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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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24. Kapitel: Jimmie Higgins sieht die andere Seite

1

Doch diese Triumph- und Ruhmesgedanken waren einem späteren Abschnitt von Jimmie Higgins' Leben vorbehalten. Im Augenblick war er schwach, sein Kopf schmerzte heftig, und sein linker Arm brannte wie Feuer. Und obendrein geschah etwas so Merkwürdiges, dass es die ganze Schlacht aus seinen Gedanken verdrängte. Er ging mit seinen französischen Gefährten einen Pfad entlang, als einer von ihnen etwas abseits vom Weg einen Mann in französischer Uniform am Boden liegen sah. Er war kein Soldat, sondern ein Sanitäter oder Krankenträger, wie man an der weißen Armbinde mit dem roten Kreuz erkennen konnte. Er hatte einen Schulterdurchschuß, und irgendjemand hatte seine Wunde verbunden und ihn liegenlassen; die französischen Soldaten halfen ihm jetzt auf die Beine und nahmen ihn mit. Jimmie sah zu, und als er das Gesicht des Mannes erblickte, verspürte er die Gewissheit, dass er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Er hatte es schon einmal gesehen oder jedenfalls eins, das diesem zum Verwechseln ähnlich sah - und zwar in einer stark gefühlsbetonten Situation. Die alten Gefühle rührten sich in den Tiefen seines Unterbewusstseins und brachen plötzlich zur Oberfläche durch, eine Explosion von Erregung. Das konnte ja nicht sein! Der Gedanke war absurd! Doch - es musste so sein! Es war so! Der verwundete französische Krankenträger war Lacey Granitch!
Der junge Erbe der Empire Machine Shops hätte vielleicht den kleinen sozialistischen Maschinenarbeiter nicht erkannt; aber das Erkennen stand so deutlich auf Jimmies Gesicht geschrieben, dass Lacey sein eigenes Gedächtnis durchsuchte. Während die Gruppe weiterging, warf er hin und wieder einen beunruhigenden Blick auf seinen Landsmann, und als sie dann an eine Straße kamen und sich hinsetzten, um auszuruhen und auf irgendein Fahrzeug zu warten, ließ er sich neben Jimmie nieder und begann: „Du bist doch der, der damals in der Nacht in dem Haus war, nicht?"
Jimmie nickte, und der junge Gebieter von Leesville sah ihn unbehaglich an, sah weg und sah ihn wieder an. „Ich möchte dich um etwas bitten", sagte er. „Und zwar?" „Verrat mich nicht." „Wie meinst du das?"
„Sag nicht, wer ich bin. Es ist nicht nötig, dass es einer fährt. Ich versuche davon loszukommen." „Verstehe", sagte Jimmie. „Ich sage nichts." „Versprichst du's mir?" „Klar."
Dann herrschte Schweigen. Und dann rief der andere plötzlich ohne einen für Jimmie erkennbaren Grund: „Du sagst es doch!"
„Aber nein!" protestierte Jimmie. „Warum glaubst du das?"
„Du hasst mich!" Jimmie zögerte, als ob er seine Seele erforschte. „Nein", sagte er, „ich hasse dich nicht - nicht mehr." „Himmel!" rief der andere. „Du brauchst es auch nicht - ich habe alles bezahlt, was ich schuldig war!" Jimmie musterte sein Gesicht. Ja, man konnte es sehen, das stimmte. Nicht nur, dass Lacey abgezehrt aussah und seine Züge verkrampft waren von den Schmerzen, die er litt; in seinem Gesicht waren Linien, die nicht bloß ein paar Gefechtstage dort eingezeichnet hatten, auch nicht ein paar Jahre Krieg. Er sah zwanzig Jahre älter aus als der unverschämte junge Plutokrat, den Jimmie erlebt hatte, wie er den Streikenden in den Empirewerken Beleidigungen entgegen schleuderte.
Seine Augen suchten ängstlich und bittend die Jimmies. „Ich musste weg", sagte er. „Ich konnte es nicht aushalten -alle starrten mich an, grinsten hinter meinem Rücken! Ich versuchte in die amerikanische Armee einzutreten, aber sie wollten mich nicht nehmen - für keine Art von Dienst. So ging ich nach Frankreich, wo sie dringend Leute brauchten - die nahmen mich als Krankenträger. Ich habe alles mitgemacht - seit über einem Jahr. Ich bin schon zweimal verwundet worden, aber ich soll anscheinend nicht sterben, egal, wohin ich gehe. Es sind die Kerle, die leben wollen, die sterben müssen - verdammt noch mal!"
Der Sprecher machte eine Pause, als erschienen vor seinem geistigen Auge die Männer, die er hatte sterben sehen, während sie leben wollten. Als er weitersprach, tat er es im Ton einer demütigen Bitte. „Ich habe versucht, für meine Fehler zu bezahlen. Jetzt will ich bloß noch meine Ruhe und dass nicht jeder über mich tuschelt. Das ist doch nicht zu viel verlangt!"
Jimmie antwortete: „Ich geb dir mein Wort - ich erzähl keiner Menschenseele was davon." „Danke", sagte Lacey, und dann, nach einer kurzen Pause: „Mein Name ist Peterson, Herbert Peterson."

2

Ein Lastwagen kam vorbei und nahm sie mit zum nächsten Verbandplatz: ein paar alte Zelte mit großen roten Kreuzen darauf und ein paar weitere, die gerade aufgestellt wurden, und Autos, die Pflegepersonal und Material brachten, und andere, die Verwundete brachten, Franzosen und Amerikaner. Jimmie war inzwischen so schwach, dass ihm alles egal war; er nahm in einer Reihe Verwundeter seinen Platz ein und wartete geduldig und gab sich Mühe, kein Gewese zu machen, denn schließlich war Krieg, und der Hunne musste geschlagen werden, und jeder tat sein Bestes. Er legte sich auf die Erde und schloss die Augen, und allmählich drang ein bekannter Geruch zu ihm. Zuerst glaubte er, es sei das Werk seiner Einbildung - weil er gerade Lacey Granitch getroffen hatte und an die Nacht erinnert worden war, als er und Lizzie im Zimmer des einsamen Farmhauses gehockt und auf die Geräusche gelauscht und den Geruch eingeatmet hatten, die durch die Tür drangen. Es dauerte auch nicht lange, und Jimmie hörte die gleichen Laute aus dem Zelt - Stöhnen und Schreien, Gestammel wie von Irrsinnigen. Wie merkwürdig, dass er beide Male, da er diesen Geruch in die Nase bekam und diese Schreie hörte, mit dem jungen Herrn der Empire Shops zusammen war!
Dann war Jimmie an der Reihe. Sie führten ihn ins Zelt und hielten sich nicht lange mit ihm auf - vergewisserten sich nur, dass keine Arterie verletzt war und er nicht verbluten
würde, und hängten ihm dann eine Karte für das Brigadelazarett um. Sie luden ihn mit etwa zwanzig anderen „Sitzpatienten", darunter auch Lacey Granitch, in einen Lastwagen und schickten ihn auf eine lange Fahrt, die ihm alles andere als Spaß machte. Im Lazarett, das aus einer großen Gruppe von Zelten bestand und jetzt vor Geschäftigkeit wimmelte, wartete Jimmie wieder, bis er an der Reihe war - so viel Wunden auf einmal und so wenig Leute, um sie zu versorgen!
Schließlich wurde er zum Operationsplatz geführt; das erste, was sein Blick erfasste, waren ein paar Sanitäter, die eine Wanne mit abgesägten Armen und Beinen und allen möglichen Teilen von Menschen hinaustrugen. Ein Chirurg stand da in einem blutbefleckten weißen Kittel und einer weißen Maske vorm Gesicht und mehrere Schwestern, ebenfalls mit weißen Masken. Keiner begrüßte ihn oder hielt sich mit Vorreden auf - sie legten ihn auf den Operationstisch und deckten alles bis auf seinen zerschossenen Arm mit einem Gummilaken ab, schnitten seine Verbände auf, und dann tat ihm eine Schwester etwas über das Gesicht und sagte „Tief einatmen, bitte."
Es war wieder dieser ekelhafte Geruch, aber diesmal übermächtig. Jimmie atmete, und alles begann zu schaukeln und zu verschwimmen, und sein Kopf begann zu dröhnen, schlimmer als zu der Stunde, da er das Maschinengewehr bedient hatte. Er konnte das nicht mehr aushalten, er schrie und kämpfte, um freizukommen, aber sie hatten ihm die Füße angebunden, und jemand hielt seinen anderen Arm fest, so dass seine krampfhaften Anstrengungen nutzlos waren.
Er begann zu fallen; kopfüber stürzte er in riesige, bodenlose Abgründe - tiefer und tiefer und tiefer. Er hörte eine merkwürdige Stimme sagen: „Ihre Kragen sind zu eng." Die Worte dröhnten ihm in den Ohren, sie nahmen eine ungeheure, überwältigende Bedeutsamkeit an, sie wurden ein ganzes Universum für sich - „Ihre Kragen sind zu eng!" Der ganze Rest der Schöpfung schwand, die Lampe des Seins verlosch; nur eine Stimme blieb, die unter wirbelnden Unendlichkeiten verkündete: „Ihre Kragen sind zu eng!"

3

Irgendwo in den weiten Räumen des Chaos war ein Schnarchen. Ewigkeiten später entrang sich der Leere eine geheimnisvolle vergessene Anstrengung, etwas aus einer würgenden Kehle zu befördern. Nach etlichen solchen unerklärlichen Lebensäußerungen flackerte die schwache Bewusstseinsflamme, die sich Jimmie Higgins nannte, auf, und er erkannte, dass er selbst es war, der verzweifelt versuchte, nicht zu ersticken. Außerdem erkannte er, dass er zu einem einzigen entsetzlichen Schmerz geworden war; irgend jemand musste einen Nagel durch seinen Arm getrieben und ihn damit am Boden festgemacht haben; außerdem hatten sie seinen Magen aufgeblasen, so dass er zu platzen drohte, und wenn er würgte, war es eine Qual. Er keuchte um Hilfe, aber keiner kümmerte sich um ihn; er war ganz allein im Kerker des Schmerzes, begraben und vergessen für immer.
Allmählich tauchte er aus den nebelhaften Regionen der Narkose wieder auf und erkannte, dass er auf einer Krankenbahre lag und getragen wurde. Er stöhnte nach Wasser, aber niemand wollte ihm welches geben. Er sagte, es sei etwas Schlimmes mit ihm los, er werde gleich innen platzen; aber sie erwiderten, das sei nur der Äther und er solle sich darüber nicht beunruhigen, er werde sich bald wieder besser fühlen. Sie legten ihn in einem Raum auf ein Feldbett, eins in einer langen Reihe, und gingen fort, so dass er ganz allein mit den Dämonen ringen musste. Es war Krieg, und ein Mann, der nur einen zerschossenen Arm hatte, konnte eigentlich von Glück sagen.
So lag Jimmie eine Nacht und einen Tag da und fand sich, so gut es ging, mit seiner schlimmen Lage ab. In diesem Zelt gab es zwei Schwestern, und Jimmie, der nichts weiter zu tun hatte, als sie zu beobachten, entwickelte eine bittere
Wut auf beide. Die eine war mager und knochig und blass;
verbissen ging sie ihren Pflichten nach, verstand keinen
Spaß, und Jimmie merkte nicht, dass sie vor Erschöpfung bald umfiel. Die andere war hübsch, hatte lockeres blondes
Haar und flirtete schamlos mit einem jungen Arzt. Vielleicht hätte Jimmie sich überlegen sollen, dass die Männer dieser Tage rasch weggerafft wurden und manche sich also darum kümmern mussten, die nächsten Generationen zu liefern; aber Jimmie war nicht in der Stimmung, sich mit der Philosophie des Flirts zu befassen - er dachte an die Ehrenwerte Beatrice Clendenning und wünschte sich zurück nach „Merry England". Außerdem besann er sich auf seine pazifistischen Grundsätze und wünschte, er hätte sich aus diesem verfluchten Krieg herausgehalten! Doch seine Schmerzen ließen etwas nach, und sie luden ihn in einen Krankenwagen und brachten ihn weiter nach hinten in ein großes Etappenlazarett. Hier war er bald imstande, sich aufzusetzen und sich nach draußen in die Sonne schieben zu lassen und die unvermuteten Genüsse der Rekonvaleszenz zu entdecken - den erstaunlichen fortwährenden Appetit, den erstaunlichen fortwährenden Nachschub an guten Dingen zum Essen und Trinken; die Wohltat, sich Bäume und Blumen anzusehen, auf das Singen der Vögel zu lauschen und anderen zu erzählen, wie man mit dem Motorrad losgefahren war, um die „Batterie Nomb Katt" zu suchen - was zum Teufel hieß das überhaupt? -, und wie man der ganzen Hunnenarmeen gegenübergestanden und sie ein paar Stunden lang aufgehalten und ganz allein die Schlacht von Chatty Terry gewonnen hatte!

4

Einer der ersten Männer, die Jimmie sah, war Lacey Granitch, und Lacey führte ihn in eine Ecke des Parks und fragte: „Hast du es auch keinem erzählt?" „Nein, Mr. Granitch", sagte Jimmie. „Mein Name ist Peterson", sagte Lacey. „Jawohl, Mr. Peterson", sagte Jimmie. Es war schon eine merkwürdige Bekanntschaft zwischen diesen beiden, hergeholt von den entgegengesetzten Polen des gesellschaftlichen Lebens und zusammengebracht in der Demokratie des Schmerzes. Jimmie hatte den jungen Gebieter von Leesville am Boden und hätte auf sein Gesicht trampeln können; doch so seltsam es scheinen mag, Jimmie nahm ihm gegenüber die Haltung scheuer Demut ein. Jimmie fühlte sich als Verräter, der ihn einer scheußlichen, grausamen Rache ausgeliefert hatte; außerdem konnte Jimmie trotz all seines revolutionären Eifers nicht vergessen, dass er zu einem der Herren der Welt sprach. Man konnte das Ansehen und die Macht, die mit den Millionen der Granitchs verbunden waren, aus ganzer Seele hassen, aber man konnte ihnen gegenüber nicht gleichgültig bleiben, man konnte sich in ihrer Gegenwart niemals natürlich geben.
Was Lacey betraf, so war er nicht mehr der stolze, freie, reiche junge Plutokrat; er hatte gelitten und gelernt, seine Mitmenschen ohne Rücksicht darauf, ob sie Geld hatten oder nicht, zu achten. Er hörte, wie dieser kleine sozialistische Maschinenarbeiter, den er in einer Schar Streikender einmal mit Flüchen belegt hatte, in den Rachen des Todes gefahren war und geholfen hatte, der Bestie die Schnauze zuzunageln. Darum wollte er mehr über ihn wissen, und die beiden saßen stundenlang da und unterhielten sich, wobei jeder eine neue Welt entdeckte.
Gerade jetzt waren ganz Europa und Amerika in heftigem Streit entbrannt über das Problem der Bolschewiki. Hatten sie die Demokratie an den Hunnen verraten, oder wiesen sie, wie sie selber behaupteten, der Menschheit den Weg zu einer neueren und umfassenderen Art von Demokratie? Lacey glaubte natürlich das erstere - das glaubte jeder in der amerikanischen Armee und übrigens auch jeder in Frank-reich, außer ein paar waschechten Roten. Als Lacey herausfand, dass Jimmie einer von diesen Roten war, fragte er ihn laus, und tagelang ging es heiß her bei ihnen. Wie konnten Männer das getan haben, was Lenin und Trotzki getan hatten, wenn sie nicht bezahlte deutsche Agenten waren? So musste Jimmie die Theorie des Internationalismus erklären; die Bolschewiki machten in Deutschland Propaganda, sie taten mehr, um die Macht des Kaisers zu brechen, als selbst die alliierten Armeen. Woher wollte Jimmie das wissen? Einzelheiten darüber wusste er natürlich nicht, aber er kannte den Kern des Internationalismus; er konnte erklären, was Lenin und Trotzki taten, weil er wusste, was er tun würde, wenn er an ihrer Stelle wäre!
Sie redeten und redeten, und der junge Gebieter von Leesville, der eines Tages der Erbe eines ungeheuren Vermögens sein würde und der dazu erzogen war, zu glauben, dass ihm das nach menschlichem und göttlichem Recht auch zustand, hörte einen kleinen Wicht von einem Maschinenarbeiter aus den Werken erklären, wie er diese Masse an Eigentum übernehmen würde - er und seine übrigen Genossen, vereint in einer einzigen großen Gewerkschaft - und wie sie es verwalten würden, nicht zu Laceys Nutzen, sondern zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Jimmie vergaß allen Respekt vor Persönlichkeiten, wenn er auf dieses Thema kam; dies war sein Traum, das Proletariat, das die Expropriateure expropriierte, und er sprach davon mit glänzenden Augen. Früher hätte der junge Gebieter von Leesville ihm mit frecher Gemütsruhe geantwortet, vielleicht mit Maschinengewehren gedroht; doch jetzt sagte er nur zögernd, das sei ein großes Programm und er fürchte, es würde nicht funktionieren.

5

Interessiert fragte er Jimmie nach seinem früheren Leben, um zu verstehen, wie es zu einem solchen Fanatismus hatte kommen können. Jimmie erzählte von Hunger und Vernachlässigung, von Überarbeitung und Erwerbslosigkeit, von Streiks und Gefängnissen und vielfachem Druck. Der andere hörte zu und nickte. „Ja, natürlich, das hätte jeden zum Äußersten getrieben." Und dann sagte er nachdenklich: „Ich überlege, wer von uns beiden es im Leben schlimmer getroffen hat." Jimmie fehlten die Voraussetzungen, diese Bemerkung zu begreifen - Lacey hatte doch wohl alles gehabt, oder? Worauf Lacey antwortete: „Ich hatte zu viel, und du hattest zu wenig, und welches ist davon das Schlimmere für einen Menschen?"
Um klarzumachen, was er meinte, erzählte er Jimmie ein bisschen aus seinem eigenen Leben. Er schilderte ihm einen großen Haushalt, einen Vater, der vom Geschäft übermäßig in Anspruch genommen war und die Führung seines Hauses Angestellten überließ. „Meine Mutter war eine Gans", sagte Lacey. „Es hört sich ja vielleicht nicht schön an, wenn einer das sagt, aber mir ist das eigentlich mein ganzes Leben lang bewusst gewesen. Vielleicht war mein alter Herr zu beschäftigt, um sich eine Frau mit Verstand zu suchen -vielleicht hat er auch geglaubt, es gibt keine. Wie dem auch sei, die Vorstellung, die meine Mutter so hatte, war, zu zeigen, dass sie mehr Geld ausgeben konnte, als jede andere Frau in der Stadt; das fand sie ,standesgemäß', und ihre Kinder gehörten mit zu dieser Show - wir mussten mehr anzuziehen haben und mehr Dienstboten tyrannisieren als die Kinder anderer Leute. Ich habe darüber gründlich nachgedacht - zum Nachdenken hatte ich in letzter Zeit ja reichlich Gelegenheit. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal das Kindermädchen nicht ins Gesicht geschlagen hätte, wenn sie mir ein Spielzeug wegnehmen wollte. Nie musste ich um etwas zweimal bitten - wenn man mir nicht sofort gab, was ich haben wollte, machte ich eine Szene und bekam es. Dann lernte ich rauchen und Wein trinken, und danach kamen die Frauen - die Frauen haben mir den Rest gegeben, wie du weißt."
Er machte eine Pause, und Jimmie nickte verständnisvoll; er erinnerte sich an die Geschichte von den acht Ballettmädchen, die der Wilde Bill in der Ortsgruppe vorgelesen hatte.
„Es ist schlimm, wenn ein junger Mann eine Menge Geld hat", sagte Lacey, „und die Frauen Jagd auf ihn machen. Man hat natürlich auch seine Gefühle - man kann gar nicht anders als einigen Frauen vertrauen, aber sie sind alle vollkommen kalt - zumindest die Sorte, die ein reicher junger Mann kennenlernt. Ich meine nicht nur Abenteurerinnen -ich meine die Mädchen der Gesellschaft, diejenigen, die fürs Heiraten in Frage kommen. Die verdammten alten Drachen von Müttern schieben natürlich von hinten kräftig nach - legen alles, was sie haben, in Kleidung an und wissen dabei nicht, wie sie die Rechnungen für die letzte Saison bezahlen sollen. Die Mädchen gehen darauf aus, dich einzufangen, sie sind besessen von ihrem Ziel, sie kümmern sich nicht um ihren Ruf, sie haben, verflucht noch mal, keine Hemmungen. Du führst sie aus im eigenen Auto, und dann wollen sie aussteigen und Blumen pflücken, und sie ziehen dich in den Wald, und auf einmal hältst du ihre Händchen, und dann umarmst und küsst du sie, und dann gehst du aufs Ganze. Doch dann musst du sie heiraten, und wenn sie merken, dass du das nicht willst, werden sie hysterisch und sagen, sie wollen sich eine Kugel in den Kopf schießen; aber sie schießen sich keineswegs eine Kugel in den Kopf, sondern sie küssen dich wieder ein bisschen, borgen sich deine Krawattennadel mit den Brillanten und vergessen, sie zurückzugeben." Der junge Gebieter von Leesville wurde still. Trübe Erinnerungen umfingen ihn, und Jimmie, der einen raschen Blick auf ihn warf, fand, dass er müde und alt aussah. „Ich habe nie mit jemand darüber gesprochen, was am Ende passiert ist", sagte er, „und ich habe das auch nicht vor, aber so viel kann ich sagen - das eine Mal, wo ich eine verheiratete Frau geliebt habe, war die einzige ehrliche Liebe meines Lebens, weil sie die einzige Frau war, die es nicht darauf abgesehen hatte, mich zu heiraten!"
Das war natürlich zu kompliziert für einen Mann wie Jimmie Higgins. Aber so viel bekam der kleine Sozialist mit -dass der Erbe des Granitchvermögens in Wahrheit ein recht unglücklicher Mensch gewesen war. Und das war eine ganz außergewöhnliche Entdeckung für Jimmie, der es als selbstverständlich betrachtet hatte, dass die Reichen die Glücklichen auf Erden sind. Er hatte sie gehasst, weil er glaubte, sieg seien ohne Sorgen, sie seien die Lotosesser, von denen der Dichter schreibt, dass sie
... im Lotoslande leben und im Moose ruhn, Göttern gleichend, unbekümmert um der Menschen Tun.
Denn bei ihrem Nektar ruhn sie, und der Donnerkeil
Schmettert tief ins Tal hinunter, und es blitzt der Sonnenpfeil
Um ihr goldnes Haus,
wo ew'ge Friedenslust ihr Teil;
Wo sie heimlich lächelnd blicken auf verheertes Land, Pest und Hunger, Erderschütterung, brüllende Wirbel,
glühnden Sand, Schlacht und brennende Stadt und untergehndes Schiff
und flehnde Hand, Doch sie lächeln, und sie finden süßen Klang im
Wehelied,
Das wie eine alte Klage trauervoll gen Himmel zieht, Kaum so trübe, wenn man durch die trüben Worte sieht,
Abgesungen von dem armen Volk, das endlos schafft, Pflügt und sät und still die Ernte in die Scheuern rafft, Wenig Öl und Trauben jährlich kelternd, in der Bütten Haft... (Anm.: Die hier zitierten Zeilen stammen aus dem Gedicht „Die Lotosesser" (1833) von Alfred Tennyson, deutsch von Adolf Strodtmann.)
Doch jetzt hatte Jimmie die soziale Kluft überschritten, er hatte das Problem von Armut und Reichtum von der anderen Seite gesehen. Nach dieser Entdeckung würde er in seinen Urteilen über seine Mitmenschen barmherziger sein; er würde verstehen, dass das System, in dem wir gefangen sind, wahres Glück unmöglich macht - für diejenigen, die zu viel haben, genauso wie für die, die zu wenig haben.

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