Und dann kam Genosse Schultze von der Teppichwebergewerkschaft und versicherte ihnen, es sei jetzt nicht mehr nötige gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, denn den deutschen Arbeitern sei jetzt der Weg in die Freiheit gezeigt worden, und sie würden sehr bald nachfolgen. Er, Schultze, wisse das, weil sein Bruder Redakteur bei einer sozialistischen Zeitung in Leipzig sei; er habe vertrauliche Nachrichten darüber, was sich im Vaterland tue.
Dann wurde Genosse Smith vorgestellt, der Redakteur des „Worker", und damit begann der Krach. Der junge Redakteur hielt sich nicht lange mit Vorreden auf; er sei ein internationaler Revolutionär, und ihn würde keine kapitalistische Regierung für ihre blutigen Schurkenstreiche einziehen. Er würde sich niemals fortschicken lassen, seine Arbeitergenossen umzubringen, ganz gleich, ob in Deutschland, Österreich, Bulgarien oder der Türkei. Das würden die Herren der Wall Street noch erleben: Wenn sie sich vorgenommen hätten, freie Amerikaner zur Schlachtbank zu treiben, dann hätten sie den größten Fehler ihres raffgierigen Lebens gemacht. „Versteht mich recht", erklärte Genosse Smith - obwohl es bisher eigentlich nichts gab, worin er hätte missverstanden werden können -, „versteht mich recht, ich bin kein Pazifist, ich bin nicht gegen den Krieg an sich - es geht nur darum, dass ich entschlossen bin, mir auszusuchen, in welchem Krieg ich kämpfe. Wenn sie mir ein Gewehr in die Hand drücken wollen, werde ich mich nicht weigern, es zu nehmen - nicht die Spur, denn ich und alle anderen Lohnsklaven haben uns schon lange Gewehre gewünscht! Aber ich werde nach eigenem Ermessen entscheiden, auf wen ich dieses Gewehr richte - ob auf die Feinde vor mir oder auf die Feinde hinter mir - ob auf meine Brüder, die Arbeiter in Deutschland, oder auf meine Unterdrücker, die Ausbeuter von der Wall Street, ihre Zeitungslakaien und ihre militärischen Leuteschinder!"
Die Sätze dieser Rede fielen wie Hammerschläge und weckten einen Beifallssturm bei den Zuhörern. Doch plötzlich merkte die jubelnde Menge, dass irgendetwas Ungewöhnliches im Gange war. Ein betagter weißbärtiger Mann in verschossener blauer Uniform hatte sich von seinem Platz mitten im Saal erhoben und schrie und gestikulierte mit der Armen. Die neben ihm Sitzenden versuchten ihn wieder auf seinen Platz herunterzuziehen, aber er wollte sich nicht unterkriegen lassen, er schrie weiter, und ein Teil der Zuhörer wurde aus Neugier still. „Pfui! Pfui!" hörten sie ihn rufen. „Schämt ihr euch nicht!" Und er wies mit zitterndem Finger auf den Redner und erklärte: „Was Sie da reden, ist Hochverrat, junger Mann!" „Hinsetzen!" brüllte die Menge. „Maul halten!" Aber der Alte fuhr sie an. „Sind denn in diesem Saal gar keine Amerikaner? Wollt ihr euch diesen schamlosen Verräter anhören ohne jegliche Widerrede?" Man packte ihn an den Rockschößen und drohte ihm mit den Fäusten; auf der anderen Seite des Saals sprang der Wilde Bill auf einen Stuhl und schrie: „Schneidet ihm doch den Hals ab, dem alten Knacker!"
Zwei Polizisten kamen den Mittelgang entlanggelaufen, und der „alte Knacker" wandte sich an sie: „Wozu seid ihr eigentlich da, wenn nicht, um die Fahne und die Ehre Amerikas zu schützen?" Aber die Polizisten verlangten, er solle aufhören, die Versammlung zu stören, und so machte der Alte kehrt und marschierte aus dem Saal. Doch ging er nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen, der Menge mit der Faust zu drohen und mit seiner brüchigen Stimme zu brüllen: „Verräter! Verrräter!"

5

Der arme Jimmie blieb vernichtet auf seinem Platz zurück. Dass ausgerechnet er, der einsatzfreudigste der Arbeiter für den Sozialismus, die Ursache einer so schmachvollen Szene gewesen war - dass gerade er in diese revolutionäre Versammlung einen Mann in der Uniform eines Mörders der Arbeiterklasse eingeschleppt hatte! Er konnte nicht bleiben und den Genossen ins Gesicht sehen; bevor die Reden zu Ende waren, gab er Lizzie einen Stoß, und die beiden standen auf und stahlen sich hinaus, wobei sie allen aus dem Wege gingen, die sie kannten.
Draußen blieben sie ratlos stehen. Sie dachten natürlich,
der Alte wäre ohne sie fortgefahren; sie malten sich den langen Heimweg von der Straßenbahn in Dunkelheit und Schlamm aus - und Lizzie in ihrem einzigen Sonntags-Versammlungs-Ausgeh-Kleid! Doch als sie zu dem Platz kamen, wo Mr. Drew seine Kutsche abgestellt hatte, fanden sie ihn zu ihrem Erstaunen geduldig auf sie warten. Als er sie zögern sah, rief er: „Kommt! Steigt ein!" Sie waren sehr verlegen, gehorchten aber, und die alte Mähre setzte sich heimwärts in Trab.
Lange Zeit fuhren sie schweigend dahin. Schließlich konnte Jimmie es nicht länger aushalten und begann: „Es tut mir so leid, Mr. Drew. Sie verstehen nicht..." Aber der Alte schnitt ihm das Wort ab. „Es hat keinen Sinn, dass Sie und ich versuchen, miteinander zu reden, junger Mann." So fuhren sie den Rest des Weges ohne ein Wort - nur einmal bildete sich Jimmie ein, von Lizzie einen Schluchzer zu hören.
Jimmie nahm es sich wirklich zu Herzen, denn er fühlte für diesen alten Soldaten Hochachtung, sogar Zuneigung. Mr. Drew hatte Eindruck auf ihn gemacht, nicht so sehr durch seine Argumente, die Jimmie als sechzig Jahre hinter der Zeit zurück betrachtete, sondern durch seine Persönlichkeit. Da war mal ein Patriot, der gerade und aufrecht war! Wie schade, dass er nicht imstande war, den revolutionären Standpunkt zu begreifen! Wie schade, dass man ihn hatte erzürnen müssen! Das war auch einer der Schrecken des Krieges, der Freunde entzweite und sie dazu brachte, dass sie sich stritten und hassten.
Zumindest schien das Jimmie an jenem Abend so, während er noch voll war von den Reden, die er gehört hatte. Aber zu anderen Zeiten kamen ihm Zweifel - denn natürlich kann ein Mann nicht einer ganzen Gemeinschaft Trotz bieten und den Kampf ansagen, ohne sich manchmal fragen zu müssen, ob nicht vielleicht auch die Gemeinschaft einiges Recht auf ihrer Seite habe. Jimmie hörte von Untaten, die die Deutschen im Krieg begangen hatten; sie waren so gemein im Kampf, sie gaben sich förmlich Mühe, äußerst empörende und sinnlose, fast wahnsinnige Dinge zu tun! Sie machten es jedem, der sie verteidigen wollte, unnötig schwer, in ihnen überhaupt noch Menschen zu sehen. Jimmie behauptete, er habe nicht die Absicht, den Deutschen zu helfen; er war bitterböse über die Anschuldigungen der Leesviller Zeitungen, dass er ein deutscher Agent und ein Verräter sei; aber er kam nicht um die unbequeme Tatsache herum, dass das, was er tat, tatsächlich die Tendenz hatte, die deutschen Interessen zu fördern, zumindest zeitweilig. Wenn ihm das von irgendeinem Patrioten in einer Kontroverse vorgehalten wurde, war seine Antwort, dass er von den deutschen Sozialisten fordere, sie sollten gegen ihre militärische Führung revoltieren; aber dann begann der Patriot die deutschen Sozialisten zu kritisieren und erklärte, dass sie viel bessere Deutsche als Sozialisten wären, und führte Äußerungen und Handlungen an, die das beweisen sollten. Ein deutscher Sozialist war im Reichstag aufgestanden und hatte erklärt, dass die Deutschen auf zwei Arten kämpften - ihre Armeen besiegten den Feind auf dem Schlachtfeld, wogegen ihre Sozialisten die Moral der Arbeiter in den feindlichen Ländern untergruben. Als man Jimmie diese Stelle vorlas, antwortete er, das sei eine Lüge, eine solche Rede hätte ein Sozialist niemals gehalten. Natürlich hatte er keine Möglichkeit, zu beweisen, dass es eine Lüge war; er wusste es einfach! Aber als er dann fortging und darüber nachdachte, begann er zu zweifeln; wie, wenn es doch wahr wäre? Wenn nun die deutschen Arbeiter schon in der Kindheit so gedrillt und geschult wurden, dass selbst diejenigen, die sich Revolutionäre nannten, im Innern Patrioten waren! Jimmie begann dies und jenes zusammenzufügen - was er so gehört oder gelesen hatte. Diese deutschen Sozialisten zeigten ja wirklich keine allzu große Kühnheit beim Kampf gegen ihre Regierung! Die Antwort hieß, dass sie gegen ihre Regierung nicht opponieren könnten; weil sie dann ins Gefängnis gesteckt wurden. Aber das war eine ziemlich dürftige Antwort; es war ihre Pflicht, ins Gefängnis zu gehen - wenn sie das nicht tun wollten, wie konnten sie dann von Jimmie Higgins erwarten, dass er hier in Amerika ins Gefängnis ging? Jimmie unterbreitete dieses Problem dem Genossen Meissner, der darauf antwortete, wenn Jimmie als erster ginge, dann würden zweifellos die deutschen Genossen nachfolgen. Aber Jimmie sah nicht ein, warum er der erste sein sollte, und als sie nach der Erklärung dafür suchten, stellte sich heraus, dass Jimmie im Grunde seines Herzens allmählich glaubte, Deutschland sei mehr schuld am Krieg als Amerika. Und nicht nur, dass Genosse Meissner das nicht zugeben wollte, nein, er regte sich sogar noch auf und wurde heftig und suchte Jimmie zu überzeugen, dass die anderen kapitalistischen Regierungen in der Welt die Ursache für den Krieg seien - Deutschland verteidige sich nur gegen sie! So weit war es also, sie stritten sich, genau wie zwei x-beliebige Nicht-Revolutionäre! Sie wiederholten die gleichen Argumente, die schon in der Ortsgruppe zwischen dem Rechtsanwalt Norwood und dem Brauer Schneider gewechselt worden waren! Nur, dass diesmal Jimmie Norwoods Standpunkt vertrat! Jimmie musste sich mit der betrüblichen Tatsache abfinden, dass sein treuer Freund Meissner Deutscher war - und daher auf irgendeine schwer fassbare Weise anders als er, außerstande, die Dinge so zu sehen wie er!

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur