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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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27. Kapitel:  Jimmie Higgins wählt die Demokratie

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Ein neuer Tag war angebrochen - obwohl Jimmie es nicht wusste in seinem Verlies. Er wusste nur, dass Sergeant Perkins wiedergekommen war, dastand, ihn ansah und mit einem Federkiel in den Zähnen herumstocherte. Dieser kleine Bolschewik hatte die Wasserkur länger ausgehalten als jeder andere, der Perkins untergekommen war, und er wunderte sich und grübelte, was für ein verdammter Idiot das war und was der damit wohl zu erreichen glaubte. Aber es war notwendig, ihn weiter zu bearbeiten, denn Perkins wusste, dass seine Karriere auf dem Spiel stand. Er hatte etwas herauskriegen sollen und hatte das nicht geschafft! Darum befahl er, Jimmie an den Daumen aufzuhängen, an den armen Daumen, die auf das Dreifache ihrer normalen Größe angeschwollen waren und sich fast schwarz gefärbt hatten. Aber nun mischte sich Jimmies gute Mutter Natur ein und machte dem Verfahren ein Ende; der Schmerz war so unerhört, dass Jimmie das Bewusstsein verlor, und als der Sergeant sah, dass er betrogen wurde, schnitt er sein Opfer los und ließ es auf den feuchten Steinen liegen. So bestand Jimmies Leben drei Tage lang abwechselnd aus Ohnmachten und Schmerzensqualen - die übliche Routine beim „dritten Grad" in hartnäckigeren Fällen, und immer rief Jimmie in seinen bewussten Augenblicken den Gott in seiner Seele an, und der Gott folgte seinem Ruf mit seinen Heerscharen, und die Posaunen des Sieges hallten in Jimmies Seele wider, und er „packte nicht aus". Am vierten Tag betraten die drei Folterknechte die Zelle, stellten ihn auf die Beine, schleppten ihn die Steintreppe hoch, wickelten ihn in eine Decke und setzten ihn in ein Auto.
„Jetzt hör mal zu", sagte Perkins, der neben ihm saß, „du kommst jetzt vors Kriegsgericht. Hast du verstanden?" Jimmie gab keine Antwort.
„Und ich rate dir zu deinem eigenen Besten - wenn du vielleicht Märchen erzählen willst über das, was wir mit dir gemacht haben, bring ich dich zurück in die Zelle und reiß dir alle Glieder einzeln aus. Hast du kapiert?" Noch immer antwortete Jimmie nicht - dieser störrische kleine Satan, dachte Perkins. Doch in Jimmies Seele flackerte eine schwache Hoffnung auf. Könnte er sich nicht an die höhere Instanz um Hilfe wenden und weiteren Foltern entgehen? Jimmie hatte an sein Vaterland geglaubt und an seines Vaterlands Bestimmung, die Demokratie zu verteidigen; er hatte die wunderschönen Reden von Präsident Wilson gelesen und konnte einfach nicht glauben, dass der Präsident die Folterung eines Menschen im Gefängnis gestatten würde. Doch leider war es ein weiter Weg vom Weißen Haus nach Archangelsk - und er war sogar noch weiter, wenn man ihn über die Verzweigungen des Armeeapparats maß, ein Weg, der durch das rote Aktenband der Bürokratie noch gründlicher verbarrikadiert war als irgendein Abschnitt der Hindenburg-Linie durch Stacheldraht. Jimmie wurde in einen Raum gebracht, wo sieben Offiziere mit sehr ernster und feierlicher Miene an einem großen Tisch saßen. Perkins stützte ihn unter den Achseln, so dass es aussah, als ob er auf eigenen Füßen ginge. Er wurde auf einen Stuhl gesetzt und warf einen Blick um sich - doch ohne viel Hoffnung in den Gesichtern vor sich zu finden. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts war Major Gaddis, der vor dem Krieg an einer großen Universität Professor der Ökonomie gewesen war, was besagt, dass er von einem Konsortium von Bankiers ausgewählt worden war als ein Mann, der an eine herrschende Klasse glaubte und den keine Macht der Welt dazu bringen konnte, an etwas anderes zu glauben. Er war ein Mann von strengem Ehrgefühl, ein sehr gepflegter und gebildeter Gentleman, sofern man zu seiner Gesellschaftsschicht gehörte; aber er war überzeugt, dass es die Pflicht der unteren Klassen sei, zu gehorchen, und dass die Existenz der zivilisierten Gesellschaft davon abhänge, ob man sie zum Gehorsam brachte.
Neben ihm saß Colonel Nye, ein so gegensätzlicher Typ, wie man ihn sich nur vorstellen konnte. Nye war Glücksritter in Mexiko und Mittelamerika gewesen und als Führer einer jener Söldnerbanden zu Wohlstand gelangt, die vor dem Krieg von den großen Unternehmen Amerikas organisiert wurden, um Streiks zu brechen. Er hatte eine Privatarmee von fünftausend Mann befehligt, Kavallerie, Infanterie und Artillerie, der Öffentlichkeit bekannt unter dem Namen „Smithers Detective Agency". Während eines großen Kohlenstreiks war er von der Regierung eines Bundesstaats praktisch als Chef der Miliz eingesetzt worden und hatte sich damit beschäftigt, Maschinengewehre auf Zeltkolonien mit Frauen und Kindern abfeuern zu lassen. Er war wegen Mordes vor ein Milizgericht gestellt und freigesprochen worden, womit es unmöglich geworden war, dass irgendein ziviles Geschworenengericht ihn anklagen und hängen lassen konnte. Jetzt war er automatisch aus der Miliz des Bundesstaats in die Armee übernommen worden, wo er einen sehr tüchtigen Offizier abgab, der den Ruf hatte, streng auf Disziplin zu halten.
First-Lieutenant Olson war Textilverkäufer gewesen, der einen Offizierslehrgang besucht hatte. Da er es zu etwas bringen wollte, sah er immer erst seine Vorgesetzten an, ehe er eine Meinung äußerte. Dasselbe galt für Captain Cushing, einen gutmütigen jungen Bankkassierer mit einer hübschen Frau, die sein Gehalt stets ein paar Monate früher ausgab, als er es bekam. Der fünfte Offizier, Lieutenant Gannet, führte meistens das Wort, weil er Jimmies unmittelbarer Vorgesetzter war und die Untersuchung des Falles geleitet hatte. Er hatte die Sache mit Major Prentice, dem Ankläger des Militärgerichts, durchgesprochen und ebenso mit Captain Ardner, dem jungen Militärrechtsanwalt, der lediglich der Form nach Jimmies Verteidigung übernahm; die drei waren sich einig, dass es sich um einen äußerst ernsten Fall handle. Propaganda für den Bolschewismus in dieser Archangelsk-Expedition musste unter allen Umständen im Keim erstickt werden. Die Anklage gegen Jimmie lautete auf Gehorsamsverweigerung und Anstiftung zur Meuterei, und darauf stand die Todesstrafe.

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Jimmie saß auf seinem Stuhl und war sich nur teilweise bewusst, was vorging, wegen der Schmerzen in seinen geschwollenen Daumen und seinen verrenkten Armen. Die in ihm aufgeflackerte Hoffnung war wieder erloschen, und er hatte das Interesse an dem Verfahren verloren - er brauchte seine ganze Energie, um die Schmerzen zu ertragen. Er wollte ihnen nicht sagen, woher er die Flugblätter hatte, und als sie ihm zusetzten, grunzte er nur vor Schmerz. Er wollte nicht mit Captain Ardner reden, der ihn vergeblich zu überzeugen versuchte, dass er in seinem - des Gefangenen - Interesse handle. Nur zweimal fuhr Jimmie auf; das erste Mal, als Major Gaddis seiner Entrüstung darüber Luft machte, dass ein Bürger der großen amerikanischen Demokratie sich mit diesem bolschewistischen Geschmeiß verbünden könne, das in ganz Russland eine Schreckensherrschaft führe, brandschatze, morde, foltere ...
„Wer spricht hier von Foltern?" schrie Jimmie, halb von seinem Stuhl aufspringend. „Habt ihr mich etwa nicht gefoltert - nicht regelrecht in Stücke gerissen?" — Das Gericht war schockiert. „Gefoltert?" fragte Captain Cushing.
„Gefoltert seit Tagen - seit einer Woche vielleicht, weiß ich's, da unten in diesem Verlies!"
Major Gaddis wandte sich an Sergeant Perkins, der hinter Jimmies Stuhl stand und kaum seine Hände von dem Gefangenen lassen konnte. „Was heißt das, Sergeant?" „Das ist absolut unwahr, Sir."
„Sehen Sie sich diese Daumen an!" rief Jimmie. „Daran haben sie mich aufgehängt!"
„Der Gefangene war gewalttätig", sagte Perkins. „Er hat den Soldaten Connor, einen der Wärter, fast umgebracht, darum mussten wir strenge Maßnahmen ergreifen." „Das ist eine Lüge!" schrie Jimmie. Aber sie brachten ihn zum Schweigen, und die würdige Militärmaschine mahlte weiter. Jeder musste einsehen, dass die Disziplin in die Brüche gehen würde, wenn das Wort eines Aufsehers nicht mehr gelten sollte als das eines Häftlings, das Wort eines loyalen und erprobten Untergebenen nicht mehr als das eines Verräters und Verschwörers, eines erklärten Sympathisanten mit dem Feind.
Binnen kurzem stellte dann auch der den Vorsitz führende Offizier die Frage, ob sich der Gefangene darüber im Klaren sei, dass ihm die Todesstrafe drohe. Als er keine Antwort bekam, informierte er den Gefangenen dahingehend, dass das Gericht wahrscheinlich diese äußerste Strafe verhängen würde, wenn er es sich nicht überlegen und seine Komplicen unter den Bolschewiki nennen würde, damit sich die Armee gegen die Propaganda dieser Mörder schützen könne. Hier fuhr Jimmie wieder auf - doch diesmal nicht so heftig, eher mit einer Spur grimmiger Ironie. „Sagten Sie Mörder? Sind Sie nicht gerade dabei, mich zu ermorden?" „Wir führen nur das Gesetz aus", sagte das Gericht. „Ihr macht, was ihr Gesetz nennt, und die machen, was sie Gesetz nennen. Ihr bringt Leute um, die nicht gehorchen, und sie tun dasselbe. Wo liegt da der Unterschied?" „Sie bringen alle gebildeten und gesetzestreuen Leute in Russland um", erklärte Major Gaddis streng. „Alle reichen Leute, meinen Sie", sagte Jimmie. „Sie zwingen die Reichen, ihren Gesetzen zu gehorchen; sie geben ihnen eine Chance, dieselbe wie allen anderen, und wenn sie dann nicht gehorchen, dann bringen sie sie um - aber nur so viele, wie sie umbringen müssen, damit sie gehorchen. Und macht ihr nicht dasselbe mit den Armen? Hab ich nicht gesehen, dass ihr das so gemacht habt, immer wenn ein Streik war? Fragen Sie doch Colonel Nye da! Hat er nicht gesagt: ,Zum Teufel mit den Haftbefehlen - Totenscheine können sie kriegen!'?"
Colonel Nye errötete; er wusste nicht, dass sein Ruhm ihm den ganzen Weg von Colorado bis zum Polarkreis gefolgt war. Das Gericht beeilte sich, ihn in Schutz zu nehmen. „Wir führen hier keine sozialistische Debatte durch. Es ist offenkundig, dass der Gefangene keine Reue zeigt und verstockt ist und dass es keinen Grund zur Milde gibt." Dementsprechend befand das Gericht Jimmie Higgins für schuldig im Sinne der Anklage und verurteilte ihn zu zwanzig Jahren Festung - was den Umständen nach sogar ein recht mildes Urteil war. In New York City fand genau zur gleichen Zeit ein Prozess gegen fünf russische Juden statt, alle noch die reinen Kinder und darunter ein Mädchen, wegen desselben Verbrechens, das Jimmie begangen hatte: Verteilung eines Aufrufs, dass die amerikanischen Truppen aufhören sollten, russische Sozialisten umzubringen; diese Kinder erhielten zwanzig Jahre, und eins von ihnen starb bald nach der Inhaftierung - als Folge von Folterungen durch Agenten des Secret Service, wie seine Gefährten schworen.

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Jimmie wurde ins Gefängnis zurückgebracht. Major Gaddis, der durchaus ein gerechter Mann war und Recht und Ordnung zu seiner Religion gemacht hatte, gab strengste Anweisung, der Gefangene dürfe nicht wieder an den Daumen aufgehängt werden. Natürlich sei es wünschenswert, herauszufinden, wer die bolschewistischen Flugblätter gedruckt habe, aber bei den Bemühungen, den Gefangenen zu einer Aussage zu veranlassen, sollten nur die Bestrafungen angewandt werden, die von den Armeeinstanzen ausdrücklich genehmigt seien.
So kehrte Jimmie zurück in sein unterirdisches Verlies und bekam acht Stunden am Tag um die Handgelenke eine Kette, deren anderes Ende oben durch den Eisenring gezogen war, so dass er mit den Füßen gerade noch den Boden berührte. Da hing Jimmie und erprobte sein Gewissen -das war der Test, den damals viele Männer in den Strafbaracken von Fort Leavenworth über sich ergehen lassen mussten. Jimmies Gewissen war tatsächlich längst nicht so stark, wie es hätte sein sollen. Jimmie hatte Anwandlungen von schamlosem Selbstmitleid, Anwandlungen von hoffnungslosem, quälendem Zweifel. Er wollte das seine Kerkermeister nicht merken lassen, doch sie lauschten hinter der Tür durch einen Schlitz, den der Zar zu diesem Zweck hatte ausklügeln lassen; er konnte geschlossen werden, solange der Gefangene unter der Folter schrie, und dann vom Kerkermeister wieder geöffnet werden, ohne dass der Gefangene es merkte.
Auf diese Weise hörte Perkins, wie Jimmie schluchzte und jammerte, mit sich selbst und mit anderen redete - mit einer gewissen „Erdbeere" und noch jemand, der „Wilder Bill" hieß, und wie er sie fragte, ob sie je so etwas durchgemacht hätten und ob es wirklich einen Sinn hätte, ob es wirklich der Revolution helfen würde? Perkins dachte, er hätte hier etwas Wichtiges herausbekommen, und meldete es Lieutenant Gannet, mit dem Ergebnis, dass in den gesamten amerikanischen Streitkräften eine Fahndung nach zwei Männern mit den Namen „Erdbeere" und „Wilder Bill" anlief. Doch diese Männer waren unauffindbar; wie es der Zufall so will, hatte der Wilde Bill Zuflucht gefunden an einem Ort, wo nicht einmal der Geheimdienst der Armee hinreicht, und Erdbeer-Curran stand zu dieser Zeit gerade in Kalifornien zusammen mit einer Schar anderer Wobblies vor Gericht und erhielt dort so ziemlich die gleiche An von Behandlung wie Jimmie in Archangelsk. Bei seinem Kampf mit Jimmie hatte Sergeant Perkins den großen Vorteil, dass Jimmies Seele in ihrer erbarmungswürdigen Schwäche offen vor ihm lag, während Perkins' Seele Jimmie verborgen blieb. Die Wahrheit war nämlich, dass Perkins an rasender Wut, gemischt mit einem tüchtigen Schuss Angst, litt. Was war das, verdammt noch mal, für eine Idee, die eine kleine Ratte von Arbeiter stärker sein ließ als alle Obrigkeit? Und wie sollte man verhindern, dass sich diese Idee ausbreitete und die behagliche, wohlgefügte Welt zerstörte, in der Perkins in Kürze seine Beförderung zum Offizier erwartete? Genau einen Tag nach dem Kriegsgerichtsverfahren, das als strengstes militärisches Geheimnis galt, fanden die Militärbehörden zu ihrer größten Verblüffung an mehreren auffälligen Stellen ein Plakat in englischer Sprache mit dem Wortlaut:
Amerikanische Soldaten, wißt ihr, dass ein Armeesergeant gefoltert wird und zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt worden ist, weil er versucht hat, euch zu sagen, wie die Bolschewiki Propaganda gegen den deutschen Kaiser machen?
Kennt ihr den wahren Grund, warum eure Armeen hier sind? Seid ihr bereit, dafür zu sterben, dass man das russische Volk zwingt, eure Vorstellung von Staatsgewalt zu übernehmen? Seid ihr bereit, eure Kameraden foltern zu lassen, damit euch die Tatsachen vorenthalten bleiben?
Und natürlich wollten die Landser, die dieses Plakat lasen, wissen, ob es die Wahrheit sagte. Und schnell sprach es sich herum, dass alles stimmte. Männer, die das Flugblatt noch hatten, das Jimmie verteilt hatte, fanden nun eifrige Leser dafür, und bald kannten alle den Inhalt und stritten sich über die Frage, ob man amerikanische Armeen dafür verwenden dürfte, eine soziale Revolution in einem fremden Land niederzuwerfen. Dieselben Fragen wurden in der Heimat in den Sälen des Kongresses gestellt. Senatoren stellten das Recht in Frage, Truppen in ein Land zu entsenden, gegen das nie der Krieg erklärt worden war, und andere Senatoren forderten, man solle sie sofort abziehen. Und diese Nachrichten erreichten die Männer ebenfalls und vergrößerten die Gefahr. Archangelsk war kein angenehmer Aufenthaltsort, besonders jetzt nicht, da schnell der Winter näher rückte; die Männer neigten zum Murren - und nun hatten sie eine Handhabe!

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Die Kräfte, die diese Armee befehligten, hatten unter einer schweren Behinderung zu leiden, wie sie wahrscheinlich noch niemals in der Geschichte eine Armee zu spüren bekommen hatte. Der Oberbefehlshaber der Armee nämlich, der ihre politische Linie bestimmte und ihren moralischen Ton anzugeben versuchte, trat alle Augenblicke vor den Kongreß und hielt Reden voll aufreizender und verantwortungsloser Äußerungen, die dazu angetan waren, den Soldaten gefährliche Gedanken in den Kopf zu setzen, die Disziplin zu zerstören und die Kampfmoral zu untergraben. Der Präsident schrieb einen Brief an einen Parteitag, in dem er erklärte, die Arbeiter Amerikas lebten „in wirtschaftlicher Sklaverei"; er verkündete wieder und wieder, jedes Volk habe das Recht, sein Schicksal und seine Regierungsform selbst zu bestimmen, ohne Einmischung von außen. Und das, während die Armee den Versuch machte, die Russen niederzuwerfen, die sich gegen die „wirtschaftliche Sklaverei" in ihrem eigenen Land erhoben hatten! Eine Armee, muss man verstehen, ist ein Apparat zum Kämpfen; ein Mann, der in sie eintritt und an ihrer Aufgabe teilhat, nimmt sehr schnell ihren Ton an, der ein Ton bodenloser Verachtung für alle Politiker ist, insbesondere für solche, die Reden halten und Briefe schreiben, die „Idealisten" und „Träumer" und „Theoretiker", die keinen Sinn dafür haben, dass Männer dazu da sind, Schlachten zu schlagen und zu gewinnen. Alle Offiziere der alten Armee, die von der Kadettenschule West Point kamen, waren aufgewachsen in der Tradition der Klassenherrschaft und bis in die Knochen durchdrungen von dem Gedanken, dass sie
eine besondere Zuchtrasse seien, dass der Gehorsam, den man ihnen schuldete, ein Gesetz Gottes sei; und von den neuen Offizieren kam die große Mehrheit aus den wohlhabenden Kreisen und hatte auch nichts übrig für Redenhalten und Briefeschreiben zum Thema Menschenrechte. Sie waren alles andere als begeistert von dem Gedanken, sich von einem „idealistischen" Oberbefehlshaber einen pazifistischen Kriegsminister vor die Nase setzen zu lassen. Sie zögerten nicht, ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen, und als dieser pazifistische Minister in Sachen Kriegsdienstverweigerer Anordnungen erließ, die auf Gefühlsduselei und Theorie beruhten," nahm der Armeeapparat sich die Freiheit, diese Anordnungen zu interpretieren und den Unsinn aus ihnen herauszuschneiden. Und je weiter man sich vom Büro des pazifistischen Ministers entfernte, um so gründlicher war zwangsläufig das Zurechtschneiden; auf diese Weise kam es zu der Erscheinung, die der arme Jimmie Higgins so unbegreiflich fand - dass eine politische Linie, die in Washington von aufrichtigen Humanisten und Liberalen festgelegt worden war, in Archangelsk durchgeführt wurde von einem ehemaligen Detektiv, der aus einer Schule der Korruption und Grausamkeit hervorgegangen war.
Jimmie Higgins konnte nicht verstehen, dass hier in Archangelsk Amerikaner ihre Befehle von britischen und französischen Offizieren entgegennahmen, die keinen Atemzug an Pazifismus und schöne Gefühle verschwendeten und keine verrückten Ideen über Kriege für die Demokratie im Kopf hatten. Sollte ihnen eine einzige obskure kleine Ratte von einem sozialistischen Maschinenarbeiter ihre Weltpläne verpatzen dürfen? Sich hier als Autorität aufzuspielen, sich zu erdreisten, die Äußerungen seines Präsidenten wörtlich zu nehmen, unter Mißachtung ihrer Autorität in Archangelsk! Sich mit verräterischen und kriminellen Schurken zu verbünden, die Seelen amerikanischer Soldaten vergiften und die Brandfackel der Meuterei unter ihnen entflammen zu wollen! So, wie Jimmie Higgins sich schon früher einmal in einer strategischen Position befunden hatte, als er die ganze Hunnenarmee aufgehalten und die Schlacht von Châ-teau-Thierry gewonnen hatte, so befand er sich jetzt in einer Position von gleicher strategischer Wichtigkeit - auf
der Verbindungslinie der alliierten Armeen, die Russland angriffen, und er drohte diese Linie zu unterbrechen und die Armeen zum Rückzug zu zwingen!

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Es wurde dringlicher denn je, diese bolschewistischen Sympathisanten zu entdecken und ihre Propaganda auszumerzen. Dass man Jimmie an den Handgelenken aufhängte, hatte die gewünschten Informationen nicht gebracht; daher kam er jetzt bei Wasser und Brot in Einzelhaft, was ein anderer Test für die Lauterkeit des Gewissens war. Für das Gewissen mag ja eine Diät von weißem Mehl und Wasser zuträglich sein, aber Jimmie stellte sehr bald fest, dass sie für den Darm und für den Kreislauf höchst abträglich ist - sie ist, ehrlich gesagt, viel schlimmer als eine Diät von Wasser allein. Jemand, der ein paar Tage lang von weißem Mehl und Wasser lebt, bekommt entweder totale Verstopfung oder aber Durchfall; sein Blut wird klumpig von Stärkegiftstoffen, seine Nerven degenerieren, er wird rasch ein Opfer der Tuberkulose oder der perniziösen Anämie oder irgendeiner anderen Krankheit, die ihn nie wieder gesund werden lässt.
Außerdem bekam Jimmie die Wasserkur nach der Methode von Fort Leavenworth. Es war nötig, dass alle Gefangenen gebadet wurden; was einige Wärter so auslegten, dass man einen Strahl eiskaltes Wasser auf sie richtete und sie zwang, sich darunterzustellen. Weil Jimmies Arme so stark verletzt waren, dass er sich nicht selbst abschrubben konnte, ergriff Connor eine grobe Bürste und Salz und schrubbte ihm ganze Hautfetzen herunter. Wenn Jimmie sich wegwand, folgten sie ihm mit dem Schlauch; wenn er schrie, spritzten sie ihm in Mund und Nase; wenn er hinstürzte, ließen sie zehn, fünfzehn Minuten lang das kalte Wasser über ihn lau-
Jimmie hatte in seinem Leben als Ausgestoßener der Gesellschaft ein gut Teil rauer Behandlung erfahren, aber noch nie so konzentriert auf eine derart kurze Zeitspanne. Sein Mut blieb ungebrochen, aber sein Körper gab nach, und dann begann auch sein Geist nachzugeben. Er wurde ein Opfer der Wahnvorstellungen; die Alpträume, die seinen Schlaf heimsuchten, belagerten auch seine wachen Stunden, und er dachte, er würde gefoltert zu Zeiten, da er nur einfach an seinen Ketten hing. Bis schließlich Perkins, der durch die Tür horchte, merkwürdige Schreie und Grunzer hörte, tierähnliche Laute, Bellen und Knurren. Er rief Connor und Grady, und dann standen die drei und lauschten.
„Mein Gott!" sagte Grady. „Der ist übergeschnappt." „Der ist plemplem", sagte Connor. „Der ist meschugge", sagte Perkins. Doch ihnen allen kam auch der Gedanke - vielleicht spielte er nur Theater! Was war für einen dieser Sendboten des Satans leichter, als vorzutäuschen, er sei vom Teufel besessen? So warteten sie noch eine Weile ab, bis Connor, als er Jimmie anschließen wollte, ihn dabei ertappte, wie er sich die Fingerspitzen abnagte. Das war nun wirklich ernst, und so ließen sie den Gefängnisarzt kommen, der Jimmie nur kurz zu untersuchen brauchte, um festzustellen, dass er ein delirierender Irrer sei. Jimmie hielt sich für eine Art Pelztier, und er war in einer Falle gefangen und versuchte seine Pfote abzunagen, um zu entkommen. Er schnappte mit den Zähnen nach jedem, der in seine Nähe kam; er musste bewusstlos geschlagen werden, bevor man ihm eine Zwangsjacke anlegen konnte.

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Und auf diese Weise entzog sich Jimmie Higgins schließlich doch noch seinen Peinigern. Jimmie weiß nicht mehr das mindeste von dem russischen Juden Kalenkin; selbst wenn er es wollte, könnte er das Geheimnis nicht mehr ausplaudern; also hat man es aufgegeben, sein Gewissen auf die Probe zu stellen, und behandelt ihn freundlich; man hat ihm einreden können, dass er nicht mehr in der Falle sitzt. Daher ist er ein braves Tier - er kriecht auf allen vieren herum und isst sein Essen von einem Blechteller, ohne seine abgenagten Finger zu benutzen. Noch immer hat er quälende Schmerzen in den Armgelenken, aber es macht ihm nicht mehr so viel aus, weil er als Tier nur die
Schmerzen des Augenblicks leidet; er weiß nicht, dass er morgen wieder leiden wird, und macht sich darüber keine Gedanken. Er gehört nicht länger zu denen, die „das Vorher sehen und das Nachher und dürsten nach dem, was nicht ist". Er ist ein „braves Hundchen", und wenn man ihm den Kopf tätschelt, reibt er sich an einem und winselt freundlich.
Der arme, wahnsinnige Jimmie Higgins wird seinem Vaterland nie wieder Ärger machen; aber Jimmies Freunde und Genossen, die davon wissen, was er erlebt hat, die kann die Gesellschaft sich nicht so leicht vom Halse schaffen. Bei den Arbeitskämpfen, die der großen Demokratie des Westens drohen, werden Männer und Frauen auftreten, die von wilder, lodernder Bitterkeit beseelt sind, und die große Demokratie des Westens wird sich über ihre Geistesverfassung sehr wundern und sich gar nicht erklären können, wie es dazu gekommen sein mag. Diese Rebellen wird man vor der großen (Anm.: Gemeint ist Abraham Lincoln. Der zitierte Satz stammt aus seiner Antrittsrede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten (4. 3. 1865).) Demokratie die Worte ihres größten Demokraten zitieren hören, die er in ernster Warnung während des Gemetzels und der Zerstörung des Bürgerkriegs sprach: „Doch wenn Gott will, dass dies andauert, bis all der Reichtum, der durch zweihundertundfünfzig Jahre unbelohnter Arbeit des Unfreien angehäuft wurde, verloren ist und bis jeder durch die Peitsche vergossene Blutstropfen mit einem durch das Schwert vergossenen Blutstropfen bezahlt ist, dann müssen wir heute sagen, was vor dreitausend Jahren gesagt wurde: ,Die Urteile des Herrn sind wahrhaft und gerecht allzumal.'"

 

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