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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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20. Kapitel:  Jimmie Higgins geht baden

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Man blieb nicht sehr lange in dem Mobilmachungslager, denn die Ankunft des Zuges war abgestimmt mit der Abfahrt des Transportschiffs. Man bekam dort eine Mahlzeit, schlief dort manchmal eine Nacht, und dann marschierte man zum Hafen. Es war auch nicht viel mit der traditionellen „süßen Trauer" bei der Abreise dieser großen Flotten; weinende Mütter und Schwestern waren nicht eingeladen worden, und die Damen in der Kantine hatten Kaffee und Brötchen, Zigaretten und Schokolade schon an so viele Zehntausende ausgeteilt, dass sie an Tränen nicht mehr dachten. Es war, als ob eine Nation auswanderte; was sich jetzt schon von Amerika auf der anderen Seite befand, war so viel, dass niemand Heimweh zu bekommen brauchte.
Jimmies Einschiffung fand bei Nacht statt; auf den langen, überdachten Piers, die von Bogenlampen erleuchtet waren, setzten die Soldaten ihr Gepäck ab und standen herum, kauten, sangen Lieder und hielten einer des andern Kampfgeist wach. Schubweise gingen sie an Bord, und dann stahl sich das Schiff ohne Licht und Geräusch das lange Hafenfahrwasser entlang und hinaus auf die See. Man konnte nie wissen, zu welcher Stunde die feindlichen U-Boote einen Überfall auf die amerikanische Seite versuchen würden; daher war die Einfahrt zum Hafen vermint und blockiert, und nur eine enge Passage wurde geöffnet, wenn die Schiffe ausliefen.
Als es Morgen wurde, befand sich der Konvoi schon draußen auf See, inmitten prächtiger grüner Wogen, und Jimmie Higgins lag in seiner engen Koje und verfluchte sein Geschick, das ihn dort hingelockt hatte, verfluchte das Ungeheuer Militarismus, in dessen Klauen er gefangen war. Der Heeressanitätsdienst hatte zwar ein Serum gegen Pocken und ein weiteres gegen Typhus, aber vorerst noch nichts gegen die Seekrankheit; deshalb wünschte sich Jimmie die ersten vier Tage der Reise, dass ein U-Boot kommen und seinem Elend ein für allemal ein Ende machen möchte. Schließlich kam er jedoch an Deck, ein ganz klein gewordener sozialistischer Agitator, der weiter nichts wollte als ein Plätzchen im Sonnenschein - vorzugsweise eins, wo er die Dünung des Atlantiks nicht sehen konnte; beim bloßen Gedanken an sie drehte sich ihm schon der Magen um. Aber allmählich fand er seine Füße wieder, aß mit Ausdauer, blickte hinaus über das Wasser und sah die anderen Schiffe des Geleitzugs, sonderbar bemalt mit vielfarbigen Flecken; sie fuhren in Form eines riesigen V, zwei Kreuzer vornweg und ein weiterer zu jeder Seite und noch einer als Nachhut. Tag und Nacht hielten die Männer im Ausguck Wache, waren die Signalgasten und die Männer am Heliographen bei der Arbeit und summte der Funk seine Warnungen über die Bewegungen des Feindes unter Wasser. Bisher hatten die U-Boote noch keinen Transporter erwischt, doch verschiedene Versuche hatten sie schon unternommen, und jeder wusste, dass sie es wieder versuchen würden. Zweimal
am Tag drang von einem Ende des Schiffes bis zum anderen das Läuten der Glocke, und dann eilten die Mannschaften zum Bootsmanöver; jeder Passagier hatte seine Nummer, und wenn er nicht krank in seiner Koje lag, hatte er mit umgeschnallter Schwimmweste den ihm vorgeschriebenen Platz einzunehmen.
Die Passagiere spielten Karten, lasen, sangen und alberten auf den Decks herum. Auf dem Oberdeck, zu dem man Jimmie nicht heraufbat, waren die Offiziere untergebracht und auch eine Anzahl Frauen und Mädchen, die zu den Lazarett- und Feldlazaretteinheiten gehörten. Die Soldaten nannten sie „Karbolmäuschen", und man sah, dass es tüchtige „Karbolmäuschen" waren, ernsthaft und arbeitseifrig, und in den Uniformen mit den vielen Taschen wirkten sie sehr kompetent und imponierend. Unter ihnen befanden sich Suffragetten, die dem Spott des anderen Geschlechts damit begegneten, dass sie bewiesen, dass die Welt sie im Krieg wie im Frieden brauchte; dass sie ihnen selbst noch an Bord des überfülltesten Transportschiffs einen Platz einräumen musste.
Da Jimmie noch nie auf einem Ozeandampfer gewesen war, wusste er nicht, dass er überfüllt war; es störte ihn nicht, dass auf den Decks kaum Platz für einen Spaziergang war. Er beobachtete das Meer und die großen weißen Möwen und die gescheckten Schiffe; er sah der Besatzung bei der Arbeit zu und machte sich mit seinen Mitpassagieren bekannt. Es dauerte nicht lange, und er fand einen Krankenwagenfahrer, der Sozialist war; außerdem ein Mitglied des IWW aus den Holzfällerlagern von Oregon. Sogar die Wobblies hatten offenbar den Kaiser hassen gelernt; eine Gruppe von ihnen befand sich schon in Frankreich, und es wären noch mehr hingegangen, wenn die Regierung sie nicht verärgert hätte, indem sie ihre Führer ins Gefängnis warf. Ein Armeeoffizier mit etwas Grütze im Kopf war in die Fichtenwälder oben im Nordwesten gegangen, hatte an den Patriotismus der Männer appelliert, ihnen anständige Arbeitszeit und anständigen Lohn zugesagt und ihre Gewerkschaften anerkannt; das Ergebnis war, dass sogar der gefürchtete Verband der Industriearbeiter der Welt zahm geworden war und alle Holzfäller sich dafür entschieden hatten mitzuhelfen, „den Kaiser in die Pfanne zu haun"!

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Die Flotte näherte sich der U-Boot-Zone, und es wurde Zeit, dass die Geleitzerstörer eintrafen. Alles spähte nach vorn, und schließlich lief der Ruf über die Decks: „Da sind sie!" Jimmie entdeckte eine Rauchfahne am Horizont und sah, wie sie sich in eine Gruppe rasch dahinfliegender Schiffe verwandelte. Er staunte, wie sie auf diesem weiten, weglosen Meer die Transporter hatten ausfindig machen können; er bewunderte die schlanken Schiffe mit ihren vier niedrigen, schnittigen Schornsteinen. Diese Seeterrier bestanden aus dünnen Stahlmänteln, die Motoren von gewaltiger Kraft beherbergten; sie zogen durch das Wasser, buchstäblich mit der Geschwindigkeit eines Expresszugs, und ließen eine blubbernde weiße Kielwasserspur hinter sich. Wenn man sah, wie sie auf den Wellen von einer Seite zur anderen schaukelten und schwankten, wie sie hin und her geworfen wurden, staunte man, dass in ihnen Menschen leben konnten und nicht zu Tode geschüttelt wurden. Jimmie wurde nicht müde, sie zu beobachten, und sie wurden nicht müde, zwischen den Schiffen des Geleitzugs hin durchzurasen und ihre Rauchmuster zu weben, während die Männer auf ihren Decks Wache hielten, ausspähend nach dem geheimen Feind.
Jedermann an Bord der Transportschiffe war natürlich in Alarmbereitschaft. Jimmie stand insgeheim Todesängste aus, ließ es sich aber nicht anmerken vor diesen frotzelnden Soldatenjungen, die sich über deutsche U-Boote genauso lustig machten wie über „Sauerkraut" und „Brezeln" und „Limburger Käse" und „Wiener", sonst als „hot dogs" bekannt. Sie hofften doch tatsächlich, dachte Jimmie, einem U-Boot zu begegnen; natürlich nicht, um sich versenken zulassen, aber sie hätten doch gar zu gern gesehen, dass ein Torpedo so knapp ein, zwei Zentimeter an ihnen vorbeigeschossen wäre, damit sie ihren Leuten zu Hause etwas Aufregendes hätten berichten können.
Es kamen Stürme und alles verhüllende Regenwände über das Wasser und Nebelschleier, die einem völlig die Sicht nahmen; doch immer noch schossen die kleinen Seeterrier hin und her und wanden ihr schäumendes Kielwasser um die Flotte, bei Tag und Nacht. Wie sie es fertigbrachten, im Dunkeln Zusammenstöße zu vermeiden, war ein Rätsel, das über die Vorstellungskraft hinausging; Jimmie lag wach und malte sich aus, wie eins von ihnen gleich einem scharfen Speer auf die Kojenreihe im Zwischendeck losfuhr, wo er untergebracht war. Doch als der Morgen dämmerte, war seine Koje nicht durchbohrt, und die Wachhunde auf dem Meer woben noch immer ihre Muster. Es war ein Tag mit starkem Wind, mit Wolken und gelegentlich durchbrechenden Sonnenstrahlen, in denen die Wellen weiß und schäumend glitzerten. Jimmie stand mit seinem Freund, dem Wobbly, an der Reling und beobachtete die schaumgekrönten Wellen, als sein Gefährte seine Aufmerksamkeit auf ein Blitzen lenkte, das hartnäckig andauerte und einem ins Auge fiel. Sie zeigten es anderen, und da der strikte Befehl lautete, alles Ungewöhnliche zu melden, schrie jemand es dem nächsten Ausguck zu. Ein Ruf lief durch das Schiff, darauf erfolgte eiliges Flaggenschwenken des Signalgasts, und drei Zerstörer schossen davon wie Hunde auf der Jagd.
Ein paar Männer an Bord hatten Ferngläser bei sich und riefen, es sei etwas Schwarzes, und schließlich, es handle sich um ein Floß mit Menschen darauf. Später im Hafen erhielt Jimmie eine Erklärung für das Blitzen, das ihm ins Auge gefallen war - eine Frau auf dem Floß hatte einen kleinen Taschenspiegel gehabt, mit dem sie die Sonnenstrahlen zum Schiff reflektiert hatte, bis sie schließlich Aufmerksamkeit erregte.
Die Männer mit den Ferngläsern befanden sich zum großen Teil auf dem Oberdeck, und so sah Jimmie nichts von der Bergung; die Transportschiffe wichen natürlich weder vom Kurs ab, noch verlangsamten sie die Fahrt, denn ihre Befehle ließen Nächstenliebe unberücksichtigt. Sogar die kleinen Zerstörer näherten sich dem Floß erst, nachdem sie das Meer im Umkreis von einigen Meilen abgesucht hatten, und auch dann stoppten sie nicht ganz ab, sondern schoben sich vorbei und warfen den Menschen auf dem Floß Taue zu, mit denen sie einen nach dem anderen an Bord hievten. Ein Matrose, der neben Jimmie stand, erklärte ihm dieses Vorgehen, wie sich erwies, hatten die U-Boote die Gewohnheit, in der Nähe von Flößen und Rettungsbooten auf der Lauer zu liegen und über die Schiffe, die zu deren Rettung kamen, herzufallen. Die unglücklichen Schiffbrüchigen waren der Köder - „lebender Köder", erklärte der Matrose; die U-Boote lagen tagelang, manchmal eine ganze Woche lang, auf der Lauer und sahen zu, wie die Menschen in den Rettungsbooten gegen die Wellen kämpften, sahen zu, wie sie vor Kälte, Hunger und Durst starben, sahen zu, wie sie in ihrer Todesangst Signale gaben, wie sie ans Ruder gebundene Stofffetzen flattern ließen, wie sie riefen und um Hilfe flehten. Einer nach dem anderen siechten die Schiffbrüchigen dahin, und wenn der letzte umgekommen war, verschwand auch das U-Boot. „Toter Köder ist wertlos", erklärte der Matrose.

3

Dieser Matrose, Toms mit Namen, kam aus Cornwall; denn der Transporter war britisch und ebenso die begleitenden Kriegsschiffe - Jimmies Schicksal war dem „perfiden Albion" anvertraut worden! Siebenmal war dieser Toms torpediert und siebenmal war er gerettet worden, und er wusste Landratten ganz erstaunliche Geschichten zu erzählen, die ein neues Licht warfen auf eine Sache, über die unsere sozialistische Landratte mehrere Jahre lang debattiert hatte - das Torpedieren von Passagierschiffen mit Frauen und Kindern an Bord. Irgendwie war es für Jimmie ein Unterschied, als er von ganz bestimmten Frauen und Kindern hörte, als er hörte, wie sie ausgesehen und was sie gesagt hatten und wie es zugegangen war, als sie in die offenen Boote mussten, so mitten im Winter, und dann die Boote voll Wasser liefen und die Kinder erst blau wurden und dann weiß und sie schließlich gerettet wurden, mit abgefrorenen Nasen und Ohren und Händen und Füßen. Jimmie war ein Arbeiter und verstand die Sprache der Arbeiter, ihre Ansichten und ihre Lebensauffassung. Und der hier war auch ein Arbeiter; kein bewusster Sozialist, sicher nicht, aber immerhin ein Gewerkschafter, der das Misstrauen der Sozialisten gegen die Kapitalisten und Imperialisten teilte. Was dieser wetterharte Seemann Jimmie erzählte, war Jimmie bereit einzusehen und zu glauben; so lernte er, was er von den korrupten Zwecken dienenden
Zeitungen nicht hatte lernen wollen: dass es einen Verhaltens- und Moralkodex auf See gab, ein Gesetz seemännischen Anstands, das jahrhundertelang nicht gebrochen worden war, außer von Piraten und Barbaren. Die Männer, die zur See fuhren, waren eine Klasse für sich, sie hatten Instinkte, die aus der besonderen Grausamkeit des Elements, dem sie Trotz boten, geboren wurden - Instinkte, die stärker waren als alle Schranken von Nation und Völkerschaft und sogar stärker als die Haßgefühle des Krieges. Doch nun war gegen diese Seegesetze verstoßen worden, und der Hunne, der gegen sie verstoßen hatte, hatte sich damit für alle Menschen außerhalb der Grenzen des Erlaubten gestellt. In den Herzen der Seeleute hatte sich gegen ihn ein Hass von besonderer und einzig dastehender Intensität entwickelt; sie machten Jagd auf ihn, wie man auf Vipern und Klapperschlangen Jagd macht. Die Gewerkschaft, der dieser Toms angehörte, hatte gelobt, dass ihre Mitglieder nicht nur für die Dauer des Krieges, sondern auch in den Jahren danach weder auf einem deutschen Schiff fahren würden noch auf einem Schiff, auf dem ein Deutscher mitfuhr, noch auf einem Schiff, das einen deutschen Hafen ansteuerte oder deutsche Waren geladen hatte. Sie hatte sich geweigert, sozialistische Delegierte zu befördern, die gemeinsam mit deutschen Sozialisten internationale Konferenzen besuchen wollten; sie hatte sich geweigert, ganz egal, für welchen Zweck, Arbeiterführer zu befördern, deren Einstellung gegenüber Deutschland sie für zu lasch hielt. Als Jimmie das erfuhr, kam es, wie man sich denken kann, zu einer Kontroverse, die bis weit in die Nacht hinein dauerte! Eine beachtliche Menge versammelte sich und gab dem kleinen Sozialisten mit Wucht und Schärfe Kontra. Das Ende vom Lied war, dass irgendjemand ihn meldete und der befehlshabende Offizier seiner „Kraftfahreinheit" ihm anständig die Leviten las. Er sei nicht hier, um Friedensbedingungen auszuhandeln, sondern seine Arbeit zu tun und den Mund zu halten. Jimmie, von den Fängen und Klauen des Militarismusungeheuers eingeschüchtert, antwortete: „Jawohl, Sir" und ging weg und brütete den ganzen Tag vor sich hin und wünschte, dass die U-Boote dieses Transportschiff erwischen sollten mit Mann und Maus, ausgenommen zwei Sozialisten und einen Wobbly.

4

Es war am Morgen des Tages, an dem sie im Hafen einlaufen sollten. Jeder trug seine Schwimmweste und stand am vorgeschriebenen Platz, als plötzlich ein gellender Aufschrei ertönte und dann das Geschrei vieler Stimmen von der Seite des Schiffes her; Jimmie stürzte an die Reling und sah eine weiße Kielwasserspur gleich einem schnellen Fisch direkt auf das Schiff zukommen. „Torpedo!" hallte es, und die Menschen standen da wie angewurzelt. Weit hinten, wo die weiße Spur anfing, konnte man ein Periskop sehen, das langsam weiterzog; eine Serie krachender Geräusche folgte, und das Wasser ringsumher spritzte hoch auf, und die kleinen Seeterrier stürzten herbei, feuerten und machten ihre todbringenden Wasserbomben bereit. Doch von alledem bekam Jimmie nur einen flüchtigen Eindruck; ein Donnern ertönte, als ob sich die Hölle vor ihm öffnete; er wurde auf das Deck geschleudert, halb betäubt, und ein großes Stück Reling wirbelte an seinem Kopf vorbei und schlug in die Luxuskabine hinter ihm.
Das ganze Schiff war in Aufruhr; Menschen stürzten hin und her, die Besatzungsmitglieder rasten los, um die Boote zu Wasser zu bringen. Jimmie setzte sich auf und starrte umher, und das erste, was er sah, war sein Freund, der Wobbly, der in einer Blutlache lag mit einer großen klaffenden Wunde am Kopf.
Plötzlich begann jemand zu singen: „O sagt, könnt ihr sehn, bei des Morgenrots Licht..." Jimmie hatte dieses Lied nie gemocht, weil die Säbelrassler und Hurrapatrioten es als Vorwand benutzten, um die Radikalen zu tyrannisieren und zu demütigen, die nicht schnell genug Haltung annahmen. Doch jetzt war es einfach wunderbar, zu sehen, wie das Lied wirkte; alle fielen ein, und die jungen Rekruten und Arbeiter und Krankenschwestern und Krankenwagenfahrerinnen, sosehr sie sich auch fürchten mochten, dachten wieder daran, dass sie Teil einer Armee auf dem Weg in den Krieg waren. Einige halfen der Besatzung, die Boote zu Wasser zu lassen; andere verbanden Wunden und trugen die Verletzten über die sich rasch schräg stellenden Decks.
Das große Schiff ging unter. Der Gedanke war entsetzlich
dieser Koloss, der zwei Wochen lang die Heimat mehrerer tausend Menschen gewesen war, dieses schwimmende Hotel mit seinen Schlafkojen, seinen Speiseräumen, seinen Küchen, in denen der Lunch schon auf das Gegessenwerden wartete, seinen starken Motoren und seiner Ladung von allem, was eine Armee zum Leben und Wohlbefinden braucht - das alles sollte auf den Grund des Meeres sinken! Jimmie Higgins hatte vom Torpedieren vieler Ozeandampfer gelesen, doch bei all dem Lesen hatte er weniger darüber erfahren als hier in den wenigen Minuten, während er sich halb benommen an ein Stag klammerte und zusah, wie die Rettungsboote über die Seiten hinaus geschwenkt wurden und verschwanden.

5

„Die Frauen zuerst!" tönte der Ruf; aber die Frauen wollten nicht gehen, bevor nicht die Verwundeten von Deck waren, und das verursachte eine Verzögerung. Jimmie half seinen Freund, den Wobbly, holen und reichte ihn weiter, so dass er mit einem Seil heruntergelassen werden konnte. Um diese Zeit hatte das Deck schon eine solche Neigung, dass es schwer war, darauf zu gehen; der Bug sackte ab, und das Heck hob sich immer höher in die Luft. Wie groß so ein Ozeandampfer war, sah man jetzt erst, als er sich wie ein gewaltiger Berg erhob und bereit machte, in die Wellen zu tauchen! „Springt runter!" schrien Stimmen. „Die anderen Schiffe lesen euch auf. Springt und schwimmt!"
Jimmie stürzte an die Reling. Er sah unten ein Rettungsboot, das sich abzustoßen versuchte und von den hohen Wellen gegen das Schiff geschleudert wurde. Er hörte einen entsetzlichen Schrei und sah einen Mann zwischen das Boot und die Schiffsseite rutschen. Rechts und links von ihm sprangen Menschen - so viele, dass er keine leere Stelle im Wasser finden konnte. Doch schließlich sah er eine, kletterte über die Reling und wagte den Sprung. Er schlug ins eiskalte Wasser und sank, und eine Welle wälzte sich über ihn. Dank seiner Schwimmweste kam er rasch wieder hoch, schnappte nach Luft, wurde von einer neuen Sturzwelle fast erstickt und dann von dem Ruder im den Händen eines um sein Leben ringenden Matrosen auf den Kopf geschlagen. Es gelang ihm, auszuweichen und ordentlich auszugreifen, um vom Schiff wegzukommen. Er wusste, wie man das macht, dank den vielen „Schwimmlöchern" - einschließlich des einen, das er mit dem Kandidaten aufgesucht hatte. Aber nie zuvor war er in solch fürchterlicher Kälte geschwommen; sie war schlimmer, als er sie sich bei seinem Gespräch mit dem Genossen Meissner vorgestellt hatte! Ihre eisige Hand schien ihn zu erdrücken, das Leben aus ihm herauszupressen; er kämpfte verzweifelt, so wie man gegen das Ersticken ankämpft. Die Wogen schleuderten ihn hin und her, und dann plötzlich wurde er gepackt wie von den Niagarafällen und mitgerissen und nach unten gezogen - tiefer und tiefer. Er dachte, das wäre das Ende, und als er dann doch wieder an die Oberfläche kam, hatte er fast keine Kraft mehr zum Atmen. Der große Schiffsrumpf war nicht mehr zu sehen, und Jimmie zappelte in einem Strudel, zusammen mit gekenterten Booten und Rudern und Liegestühlen und den verschiedensten Wrackteilen und einer Menge Menschen, die sich an irgendwelche Trümmer klammerten oder mit aller Kraft schwammen, um sie zu erreichen. Jimmie war gerade so weit, dass er sich herumwerfen und mit dem Gesicht untertauchen wollte, als plötzlich über ihm auf einem Wellenkamm ein Boot aufragte, von Matrosen heftig gerudert. Einer im Boot warf ihm ein Tau zu, das er zu fangen suchte, aber verfehlte; das Boot schoss auf ihn zu, und ein Arm langte heraus und packte ihn beim Kragen. Es war ein starker und tröstlicher Arm, und Jimmie überließ sich ihm und wusste dann lange Zeit gar nichts mehr

6

Als Jimmie die Augen wieder aufschlug, befand er sich in einer recht ungewöhnlichen Lage. Zuerst wurde er nicht klug daraus; er spürte bloß unaufhörliche Schläge und Stöße, als ob ihn jemand in einem Riesensalzstreuer hin und her schüttelte. Da die Natur sich gegen solche Behandlung verzweifelt wehrte, erkämpfte sich Jimmie den Weg
zurück ins Bewusstsein und bekam etwas in seiner Nachbarschaft zu fassen, was sich alsbald als ein Messinggeländer herausstellte; er mühte sich, die Schläge seiner Peiniger abzuwehren, welch letztere sich als besagtes Geländer herausstellten plus einer Wand plus zweier anderer Männer, die links und rechts von ihm lagen, wobei jeder der drei mit Tauen an dem Messinggeländer festgebunden war. Die Wand und das Geländer und Jimmie und die anderen Männer benahmen sich auf unglaubliche Weise - sie schwebten nach unten, als ob sie in einen bodenlosen Abgrund tauchen wollten, dann schwebten sie wieder nach oben, als ob sie sich ganz und gar von der irdischen Sphäre lösen wollten; wobei der gesamte enorme Schwung vom untersten bis zum obersten Punkt, mathematisch errechnet, jedesmal eine Zeit von fünfeinhalb Sekunden in Anspruch nahm. Es dauerte nicht lange, und Jimmie entdeckte, dass es eine ganze Reihe Männer waren, die angebunden dieser bestürzenden Form von Folterung ausgesetzt wurden. Sie erinnerten an eine Reihe Kadaver in einem Schlächterladen -nur, wer konnte sich schon einen Schlächterladen vorstellen, in dem der Fußboden erst um fünfundvierzig Grad in die eine Richtung und dann, in einer Zeit von genau fünfeinhalb Sekunden, um fünfundvierzig Grad in die andere Richtung kippte?
Und sie brachten immer noch mehr Kadaver und hängten sie in diesen verrückt gewordenen Schlächterladen! Zwei Matrosen in Uniform kamen herein getaumelt, einen Mann zwischen sich tragend, klammerten sich ans Geländer, an Jimmie, an die anderen Männer, an alles, was sie greifen konnten. Mit aller Macht schossen sie vor, solange die Schaukel im Gleichgewicht war, bis zu einem neuen Platz am Geländer, wo sie den neuen Mann mit einem Stück Tau um die Mitte anbanden und ihn den Schlägen und Misshandlungen überließen. Die eine Seite des Raums war schon dicht mit Kadavern bepackt, und nun war die andere Seite dran, und noch immer brachten sie neue. Es war dies offenbar ein Speiseraum, da ein Tisch mit zwei Reihen von Stühlen die ganze Mitte einnahm; sie banden Menschen auf diesen Stühlen fest, sie brachten andere und banden sie unten an den Stühlen fest, überall, wo irgendwie Platz war! Einige meinten, sie könnten sich allein festhalten; doch
wenn die Matrosen gegangen waren, entdeckten sie, dass es mehr Geschicklichkeit erforderte, sich festzuhalten, als sie gedacht hatten, kamen über den Boden gesaust und landeten mit voller Wucht oben auf einem Mitmenschen. Es war nicht das erste Mal in Jimmies Leben, dass er sich in einer unangenehmen Situation allein wieder hochrappeln musste; sehr bald hatte er wieder einen klaren Kopf. Er bibberte wie im Schüttelfrost und brachte es fertig, aus seiner nassen Jacke herauszukommen. Da vor ihm auf den Stühlen ein paar Damen festgeschnallt waren, wollte er nicht weitergehen; aber bald kamen Matrosen mit Stapeln von Wolldecken und ließen ihn das schwierige Kunststück vollbringen, sich aus seiner triefenden eisigen Uniform herauszuschälen und sich dann so in eine Wolldecke einzuwickeln, dass das Seil um seine Mitte ihn nicht in zwei Hälften zersägte. Danach kam ein Steward mit einem Topf heißem Kaffee; während er mit bewundernswerter Geschicklichkeit den Topf jeder Winkellage das Schiffes anpasste, goss er daraus Kaffee in Tassen, die kleine Tüllen zum Trinken hatten, und kriegte auf diese Weise etwas davon Jimmies Kehle hinunter.
Der kleine Maschinenarbeiter fühlte sich danach besser und konnte dem Mann zu seiner Rechten seine Aufmerksamkeit widmen, der sich die Nase so oft aufgeschlagen hatte, dass sie in Strömen blutete, und der gegen so viele Kanten gestoßen worden war, dass ihm das Blut in die Augen gelaufen war und ihn blind gemacht hatte. Der Mann an seiner anderen Seite konnte sich offenbar gar keine Mühe geben, dass sein Kopf nicht immerfort aufschlug und seine Füße nicht immerfort in Jimmies Magengrube geschleudert wurden; nachdem Jimmie mehrmals protestiert hatte, kam ein Offizier, legte sein Ohr auf die Brust des Mannes und erklärte ihn für tot. Man brachte noch ein Seil und zurrte ihn fester, so dass er sich benehmen musste.
Mehrere Stunden hing Jimmie an diesem Geländer. Der Zerstörer würde bald im Hafen sein, erzählten sie ihm immer wieder; inzwischen brachten sie ihm heiße Suppe, um ihn bei Kräften zu halten. Manche wurden ohnmächtig, aber man konnte nichts weiter für sie tun. Die ersten Bootsladungen mit Geretteten hatten die Kojen der Offiziere wie der Mannschaften gefüllt; die übrigen mussten am Geländer
bleiben, so gut es ging. Sie konnten noch dankbar sein, dass das Wetter anständig war, sagte einer der Matrosen; das Schiff schlingerte zwar auch nicht rascher bei schlechtem Wetter, aber es schlingerte in derselben Zeit viel höher -eine Unterscheidung, die Jimmie als spitzfindig empfand. Die Arme des bedauernswerten Kerls waren vor Erschöpfung taub, er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass auf der Welt noch einmal irgend etwas zum Stillstand käme, als gemeldet wurde, der Hafen sei in Sicht und alle Not habe bald ein Ende. Und tatsächlich ließ das Schlingern allmählich nach. Das kleine Schiff erbebte noch immer von vorn bis achtern durch das Arbeiten seiner starken Motoren, doch das machte Jimmie nichts aus - an Maschinen war er gewöhnt; er band sich von dem Geländer los und legte sich auf den Boden, gleich da, wo er war, und schlief ein. Er öffnete auch nicht die Augen, als sie mit einer Trage kamen, ihn zu einem Pier trugen, ihn in einen Lastwagen schoben und schnellstens in ein Krankenhaus brachten.

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