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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Wie einer eine neue Sprache findet

Ein seltsamer Mensch lebte noch in Arbeitsfriede, der auch allmählich in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geriet. Ein etwa zwanzigjähriger Graveur, der mit seiner Mutter in den ärmlichsten Verhältnissen lebte. Sie hatten beide nur eine Stube zusammen, den übrigen Teil der Wohnung hatten sie an eine Familie weitervermietet, obwohl das eigentlich grundsätzlich in der Genossenschaft nicht gestattet war. Aber man hatte ein Auge zugedrückt, da die Notlage der beiden zu offenbar, seitdem der Junge nicht mehr arbeiten ging. Vorher hatte er die Wirtschaft noch so gerade mit über Wasser gehalten, die Frau bezog eine kleine Pension, da der Mann in der Arbeit tödlich verunglückt war. Aber jetzt wurde man wieder mehr auf sie aufmerksam, weil das Elend zu groß wurde, und die beiden auf dem besten Wege waren, buchstäblich zu verhungern. Das können wir nicht mehr mit ansehen, sagten die Leute, da muss Abhilfe geschaffen werden, warum arbeitet denn der Fritz nicht, so ein starker großer Mensch liegt der alten Frau noch auf der Tasche, wenn es die Frau nicht kann, müssen wir eben eingreifen, so sprachen sie untereinander. Fritz war in seinem Fach gut vorwärts gekommen, hielt sich schon in der Jugend sehr zurückgezogen und las ganze Nächte durch. Die Mutter war ganz unglücklich. Der Junge liest zuviel und obendrein verstand sie davon nichts, was Fritz las, alles so wissenschaftliche Bücher. Aber nur um so eifriger setzte sich Fritz dahinter. Die beiden verstanden sich sehr gut, Fritz war ein stiller Mensch, der nie Anlass zur Klage bot, und die Mutter wurde ordentlich stolz auf ihn. Das blieb auch noch so, als Fritz die Arbeit aufgab. Der hat was Großes vor, sagte die Alte geheimnisvoll, davon verstehen wir nichts. Aber er wird ein großer Mann werden, der Junge schreibt den ganzen Tag. Und dann fing es an, unaufhaltsam bergab zu gehen. Die Mutter wartete geduldig, und der Sohn schrieb und schrieb. Bald war kein Brot mehr im Hause, die Miete war schon für mehrere Monate aufgelaufen. Etwas entlastete die Vermietung, aber es ging bald nur noch schneller bergab. Sie hatten überall Schulden, und die Alte traute sich schon gar nicht mehr aus dem Haus. Da ging Fritz los und suchte Leute auf, von denen er annahm, dass sie ihm freundlich zuhören würden. Aber er war vielleicht   zu   schüchtern.   Der  hochaufgeschossene  blasse Mensch mit dem spärlichen blassen Haar und der Brille, die für das breite Gesicht zu klein schien, stotterte in seiner Verlegenheit und übersprudelte sich mit dem, was er wollte, so dass die Leute aus dem wirren Wortschwall nicht klug wurden und ihn wieder gehen ließen. Das gleiche war bei Leuten in der Stadt, die er aufsuchte. Er fing auch an Briefe zu schreiben, doch war es ihm nicht möglich, sich knapp und klar auszudrücken. Das Schwere lag vor allem darin, dass er auf der einen Seite die Leute bitten musste, ihn zu unterstützen, ihm weiterzuhelfen, dass er seine Sache fertig machen konnte, auf der andern Seite diese Sache selbst ihnen in kurzen Worten zu erklären. Das schien gar nicht zusammen zu passen, denn er fühlte selbst, dass ihm die Leute so ohne weiteres nicht glauben und sich einfach vor den Kopf gestoßen fühlen würden. Denn er sagte nicht weniger als das, ich habe eine neue Sprache erfunden, die ich ausarbeiten will, ein System, das mit wenigen Lauten, Zeichen und Bildern jeden in die Lage setzt, sich voll verständlich zu machen und besser wie bisher. Davon ging er in der Hauptsache aus. Er wollte den Nachweis führen, dass so, wie die Menschen heute noch sprachen, der wichtige Inhalt, von dem was sie sagen wollten, verschluckt wurde und verloren ging. Die Menschen konnten nicht aus sich heraus und sie redeten schwerfällig aneinander vorbei. Er hatte zum Beweise dessen den Menschen als ein Zentrum von Linien, die auseinanderstrebten und konzentrische Ringe wieder zusammengeführt wurden, aufgezeichnet, wobei Linien und Ringe die Triebe und Leidenschaften, das Gefühl bedeuteten, die in den Ringen zum jeweiligen Ausdruck der Lebenslage, des Berufs, der Ansichten und Gedanken, des Wohlgefühls und des Schmerzes kamen. Eine Mitteilung von irgend einem beliebigen einsetzbaren Bewegungspunkt zu einem anderen solchen Zentralsystem, das Bedürfnis, von sich Kunde zu geben, sich auszusprechen,  stieß  nach  diesen   Zeichnungen  auf ungeheure Schwierigkeiten. Alles geriet durcheinander, was vorher als Innenleben harmonisch fest gefügt schien, und wenn sich diese zwei fremden Linien wirklich trafen, so nur zufällig und durch Zerreißung der innerlichen Ordnung. Sie konnten sich als Ganzes nicht verstehen, und es war zwangsläufig, dass der eine vom andern ein falsches Bild bekommen musste. Die Mutter verstand das nicht, aber sie glaubte dem Sohn, der sich so mühte und hungerte. Die andern aber wurden ärgerlich und mit der Zeit grob, und sie schmissen schließlich Fritz einfach heraus. Wenn er schrieb, bekam er keine Antwort mehr. Er hatte ein fieberhaftes Bedürfnis inzwischen, sich den anderen mitzuteilen. Er hatte plötzlich keine Ruhe mehr, das Dach brannte schon überm Kopf. Das kam noch hinzu. — Auch diejenigen, die noch am längsten mit ihm gesprochen hatten, wenn sie auch darauf kein Geld geben mochten, ließen ihn jetzt fallen. Er ist nicht nur arbeitsscheu, er ist auch aufdringlich, sagten sie. Mit jedem Tag, mit dem Fritz sich in die Studien und Versuche stürzte, merkte er, welche ungeheuren neuen Gebiete sich vor ihm aufschlossen, die alle noch bearbeitet sein wollten. Er versank in einem Meer des Nichtwissens, von dem er ahnte, dass alles dies erst die feste Grundlage, den festen Eckstein bilden konnte, von dem aus er weiter bauen durfte. Das machte ihn noch verschlossener und bösartig, er begann von der Mutter zu fordern, was er selbst nicht mehr schaffen konnte. Aber die Mutter hielt still und hoffte und hoffte, wie auf ein Wunder. Sie begriff nicht, dass die Menschen alle auf einmal so bösartig geworden waren. Fritz hörte jetzt ganz auf mit den Leuten zu sprechen. Bisher war er in der Ausmalung der Wirkungen noch allgemein verständlich geblieben. Es war mehr oder weniger eine neue Beleuchtung, in die er das sozialistische Zeitalter rückte, die allen wohlgefiel. Wir brauchen keine langatmigen Reden mehr, wir verständigen uns durch Blick und Händedruck und gemeinsames Singen und die Sprache ist der Ausdruck von allen drei für die Übermittelung der tiefsten Geheimnisse des menschlichen Glücks, so dass es wie zu einer heiligen Handlung wird. Das war ja alles ganz schön, deswegen braucht er doch nicht seine Mutter verhungern zu lassen, und schließlich hat er doch Graveur gelernt. Das Spintisieren soll er nur den studierten Leuten überlassen. Die sind dazu da. Allmählich wurden die andern aber wirklich bösartig, obwohl Fritz sie schon lange nicht mehr um Unterstützung anging. Die Verwaltung mischte sich ein. Sie ließ die Mutter kommen und stellte sie einfach vor die Entscheidung, den Sohn wieder zur Arbeit zu zwingen, oder sie müssten sie rauswerfen. Und hielten donnernde Reden. Die alte Frau jammerte und weinte, sie täten doch niemandem was zu leide, und am allerwenigsten der Junge, und sie würden sich schon wieder durchhelfen, sie haben auch wieder Arbeit in Aussicht, und sie verstünden den Jungen nur nicht. Aber das machte die Leute vom Vorstand, die für sich noch in Anspruch nehmen konnten, lange Zeit genug den Stichelreden der übrigen Mitglieder Widerstand geleistet zu haben, nur noch unzugänglich und wütender. Die Mutter bat und flehte, man solle doch Geduld haben, aber es half alles nichts. Die Frau wankte nach Haus, und dann weinten sie beide, der Junge im schweren Fieber. Er war ernstlich krank, und es schien, dass er schwindsüchtig und der Auszehrung nahe war. Die Mutter aber beschwor ihn, sich nicht aufzuregen. Sie wird nochmals alles versuchen, auch konnte man sich doch beschweren, meinte sie, einfach raussetzen können sie uns nicht — und sie fasste neuen Mut. Aber als die andern merkten, dass ihre Drohung nicht verfing, erstatteten sie bei der nächsten zuständigen
Gemeinde Anzeige. Zustatten kam ihnen, dass Fritz nach dem Gesetz noch nicht mündig war. Und sie sagten sich, wenn die Mutter keine Gewalt mehr hat, dann werden wir sie ausüben. Sie stellten den Antrag, Fritz auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen und legten einen ganzen Aktenberg von Material mit bei, sowie eine Schilderung der Wirkung auf die häuslichen Verhältnisse. Sie hatten alle den befriedigenden Eindruck, ein gutes Werk getan zu haben. Hans Merkel hatte auch davon gehört. Er hatte ein paar Mal mit Fritz gesprochen, verstand ihn zwar nicht, war aber der Meinung, man soll ihn machen lassen, was er will, und außerdem dachte er, ob es nicht besser wäre, lieber ihm zu helfen, erst mal Klarheit in den Wust der Gedanken zu bringen. Man hätte ihn auf eine Schule schicken sollen. Hans ging hin und gab Fritz Bescheid, was ihm bevorstand. Und Fritz verschwand noch in der gleichen Nacht.
















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