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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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4. Kapitel: Jimmie Higgins kommt zu Geld

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Es dauerte einige Zeit, bis Jimmie begriff, was das für neue Maschinen waren, die er aufstellen half. Niemand fühlte sich bemüßigt, es ihm zu erklären, denn er war nur ein Paar Hände und ein kräftiger Rücken; ein Gehirn erwartete man nicht bei ihm - und was eine Seele oder ein Gewissen betraf, so erwartete man die bei gar keinem. Russische Bevollmächtigte waren nach Leesville gekommen mit siebzehn Millionen von dem Geld, das die Pariser Bankiers vorgeschossen hatten, und so waren über Nacht ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht worden, und an ihrer Stelle erhob sich eine riesige Stahlkonstruktion, und auf dem Fleck, wo Jimmie vier Jahre lang dieselben Handbewegungen ausgeführt hatte, bereitete man den Bau neuer Maschinen vor für die Massenproduktion von Granatkörpern.
Als Jimmie mit Sicherheit wusste, was da vor sich ging, stand er vor einem ernsten moralischen Problem. Durfte er als ein internationaler Sozialist sich dazu hergeben, Granaten herzustellen, die seine deutschen Genossen töten sollten? Durfte er sich dazu hergeben, die Maschinen herzustellen, die die Granaten herstellen sollten? Durfte er des Schmiergeld vom alten Granitch annehmen, den Anteil des Arbeiters an der abscheulichen Kriegsbeute - eine Lohn-Steigerung von vier Cent die Stunde, mit der Aussicht auf weitere vier, wenn die Produktion begann? Jimmie hatte sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, als gerade eins seiner Kinder krank war und er sich sowieso schon den Kopf zerbrach, wie er wohl von seinem bisschen Lohn das Geld für den Arzt erübrigen könnte! Leicht fiel die Antwort dem Genossen Schneider, dem stämmigen, robusten Brauer, der in der Ortsgruppenversammlung aufstand und mit bitterer Verachtung von jenen Sozialisten sprach, die bei dem alten Höllenhund Granitch weiter in Lohn und Brot blieben. Schneider war für Streik in den Empire Machine Shops, und am liebsten noch am selben Abend! Doch da erhob sich die Genossin Mabel Smith, deren Bruder in dem Unternehmen Buchhalter war. Schneider habe gut reden, aber angenommen, es verlangte jemand, dass die Brauereiarbeiter streiken und sich weigern sollten, für Munitionsarbeiter Bier zu brauen? Das seien doch nur Spitzfindigkeiten, entgegnete Schneider, doch sie stritt das ab, erklärte, es sei nur ein Beispiel dafür, in welcher Klemme der Arbeiter stecke, der keinen Einfluss auf sein eigenes Schicksal habe und keine Stimme hinsichtlich der Verwendung seines Produkts. Es könne einer sagen, dass er mit Munitionsarbeit nichts zu tun haben wolle, und als Farmer auf die Felder gehen - und dann baue er dort Weizen an, der an die Armeen geliefert werde! Der Zusammenhalt der kapitalistischen Gesellschaft sei dergestalt, dass einer nirgends Arbeit finden könne, die nicht in irgendeiner Weise darauf abziele, seine Kollegen in anderen Ländern umzubringen.
Jimmie Higgins sprach zu Lizzie schon ernsthaft davon, nach Hubbardtown zu ziehen - verleitet durch Plakate in einer Arbeitsvermittlung, die in einem leerstehenden Laden in der Main Street eingerichtet worden war. Die Hubbard Engine Company versuchte dem alten Granitch die Arbeiter abzuwerben und bot für angelernte Arbeit zweiunddreißig Cent die Stunde! Jimmie erkundigte sich und erfuhr, dass die Firma ihren Betrieb für Gasmotoren erweitern wolle; zu welchem Zweck, wurde nicht gesagt, aber die Leute vermuteten, dass die Motoren in Schiffe eingebaut werden sollten, die man zum Versenken von Unterseebooten einsetzen wolle. So kam Jimmie zu der Ansicht, dass die Genossin Mabel Smith recht hatte; er konnte genauso gut bleiben, wo er war. Er würde so viel Geld verdienen, wie er kriegen konnte, und seinen neuen Wohlstand dazu benutzen, den Kriegsgewinnlern das Leben sauer zu machen. Das erste Mal im Leben war Jimmie frei von Geldsorgen. Er konnte nun überall gutbezahlte Arbeit bekommen, und es war ihm daher völlig egal, was der Boss sagen mochte. Er redete mit seinen Kumpels und erklärte ihnen, wie das mit dem Krieg war; gegenwärtig noch ein Krieg der Kapitalisten, doch vielleicht dazu bestimmt, sich in eine andere Art Krieg zu verwandeln, den die Kapitalisten nicht nach ihrem Geschmack finden würden.

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Es war wunderbar, ganz unglaublich, was sich in Leesville tat. Wie sehr Jimmie Higgins auch von Hass auf das System erfüllt war, er konnte nicht anders als begeistert sein von dem, was er sah. Tausende von Männern strömten in die einst so alltägliche kleine Stadt - Männer von mehr als einem Dutzend Völkerschaften und Glaubensbekenntnissen, alte Männer und junge, weiße und schwarze - sogar ein paar gelbe! Es war ein Boom wie der Goldrausch von San Francisco 1849; das Geld, das die Pariser Bankiers der russischen Regierung gezahlt hatten und das die russische Regierung dem alten Granitch gezahlt hatte, überschwemmte in goldener Flut die Stadt. Die Spekulanten erhöhten den Preis für Land, die Hausbesitzer erhöhten die Mieten, die Gasthäuser verdoppelten die Preise, und selbst dann noch mussten sie die Leute auf Billardtischen unterbringen! Sogar Tom Callahan von der „Imbissstube" musste zwei Gehilfen einstellen und anbauen und seine Küche in den Hinterhof verlegen.
Nachts durchstreiften die Horden der Fremden die Straßen, und Lipskys „Filmpalast" war gerammelt voll bis an die Türen, und der „Preiswerte Schuhladen" hatte jede Woche einen neuen Sonderverkauf wegen Konkurs, und die Pendeltüren der Kneipen kamen stundenlang nicht zur Ruhe. Wo so viel Männer beisammen waren, zogen sich natürlich auch Frauen hin - Schwärme von Frauen - von ebenso vielen Völkerschaften wie die Männer. Leesville besaß einige vierzig Religionsgemeinschaften und hatte sich bisher sehr angestrengt, den Eindruck der Wohlanständigkeit zu erwecken; doch jetzt fielen alle Schranken, die Polizei der Stadt wurde von dem neuen Bevölkerungszuwachs überrollt -oder war es die goldene Flut aus Paris, die auf dem Wege über Russland kam? Wie dem auch sei, man konnte auf der Main Street Sachen sehen, die einen in seinem Misstrauen gegen den Krieg nur bestärkten.
Noch nie hatte es eine solche Gelegenheit für sozialistische Propaganda gegeben! All diese Menschenhorden, zusammengeholt von allen Enden der Welt, losgerissen von Bindungen an Familie, an Religion, an alte Gewohnheiten aller Art, wahllos zusammengewürfelt, auf die unterschiedlichste Weise lebend, gefasst auf alles, was da kommen mochte! Früher hatten diese Männer geschluckt, was ihnen ihre Zeitungsredakteure und Prediger und Politiker boten; sie hatten alltägliche ehrbare Tätigkeiten ausgeübt und ein zahmes, unabenteuerliches Leben geführt. Doch jetzt stellten sie Munition her, und man konnte sagen, was man wollte: es ging ein bestimmtes psychologisches Verhalten mit der Herstellung von Munition einher. Ein Arbeitgeber mochte fromm tun und über Recht und Gesetz reden, solange er seine Männer Unkraut hacken oder Dachschindeln legen oder Wege planieren ließ; aber was konnte er seinen Leuten noch sagen, wenn er Granaten herstellte, die dazu dienen würden, Menschen in Stücke zu reißen? So traten denn der Sozialist und der Anarchist und der Syndikalist und der Betriebsgewerkschafter auf den Plan. Seht euch diese Herren an, seht euch diese Zivilisation an, die sie geschaffen haben! In den ältesten Kulturzentren der Welt sind zehn, zwanzig Millionen Lohnsklaven zusammengetrieben worden - und dann beschrieb der Sozialist oder Anarchist oder Syndikalist oder Betriebsgewerkschafter im Einzelnen die blutigen, bestialischen Prozesse, denen diese zehn, zwanzig Millionen unterworfen waren. Und jeden
Tag brachten die Zeitungen neue Einzelheiten, die sie zitieren konnten - Hunger und Pest, Feuer und Mord, Giftgas, Brandbomben, torpedierte Passagierschiffe. Seht euch diese frommen Heuchler an, die Herren, mit ihrer feinen Lebensart, ihrer Kultur, ihrer Religion! Das sind die Leute, denen ihr folgen sollt, für solche wie sie seid ihr an die Maschinen gekettet schon all die zermürbenden Jahre voller Plackerei!

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An jeder Straßenecke, in jedem Versammlungsraum, an jedem Ort, wo die Arbeiter zur Mittagszeit zusammenkamen, hörte man solche Diskussionen und fand Männer, die zuhörten - Männer, die vielleicht bisher noch nie zugehört hatten bei solchen Diskussionen. Sie nickten dann, und ihre Gesichter wurden hart - ja, die Leute oben an der Spitze mussten schon eine korrupte Sippschaft sein! Hier in Amerika - das ein Land der Freiheit und was sonst noch alles sein sollte -, hier waren sie ganz genauso, sie drängten sich um den Trog, um das Blut zu trinken, das in Europa vergossen wurde. Natürlich tarnten sie ihre Habgier als Sympathie für die Alliierten; aber glaubte denn wirklich einer, dass der alte Granitch die russische Regierung ins Herz geschlossen hatte? In Leesville glaubte das gewiss niemand; sie wussten, er machte seinen Rebbach, und ihre Herzen verhärteten sich in eiserner Entschlossenheit, ebenfalls ihren Rebbach zu machen.
Zuerst dachten sie, es würde ihnen glücken. Die Löhne stiegen fast nach Wunsch; noch nie hatte der ungelernte Arbeiter so viel Geld in der Tasche gehabt, ganz zu schweigen von dem Facharbeiter, der sich schon in der Plutokratenklasse befand. Aber rasch entdeckten die Männer den Wurm in dieser saftigen Kriegsfrucht; die Preise stiegen fast ebenso schnell wie die Löhne - an manchen Orten sogar noch schneller. Die Summen, die man dem Vermieter zahlen musste, überstiegen alle Begriffe; einem ledigen Arbeiter wurden zwei bis drei Dollar die Woche abgenommen für die zwölfstündige Benutzung einer Matratze nebst Bettdecke, wofür er in den alten Tagen fünfzig Cent gezahlt hatte. Das Essen war knapp und von schlechter Qualität; es dauerte nicht lange, und es wurden einem für ein Stück Pastete oder eine Tasse Kaffee sechs Cent abverlangt - und dann sieben Cent und schließlich zehn. Wenn man sich beschwerte, erzählte einem der Wirt eine lange Geschichte, wie viel er für Miete und für Arbeitskräfte und für die Waren zahlen müsse, und es ließ sich nicht abstreiten, dass er wahrscheinlich recht hatte. So ungefähr das einzige, was nicht teurer wurde, war eine Briefmarke, und der Sozialist wies darauf hin und erklärte, dass das Postamt Uncle Sam gehörte und nicht Abel Granitch!
Jede Preiserhöhung war für die Sozialisten Wasser auf die Mühle und verlieh ihrer Forderung „Hungert den Krieg aus und macht Amerika satt!" neuen Nachdruck. Der Sozialist sah, wie Millionen Tonnen von Gütern in Dampfschiffe verladen und nach Europa versandt wurden, wo sie dann im Krieg vernichtet wurden; er sah, wie die Arbeiter Europas zu Schuldsklaven einer Parasitenklasse in Amerika wurden; er sah, wie Amerika immer näher an den Höllenschlund des Kampfes herangezogen wurde. Nichts von alledem gefiel dem Sozialisten. Er verlangte lautstark nach einem Embargo - nicht nur für Munition, sondern auch für Lebensmittel und überhaupt alles, bis die Kriegsherren Europas Vernunft angenommen hätten. Er rief die Arbeitet zum Streik auf, um auf diese Weise die Politiker zu zwingen, das Embargo zu verhängen.
Natürlich ließ er sich das besonders angelegen sein, wenn er Deutscher oder Österreicher, Ungar oder Tscheche war. Obwohl die letzteren unterworfene Völkerschaften waren, brachten sie es doch in diesen frühen Tagen nicht fertig, über den Umstand hinwegzusehen, dass die Granaten, die die Empire Machine Shops produzierten, ihre Väter umbrachten. Auf ihrer Seite standen auch die Juden, die die russische Regierung so bitter hassten, dass nichts anderes zählte; außerdem die Iren, deren erster Gedanke im Leben es war, John Bull die Sünden von Jahrhunderten heimzuzahlen, und deren zweiter Gedanke es war, bei jedem Gerangel mitzumischen. Jimmie Higgins kannte sich da überhaupt nicht mehr aus; er hatte sich schon um Katholiken verschiedenster Nationen bemüht und als Dank nichts als harte Worte geerntet, doch nun plötzlich machten Tom Callahan aus der „Imbissstube" und Pat Grogan aus dem Grünkramladen an der Ecke die Entdeckung, dass er im Grunde vielleicht doch gar nicht so dumm war!

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Im Ergebnis dieser Gärung unter den Arbeitern hatte die Ortsgruppe ihre Mitgliederzahl verdoppelt und hielt an zwei Abenden in der Woche Ecke Main Street Straßenversammlungen ab. Die beabsichtigte Herausgabe des Wochenblattes dagegen ließ noch immer auf sich warten. Genosse Dr. Service hatte seine beiden Schwäger verloren, den einen in der Schlacht bei Mons und den anderen bei dem ersten furchtbaren Gasangriff auf Ypern, wo ganze Regimenter unvorbereitet überrascht wurden und unter entsetzlichen Qualen umkamen. Auch zwei Vettern seiner Frau hatten einen hohen Preis zahlen müssen - der eine war blind und der andere Gefangener in Ruhleben, das Schlimmste, was einem passieren konnte. So hielt Dr. Service eine letzte beleidigte Rede in der Ortsgruppe und nahm sich seine fünfhundert Dollar, um eine Rote-Kreuz-Einheit aufzuziehen!
Doch jetzt fragten sich die Deutschen und die Kriegsgegner in der Ortsgruppe, ob der Sozialismus in der Stadt der Empire Machine Shops vor die Hunde gehen sollte, nur weil sich ein einziger reicher Mann mit einer englischen Frau als Renegat erwiesen hatte? Eine solche Frage beantwortete sich von selbst! Das Spendensammeln wurde energischer denn je betrieben, und schon war über die Hälfte der verlorenen fünfhundert Dollar wieder eingebracht, als eines Abends John Meissner mit einer sehr erstaunlichen Geschichte ankam.
Er kehrte gewöhnlich auf dem Heimweg abends bei Sandkuh auf ein Glas Bier ein, und wenn jemand in der Kneipe auf den Krieg zu sprechen kam, nutzte er die Gelegenheit, um ein bisschen Propaganda zu machen. Diesmal hatte er eine regelrechte Rede gehalten, in der er erklärte, dass die Arbeiter dem Munitionsgeschäft bald einen Riegel vorschieben würden, und da war ein Kerl mit ihm ins Gespräch gekommen, der alles mögliche über ihn und die
Ortsgruppe hatte wissen wollen. Wie viel Mitglieder sie hätte? Wie viele genauso wie Meissner dächten? Wie sie ihre Sache denn durchsetzen wollten? Sehr bald hatte der Mann Meissner zu einem Tisch hinten in der Ecke gezogen und nach der geplanten Zeitung gefragt und welche politische Richtung sie vertreten solle; auch nach den Gewerkschaften in der Stadt und ihrer politischen Richtung und nach der Persönlichkeit ihrer Führer. Der Mann hatte gesagt, er sei Sozialist, aber Meissner glaubte ihm nicht. Meissner meinte, er müsse so was sein wie ein Gewerkschaftsorganisator. Es war die Rede gewesen von verschiedenen Gewerkschaften, die bestrebt waren, in die Domäne des alten Granitch einzubrechen, und selbstverständlich versuchte der IWW mit seinem Programm einer „einzigen großen Gewerkschaft" überall einzudringen. Meissner erzählte weiter, wie dieser geheimnisvolle Fremde ihm erklärt hatte, dass es möglich wäre, für die Unterstützung eines Streikvorhabens in den Empire Shops eine Menge Geld zu bekommen. Das neue Werk sei gerade so weit, dass mit der Produktion begonnen werden könne, und neue Menschenmassen strömten herein; dabei brauchten nur ein paar smarte Jungs mit eingeschleust zu werden, die drinnen für den Achtstundentag und einen Mindestlohn von sechzig Cent die Stunde agitierten. Wer dazu bereit sei, könne gutes Geld verdienen und soviel er wolle; wenn der Leesviller „Worker" ebenfalls eine solche Politik vertreten wolle, gebe es keinen Grund, warum er nicht schon nächste Woche mit einer großen Ausgabe herauskommen und die Stadt überschwemmen solle. Das einzig Wichtige sei nur, dass die Vereinbarungen geheim bleiben müssten. Meissner dürfe niemandem trauen, außer den waschechten „Roten", die bereit seien, etwas durchzusetzen, und nicht erst fragten, wo das Geld herkäme. Um zu beweisen, dass es ihm Ernst sei, habe der Fremde ein Bündel Banknoten aus der Tasche geholt, wahllos ein halbes Dutzend herausgezogen und Meissner in die Hand gedrückt. Es seien Zehndollarnoten gewesen - mehr Geld, als ein kleiner Boss von der Glasfabrik im ganzen Leben auf einen Schlag in der Hand gehabt habe! Meissner breitete die Scheine aus, und Jimmie starrte mit weit aufgerissenen Augen darauf. Der Krieg machte sich ja wirklich - Zehndollarnoten für die sozialistische Propaganda, die man in den Kneipenhinterzimmern einsammeln konnte. Wie hieß denn der Mann eigentlich? Und wo hatte er seine Bleibe? Meissner bot sich an, Jimmie mit ihm zusammenzubringen, und so schlangen die beiden ihr Abendbrot hinunter und machten sich schleunigst auf den Weg.

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Jerry Coleman hatte mehrere Kneipen genannt, wo er bekannt sei, und in einer davon fanden sie ihn, einen glattrasierten, redegewandten jungen Mann, den Jimmie für einen Kriminalbeamten oder Privatdetektiv gehalten hätte, mit denen+ er in den Tagen, als er „auf der Walze" gewesen war, seine Erfahrungen gemacht hatte. Der Mann war gut gekleidet und hatte gepflegte Fingernägel, was sich bekanntlich Arbeiter selten leisten können. Aber er tat nicht vornehm und bat sie, ihn beim Vornamen zu nennen. Er unterhielt sich eine Weile mit Jimmie - lange genug, um sich über seinen Mann Gewissheit zu verschaffen. Dann blätterte er weitere Banknoten hin und trug Jimmie auf, noch mehr Männer zusammenzuholen, denen man trauen konnte. Es sei nicht gut, wenn einer allein so viel Geld bei sich habe, denn das errege Verdacht; aber wenn sie sich an die Arbeit machen und dieses da für Handzettel verwenden würden, die man unter den Munitionsarbeitern verteilen könne, und für Straßenversammlungen und für die beabsichtigte radikale Zeitung - nun, dann wäre dort, wo dieses hergekommen sei, noch eine Menge mehr. Und wo sei dies hergekommen? fragte Jimmie, und Jerry Coleman machte ein schlaues Gesicht und zwinkerte mit den Augen. Nach einiger Überlegung kam er dann zu dem Schluss, dass es vielleicht gut sei, es ihnen zu sagen, vorausgesetzt, dass sie versprechen würden, nicht ohne seine Erlaubnis darüber zu anderen zu reden. Dieses Versprechen gaben sie, und Jerry erklärte ihnen, dass er ein Bundesorganisator der AFL sei, die beschlossen habe, diese Munitionswerke gewerkschaftlich zu organisieren und den Achtstundentag durchzusetzen. Aber es sei von größter Wichtigkeit, dass die Bosse nicht Wind von der Sache bekämen; sie dürfe weiter keinem verraten werden als denjenigen, die Coleman für vertrauenswürdig genug hielte. Jimmie und Meissner traue er, und sie sollten wissen, dass der große Gewerkschaftsverband hinter ihnen stände und ihnen, ungeachtet der Kosten, durchhelfen würde. Natürlich erwarte man, dass sie das Geld ehrlich verwendeten.
„Mein Gott!" rief Jimmie. „Wofür halten Sie uns denn? Für eine Bande von Gaunern?"
Nein, sagte der andere, ein so schlechter Menschenkenner sei er nun nicht. Und Jimmie bemerkte bissig, wer leicht zu Geld kommen wolle, der befasse sich nicht mit sozialistischer Agitation. Wenn es etwas gebe, worauf die Sozialisten stolz sein könnten, dann sei es dies, dass ihre Arbeiter und gewählten Funktionäre niemals Bestechungsgelder anrührten. Mr. Coleman - das heißt Jerry - würde eine Abrechnung für jeden Dollar bekommen, den sie ausgäben. Am selben Abend fand gerade eine Sitzung des Propagandakomitees der Ortsgruppe statt, dem ein halbes Dutzend der aktivsten Mitglieder angehörten. Jimmie und Meissner liefen eiligst hin, und ihr neu erlangter Reichtum brannte ihnen Löcher in die Taschen. Sie informierten das Komitee, dass sie für den Propagandafonds Geld gesammelt hätten, und holten vor den Augen ihrer erstaunten Genossen die Summe von einhundert Dollar hervor. Der Komiteevorsitzende hatte soeben vom Zentralbüro der Partei in Chicago das Muster eines neuen Flugblatts mit dem Titel „Erst macht Amerika satt" zur Ansicht erhalten; dieses Flugblatt war zu einem sehr niedrigen Preis, tausend Stück für ein oder zwei Dollar, zu haben; dank Jimmies Beihilfe konnte man telegrafisch zehntausend Flugblätter per Eilzustellung anfordern. Und dann lag da ein Angebot des Büros des Einzelstaats vor, Genossen Seaman, den Autor eines Antikriegsbuches, zwei Wochen lang jeden Abend in Leesville reden zu lassen. Aus Mangel an Mitteln hatte die Ortsgruppe beschlossen, dieses Angebot abzulehnen; aber jetzt, mit der neuen Beihilfe, fühlte sich das Propagandakomitee den fünfzig Dollar, um die es ging, gewachsen. Und dann war da noch der Vorschlag des Genossen Gerrity, des Organisators, der jeden Mittwoch- und Sonnabendabend Straßenversammlungen abhielt; wenn er einen Helfet haben könnte, zu fünfzehn die Woche, könnten diese Versammlungen jeden Abend stattfinden. Hier warf John Meissner ein, er sei sicher, dass für diesen Zweck finanzielle Unterstützung zu erhalten wäre, vorausgesetzt, man träfe die Entscheidung gleich. So entschied man sich denn.

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Die Sitzung wurde geschlossen, und danach hatten Meissner und Jimmie noch eine Besprechung mit dem Organisator Gerrity, dem Brauer Schneider und der Genossin Mary Allen, die alle drei dem Komitee angehörten, das mit den Angelegenheiten des „Worker" betraut war. Jimmie erklärte, dass sie einen Gewerkschaftsorganisator getroffen hätten - sie könnten zwar nichts Näheres über ihn mitteilen, aber das Komitee würde Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen -, der den Rest des erforderlichen Geldes zuschießen würde, vorausgesetzt, dass man bereit wäre, in der Zeitung sofort die Belegschaft der Empire Shops zum Streik aufzurufen. Konnte man dieses Versprechen geben? Die Genossin Mary Allen lachte nur und zeigte damit, dass sie jeden verachtete, der über diese Frage im Zweifel sein konnte! Genossin Mary war Quäkerin; sie liebte die gesamte Menschheit mit religiöser Inbrunst - und es ist erstaunlich, wie verbittert die Leute im Dienste der allumfassenden Menschenliebe werden können. Ihr scharfes, blasses Gesicht rötete sich, und ihre dünnen Lippen pressten sich zusammen, während sie antwortete, dass der „Worker" ganz bestimmt die Kriegsgewinnler angreifen würde, solange sie dem Leitungskomitee angehörte!
Schließlich kam man überein, dass die Genossin Mary am folgenden Morgen Jerry Coleman aufsuchen und sich überzeugen solle, dass er es wirklich ernst meinte; wäre das der Fall, so würde sie für den Abend das gesamte Komitee zusammentrommeln. Das Komitee war ermächtigt zu handeln, sobald das nötige Kapital beigebracht war; wenn also Coleman in Ordnung war, gab es keinen Grund, warum die erste Nummer der Zeitung nicht schon in der nächsten Woche erscheinen sollte. Der Genosse Jack Smith, ein Reporter des „Herald", der kapitalistischen Zeitung in Leesville, sollte kündigen und Redakteur des „Worker" werden, und er hatte seine Leitartikel schon fertig - hatte sie schon den ganzen vorigen Monat in der Ortsgruppe herumgezeigt! Jimmie und Meissner machten sich auf den Heimweg, glücklich in dem Gefühl, dass sie an diesem Abend mehr für den Sozialismus getan hatten als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Aber während sie gingen, klang plötzlich das Geläut von Glocken durch die Nacht; Feuer! Sie kannten die Signale, zählten die Schläge und stellten fest, dass es in der Nähe ihrer Wohnung sein musste! Eine Feuerspritze raste vorbei, die nach hinten Funken sprühte, und sie begannen zu laufen. Noch bevor sie ein paar Häuserblocks weit gekommen waren, sahen sie am Himmel einen grellen Lichtschein, und das Herz schlug ihnen bis zum Hals; der arme Meissner keuchte hervor, dass er versäumt habe, seine letzte Monatsrate für die Versicherung zu bezahlen! Doch während sie in einer ständig wachsenden Menschenmenge weiterrannten, erkannten sie, dass das Feuer zu nah war, als dass es bei ihnen zu Hause hätte sein können; außerdem war es ein so starker Feuerschein, wie er durch noch so viele brennende Baracken nicht hätte entstehen können. Und schon hörte man Rufe in der Menge: „Es sind die Empire Shops! Die alten Werkstätten!" Ein Wagen mit Hakenleitern raste mit heulender Sirene vorbei, dann der Feuerwehrhauptmann in seinem Auto mit wild bimmelnder Glocke; sie bogen um die Ecke und erblickten am anderen Ende der Straße das Gebäude, in dem Jimmie vier Jahre lang die Bolzenschneidemaschine bedient hatte. Die ganze eine Seite war eine hoch auflodernde, züngelnde, tosende Flammensäule!

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